Achtunddreißigstes Kapitel:

Worin der Leser Sachen lesen wird, die er schon lange voraussah

[209] Mit dem Pantoffel bewaffnet, ging die Prinzessin ungesehen durch alle Gemächer des Palastes. Die Sonne war bereits aufgegangen. Neadarne befürchtete daher, sie würde, um[209] Scholuchern aufzusuchen, dem sie von ihrem Vorhaben keinen Wink hatte geben können, viel Zeit nötig haben; inzwischen könnte der Genius erwachen und alle ihre Maßregeln zunichte machen. Zum Glück brauchte sie nicht weit gehen. Scholuchern, den seine Unglücksfälle unruhig machten, stand, statt sich dem Schlafe zu überlassen, auf der Terrasse. Sie entdeckte ihn. Laßt uns keine Zeit verlieren, Prinz, sagte sie, entreißt Euch Eurer Sklaverei, kommt in die Arme einer Fee, die Euch anbetet, und entschädigt Euch da für alle Eure Leiden.

Ah, Prinzessin, rief Scholuchern; sollte die Zwickelbart wohl wirklich noch an mich denken? – Zweifelt nicht daran, gab sie zur Antwort. Ihr Herz, das von der lebhaftesten Liebe gegen Euch glüht, leidet ebensoviel, daß sie von Euch getrennt ist, als nur immer Ihr, daß Ihr so fern von Eurer Geliebten seid. – Ist sie noch immer Maulwurf? fragte er. Wie sehr habe ich befürchtet, der barbarische Schonkilje möchte sie in seine Gewalt bekommen! – Da Ihr nun seinem Zorn entgangen seid, versetzte die Prinzessin, so genießt eines glücklicheren Schicksals und gebt ihr die liebreizende Gestalt wieder, die Euch soviel Glut eingehaucht hat. Doch habt Ihr noch den Pantoffel der Fee? – Wohl hab ich ihn; allein seit den zehn Jahren, daß ihn ich besitze, ist es mir nicht möglich gewesen, ihn auch nur ein einziges Mal zu betrachten. Unaufhörlich beschäftigt, Purzelbäume zu machen oder für die Lustbarkeiten des Genius zu arbeiten, habe ich teils nicht die Zeit gehabt, ihn zu küssen, teils habe ich es auch nicht wegen der Besorgnis gewagt, daß der Genius mir diesen Schatz rauben möchte, wenn er mich in dessen Besitz wüßte. – Kennt Ihr die Eigenschaft dieses Pantoffels? fragte Neadarne. – Nein, und worin besteht sie denn? – Euch unsichtbar zu machen. – Ah! daß ich das nicht eher gewußt habe! rief er. Was für Qualen hätte mir diese Kenntnis nicht erspart! – Vielleicht[210] hätte sie Euch auch zu nichts geholfen, versetzte die Prinzessin. Die Absicht der Götter war unstreitig, daß Ihr zehn Jahre lang unglücklich sein solltet: und Ihr würdet vor der von ihrer Milde bestimmten Zeit Euch nur vergeblich um Eure Freiheit bemüht haben. Doch laßt uns abbrechen. Fürchtet noch immer den Zorn des Genius. Wacht er auf, so seid Ihr verloren! Nehmt Euren Pantoffel und folgt mir. – Also hat nicht er meine Leiden geendet? fragte Scholuchern. – Nein, versetzte die Prinzessin; ich habe ihn vergeblich beschworen, mir Eure Begnadigung zuzugestehen. – Seid wenigstens Ihr geheilt? fragte er.

Still! erwiderte Neadarne. Laßt Euch an dem Ort, wohin ich Euch bringen werde, ja keine Unbesonnenheit entwischen und behauptet, wenn es nötig ist, daß ich den Genius nur eine Minute lang und noch dazu in Eurer Gegenwart gesehen habe, sonst macht Ihr mich unglücklich. Ihr sollt dereinst die Ursachen erfahren, die Euch zwingen müssen, über diesen Artikel zu schweigen oder meine Reden zu unterstützen. – Fürchtet nichts, Prinzessin, sagte er, ich schwöre Euch unverbrüchliche Treue.

Nunmehr zog er den Pantoffel aus der Tasche und folgte der Prinzessin. Sie passierten die Wache, und keiner merkte etwas davon. Ohne Hindernisse gelangten sie am Hafen an. Sie nahmen eine von Schonkiljens Barken und verließen die Insel. Neadarne konnte sich nicht erwehren, öfters und etwas traurig nach der Gegend des Palastes zurückzublicken, wo sie den Genius verlassen hatte. Man tadle sie deshalb nicht, da ihre Tugend sich schon hinlänglich gezeigt hatte, um sich diese kleine Befriedigung zu erlauben; und das war wohl das wenigste, was sie für ihn tun konnte, ihn mit einigem Mißmut verlassen. Nicht etwa, daß sie ihn geliebt hätte, sondern weil sie von alledem, was zwischen ihnen beiden vorgegangen war, ihm nicht die Schuld beimessen konnte und weil sie ihn nach Recht und[211] Billigkeit als ihren Befreier betrachten mußte. Alle diese Vorstellungen erloschen in ihrer Seele, als sie ans Land trat. Sie fand ihre Leute an dem Orte wieder, wo sie ihnen befohlen hatte, auf sie zu warten. Scholuchern mußte in ihre Sänfte steigen, und sie nahmen den Weg nach der Tremissenstadt. Neadarne beschäftigte sich unterwegs bloß mit der Freude, die ihr Tanzais Anblick verschaffen würde.

Sie war wegen des Zaubermittels der Zwickelbart nicht mehr beunruhigt. Die Versuche, die sie deswegen mit Schonkiljen angestellt hatte, ließen sie gar nicht mehr zweifeln, daß der Prinz dadurch könne hintergangen werden. Sie hatte sogar, ehe sie Schonkiljens Palast verließ, jene hilfreichen Worte drei-oder viermal ausgesprochen; soviel Zutrauen sie aber auch dazu hatte, so konnte sie dennoch die Tremissenstadt nicht ohne Schauder ansehen. Die Notwendigkeit, worin sie sich befand, Tanzain Unwahrheiten zu sagen, die Besorgnis, er möchte, trotz ihrer Erzählung, hinter die eigentliche Wahrheit kommen, oder Schonkilje möchte plaudern, die Scham, womit sie sich in ihrem Innern überhäuft fühlte, erregten in ihrem Herzen die peinlichsten Bewegungen und hielten der Freude, mit ihrem Gemahl wieder vereinigt zu werden, die Waage.

Nicht ohne Grund war ihr vor seinem Anblick bange. Tanzai war, soviel Geist die Zwickelbart auch besaß und so viele Trostgründe sie auch bei ihm gebraucht hatte, vor Gram fast gestorben. Wie habe ich darein willigen können, sagte er zur Fee, daß sie Schonkiljen aufsucht. Das fehlte noch meinem Elend, mir selbst meine Unehre zu bereiten und es wissen zu müssen. Was wird mir diese Treulose bei ihrer Rückkehr sagen? Ach, vielleicht vergißt sie in diesem Augenblick in den Armen des Genius meine Liebe und Verzweiflung! – Vergessen wird sie Euch nie, antwortete die Zwickelbart, davon bin ich überzeugt, und ich wollte wohl dafür gut sein, daß, wenn sie durch ein sonderbares[212] Verhängnis, das ich mir aber nicht vorstellen kann, Schonkiljen sollte nachgegeben haben, ihre Tugend demungeachtet nicht wird verletzt worden sein. – Oh, versetzte er, in dergleichen Augenblicken erinnert man sich freilich seiner Tugend sehr, und es hängt zu der Zeit ganz von einem Frauenzimmer ab, sie fest vor den Augen zu behalten.

In dem Fall, versetzte die Zwickelbart, könnt Ihr ja der Prinzessin keine Vorwürfe machen. Und wenn sie von ungefähr so von der Insel zurückkäme, wie sie nach derselben abgereist, häßlich und unbrauchbar, was für eine Miene würdet Ihr Neadarnen alsdann machen? – Ich weiß nicht, sagte Tanzai; Ihr wählt Eure Zeit sehr gut, mir dergleichen Argumente vorzulegen. Ihr räsoniert über die Leidenschaften mit einer Genauigkeit, die höchst ungeduldig macht, und wenn Ihr nur eine schöne und lange Rede halten könnt, kümmert Euch das übrige wenig.

Ich hasse es auch, Euch so ungerecht zu sehen, antwortete die Zwickelbart, und ich wollte, daß Ihr weniger launenhaft wäret. Noch einmal, rechnet ein wenig auf meine Macht und laßt Euch durch die Fürsorge der Barbacela für Euch beruhigen. – Wenn ich, sagte der Prinz, zu meiner Beruhigung mich auf Euren oder der Barbacela Schutz verlassen soll, so kann ich meine Besorgnisse wohl behalten; und wenn ich auf die Fürsorge der letzteren aus einem gewissen Fall schließen darf, worin ich mich befand, so darf ich nicht hoffen, daß sie meiner Prinzessin nützlich sein wird. Warum habt Ihr selbst, wenn Eure Macht so groß ist, ihre Abreise nicht verhindert? – Ihr wißt, sagte der Maulwurf, daß man sich den hohen Befehlen des Schicksals nicht entgegenstellen darf. – Sehr wohl, erwiderte er, und wenn nun die hohen Befehle des Schicksals darin bestehen, daß Neadarne nicht so, wie ich wünsche, zurückkommt, als durch Schonkiljens Vermittlung? Weil man sich dem nicht widersetzen kann, welcher Wendung wollt Ihr Euch denn bedienen, um[213] die Vollstreckung dieser Befehle zu verhindern? Ihr, die Ihr so sehr Vernunftschlüsse liebt, hier ist einer, beantwortet ihn. – Das soll mir nicht schwer werden, erwiderte sie. Als Töchter des Verhängnisses wird uns das leicht, was den Sterblichen unmöglich sein würde. Kann es auch nicht uns zugunsten seine Aussprüche widerrufen, so mildert es sie wenigstens und gestattet uns, indem es uns unter ihm die Aufsicht über die Welt anvertraut, die Gegenstände zu begünstigen, gegen die wir unsere Huld erstrecken wollen. Ich glaube, Ihr zweifelt an meiner Freundschaft nicht, und Ihr müßt Euch erinnern, daß ich Euch vor Neadarnens Abreise sagte, falls sich Schonkilje nicht edelmütig gegen sie betrüge, würde er bloß ein Schattenbild an ihrer Stelle finden. – Da Ihr aber dies für mich zu tun imstande seid, sagte er abermals, weshalb habt Ihr es nicht für Euch selbst getan? Wer hinderte Euch, Eurem Scholuchern einen Schatten unterzuschieben und dadurch seine Strafe zu beenden? – Schonkilje würde es gemerkt haben, versetzte sie; Scholuchern mußte so lange Zeit in seiner Macht bleiben und wurde von ihm während seiner Gefangenschaft zu so vielen Verrichtungen gebracht, daß mir's nicht möglich gewesen sein würde, ihn darin zu hintergehen. – Aber bei der Verrichtung, versetzte Tanzai, wozu er sich der Prinzessin bedienen wird, kann er – das versteht sich – weit leichter hintergangen werden. Wahrhaftig, das Schicksal, Euer Vater, befiehlt gar herzlich alberne Dinge, und Ihr macht sie durch die sonderbarsten Mittel wieder gut.

Oh, Ihr verdient weder, daß man Euch Mut einspricht, noch daß Neadarne Euch mit so vieler Gewissenhaftigkeit liebt. Wenn sie Schonkiljen nicht sollte vermeiden können, würde es sich für Euch gar übel schicken, ihr deshalb Vorwürfe zu machen. Als es darauf ankam, eine Nacht mit der Kukumer zuzubringen, machtet Ihr weit weniger Schwierigkeiten, als Neadarne in dergleichen Fall machen würde.[214] Ihr glaubtet lächerlicherweise, daß der schönste Gegenstand auf Erden die Arme nach Euch ausstreckte; trautet all dem, was Euch die Nachteule vorschwatzte; und wenn die Prinzessin wüßte, wie weit Eure Untreue ging, so stehe ich nicht dafür, daß sie trotz ihrer Tugend einige Süßigkeit darin finden würde, Euch dafür zu bestrafen.

Um Scholucherns willen, liebe Zwickelbart, sagte Tanzai ganz betreten, erwähnt nie etwas gegen sie von der vermaledeiten Schnakeninsel. Sie wurde nur mehr denn zu gut gerächt, und wenn Ihr, woran ich nicht zweifle, das übrige von dieser Begebenheit wißt, so müßt Ihr nur Gerechtigkeit widerfahren lassen, und Euch ist alsdann nicht unbekannt, daß das Verlangen, sie wiederzusehen, mich antrieb, ein mehreres zu tun, mehr als das Verlangen nach meiner Wiederherstellung. – Ich will gern Euer Geheimnis bewahren, sagte die Fee, aber seid ruhiger und beleidigt mich nicht ferner dadurch, daß Ihr an meiner zweifelt. Sie erstreckt sich weiter, als Ihr denkt.

Der Prinz versprach ihr alles, was sie von ihm verlangte; allein seine Unruhe war so stark, daß er ihr nicht auf einen Augenblick Einhalt tun konnte; und daß die Fee, die über seine Klagen ungeduldig war, sich genötigt sah, ihn drei- bis viermal den Tag hindurch in tiefen Schlaf fallen zu lassen. Er würde überdem nichts als böse Träume gehabt haben, hätte nicht die Zwickelbart, zum Besten der Prinzessin, ihm lauter anmutige Träume zugesandt.

Quelle:
Claude Prosper Jolyot Crébillon: Der Schaumlöffel. Leipzig 1980, S. 209-215.
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