Elfter Gesang

[188] O Vater unser, der du bist im Himmel,

Nicht in Beschränkung, nein, weil größre Liebe

Du hegst zu jenen ersten Werken droben.

Von aller Kreatur gepriesen werde

Dein Nam' und deine Macht, wie sich gebühret

Dank darzubringen deinem süßen Hauche.

Der Friede deines Reiches komme zu uns;

Denn nicht vermögen wir mit allem Streben,

Wenn er zu uns nicht kommt, ihn zu erreichen.

So wie die Engel, Hosianna singend,

Dir ihren Willen opfern, also mögen

Die Menschen auch mit ihrem Willen tun.

Gib unser täglich Manna, Herr, uns heute;

Denn ohne solches kommt in dieser Wüste

Zurück, wer noch so sehr mit Gehn sich abmüht.

Vergib uns unsre Schuld, so wie wir jedem

Das Übel das wir litten gern vergeben,

Und blicke nicht auf das, was wir verdienen.

Versuche unsre Kraft, die wenig standhält,

Nicht durch den alten Widersacher, sondern

Erlöse uns von ihm, der ihr so nachstellt.

Doch diese letzte Bitte, teurer Herr,

Tun wir für uns nicht, die wir's nicht bedürfen;

Für die Zurückgebliebnen tun wir sie. –[188]

So gingen jene Schatten, gute Wand'rung

Für sich und uns erbittend, von der Last,

Wie man sie manchmal träumt, verschiednermaßen

Geängstigt und erschöpft, den ersten Absatz

Des Berges rings entlang, um von dem Dunste

Des Erdenlebens büßend sich zu läutern.

Wird dorten allzeit so für uns geredet,

Was kann für jene diesseits tun und sagen

Der, dessen Willen hat die rechte Wurzel?

Die Makeln, die sie hier befleckt, zu tilgen

Behilflich soll man sein, daß leicht und lauter

Zu den gestirnten Rädern gehn sie können.

Ach, soll Erbarmen und Gerechtigkeit

Euch bald entlasten und die Flügel lösen,

Euch aufzuschwingen, so wie ihr ersehnet,

Zeigt uns auf welcher Seite man am nächsten

Zur Stiege geht, und sind mehr Weg' als einer,

So zeigt uns den, der minder steil herabsteigt.

Denn, der hier mit mir kommt, ist ob der Schwere

Des Adamsfleisches, das ihn noch bekleidet,

Zum Steigen, wider seinen Willen, lässig. –

Von wem die Worte kamen, welche Antwort

Auf dessen Rede brachten, dem ich folgte,

Das wurde meinem Ohr nicht offenbar;

Doch wir vernahmen: Geht zur rechten Seite

Gleich uns am Ufer; einen Aufgang werdet,

Der Lebenden ersteigbar, ihr dort finden.

Und wär' ich von dem Steine nicht behindert,

Der mein hochmütiges Genicke bändigt,

So daß den Blick ich senken muß nach unten,

So möcht' ich den, der lebt und sich nicht nennet,

Wohl anschau'n, um zu sehn, ob ich ihn kenne,

Und dann ob dieser Last sein Mitleid wecken.

Lateiner war ich, edlen Tuskerstammes,

Wilhelm Aldobrandesco war mein Vater:

Ich weiß nicht, ob ihr je den Namen hörtet.[189]

Mein edles Blut, die ritterlichen Taten

Der Ahnen brachten mich zu solchem Hochmut,

Daß ich, der Mutter aller nicht gedenkend,

Geringe jeden schätzte, und das Leben

Darob verlor, wie die Saneser wissen,

Und alle Kinder Campagnatico's.

Ich bin Omberto und es bringt der Stolz

Nicht mir nur Schaden; alle meine Vettern

Hat in's Verderben er gleich mir gezogen.

Und seinethalb muß, weil ich es im Leben

Versäumte, diese Last hier bei den Toten

So lang' ich tragen, bis ich Gott genug tat. –

Aufhorchend ging ich mit geneigtem Antlitz;

Und ihrer einer, nicht der, welcher sprach,

Verwandte, trotz der Last sich, die ihn drückte.

Als er mich sah, erkannt' er mich und rief mich,

Indem das Aug' er mühsam nach mir wandte,

Der neben ihm ich ging gesenkten Hauptes.

Da sagt' ich: Ach, bist du nicht Oderisi,

Agubbio's Ehr' und Ehre jener Kunst,

Die in Paris man nennt: Illuminieren? –

Die Blätter, die der Bologneser Franco

Gemalt, mein Bruder, sprach er, lächeln schöner;

Ihm bleibt die Ehre ganz, mir nur ein Teil.

So anerkennend hätt' ich nicht geredet,

Weil ich noch lebte, wegen des Verlangens

Hervorzuragen, das mein Herz erfüllte.

Für solchen Hochmut zahl' ich hier die Buße;

Und hätt' ich nicht, als ich noch sünd'gen konnte,

Zu Gott mich hingewandt, wär' ich nicht hier.

O eitler Ruhm der menschlichen Begabung;

Wie schnell vergeht das Grünen seines Gipfels,

Wenn hinter ihm nicht rohe Zeiten folgen!

Das Feld der Malerei zu halten dachte

Einst Cimabuë; jetzt rühmt man nur Giotto,

So daß verdunkelt wird der Ruf des ersten.[190]

So nahm der Sprache Ruhm der eine Guido

Dem andern, und vielleicht ist schon geboren,

Der diesen aus dem Nest wie jenen treibt.

Der Preis der Welt ist nichts als nur ein Hauch

Der bald von hierher bläst und bald von dorther,

Und mit der Richtung seinen Namen ändert.

Nach tausend Jahren ist dein Ruhm nicht größer

Wenn du ergraut dein Fleisch ablegst, als starbst du

Zur Zeit, wo du von »Kikerling« und »Pappen«

Noch sprachest, und, der Ewigkeit verglichen,

Sind jene wen'ger, als ein Blick der Wimpern

Dem Himmelskreise, dessen Drehn das schwächste.

Der Name dessen, der so sachten Schrittes

Hier vor mir schleicht, erfüllt' einst ganz Toscana;

Jetzt flüstert man ihn kaum noch in dem Siena,

Das sein war, als die Wut der Florentiner

Vernichtet ward, die, wie sie kleinlaut jetzt ist,

Hochfahrend damals war und übermütig.

Es ist eu'r Ruhm so wie des Grases Farbe,

Die kommt und geht, und der heißt sie erbleichen,

Der sie hervorrief aus der rauhen Erde. –

Drauf ich: Gerechte Demut pflanzt in's Herz mir

Dein wahres Wort und dämpft sein stolzes Aufblähn;

Doch wer ist der, von dem du eben sprachest? –

Das ist, so sagt' er, Provenzan Salvani,

Hier aber büßt er, daß er sich erkühnte,

Ganz Siena sich allein zu unterwerfen.

Seitdem er starb, geht er in solcher Weise,

Und rastlos geht er fort; mit solcher Münze

Bezahlen muß, wer nach zu Hohem strebte. –

Ich sagte drauf: Wenn, wer mit seiner Reue

Bis zu des Lebens letztem Rande zögert,

Falls wirksame Gebete ihn nicht fördern,

Dort unten wartet und hierher nicht aufsteigt,

Bis soviel Zeit verstrich, als er gelebt hat,

Wie wurde ihm zu kommen schon gestattet? –[191]

Im höchsten Ruhmesglanze, sagte jener,

Lebt' er, da ließ, bewältigend die Scham,

Er auf dem Marktplatz sich von Siena nieder

Und scheute, um des Freundes Not zu enden,

Die dieser litt von König Karl gefangen,

Sich nicht des Zitterns an jedweder Ader.

Mehr sag' ich nicht, wenn dunkel auch die Red' ist;

Doch werden die dir nah stehen so verfahren,

Daß bald du selbst vermagst, sie zu erklären.

Dies Werk befreite ihn von jenen Schranken. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 188-192.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon