Der Zauberer Walai


Walai war Straßenzauberer in Bombay. Er saß nachmittags vor dem Taj-Mahalhotel auf dem Pflaster des Quais, mit seinen Körben, seinem neunjährigen Knaben, einem roten Tuch, einem Stockdegen und einer Handtrommel. Hinter seinem Rücken lag der indische Ozean, die heiße, unendliche Wasserwüste. Über Walais gelbem Turban stand die indische Sonne wie die offene Feuerluke eines Hochglutofens. Vor ihm das Hotel aus weißem Granit, acht Stock hoch, mit offenen Granitloggien, darin Hunderte von englischen Reisenden aus Europa und aus dem indischen Reich die Hallen und Galerien füllten.

Walai ließ die Trommel bullern. Sein Knabe mußte sich dann in einen Korb legen. Über ihn schlug Walai das rote Tuch, schloß den Korbdeckel und zählte laut auf englisch: One – two – three! Dann stieß der Zauberer den Stockdegen bis ans Heft in den Korb,[23] lachte grinsend und sah mit seinen horngelben Augäpfeln und seinem kaffeebraunen Gesicht über die acht Stockwerke des Hotels hinauf und hinunter. Er blähte die Nasenlöcher, rief: Hee!, hob den Korbdeckel, lüftete das rote Tuch und zeigte dem ganzen Hotel, daß der Korb leer war. Um ein übriges zu tun, sprang er selbst mit beiden nackten Füßen in den Korb hinein und stampfte darinnen herum und rief: Hee, hee! und schwenkte in der einen Hand den Stockdegen, in der andern das rote Tuch in die Luft. Das rote Tuch hatte die Farbe von blutigem Fleisch und flatterte wie bluttriefend vor dem überhitzten, silbergrauen Tropenhimmel.

Die weißgekleideten Ladies und die weißgekleideten Gentlemen, die nach dem Lunch in den Schaukelstühlen auf den prächtigen Steinaltanen lagen und ihren Kaffee und Whiskysoda dort tranken, bogen sich aus dem Schatten der Steingewölbe über die hellen Geländer und zeigten Walai ihre blassen, müden Tropengesichter, die schlaff waren wie ausgepreßte Zitronen. Tausende von Malen im Jahr zeigte der Zauberer Walai dasselbe Kunststück, ein dutzendmal am Nachmittag ließ er unter umständlichem Trommelbullern seinen[24] Knaben verschwinden und erscheinen; auf das weiße Pflaster am Meerquai klingelten dann die großen Kupferstücke und die kleinen Silbermünzen, die der nackte Knabe auflesen durfte.

Walai selbst bückte sich nicht. Niemand sah, daß er unter der Bräune seines Gesichtes immer wieder fahl wurde, wenn er den Stockdegen auch schon zum hunderttausendsten Male in den Korb stieß. Bei jedem neuen Degenstoß erschien auf seinen spitzen Backenknochen eine leichte Blässe; er liebte seinen Knaben sehr und fürchtete, ihn einmal zu verletzen. Denn der schmale, knochenlose Knabenkörper war natürlich nicht aus dem Korbe verschwunden, sondern lag darinnen, schlank wie ein Palmenblatt an die gebauchten Korb wände gepreßt, und wußte der Degenschneide geschickt auszuweichen, indem er blitzschnell seine Lage veränderte. Oft fuhr dem Knaben der Degen wie ein Pfeil zwischen zwei Finger und durch die gespreizten Zehen, oder durch das gekrauste Haar. Er wich der Degenspitze aus wie einer Schlange, die gestreckt auf ihn losstürzte. Er sah durch die Wände des lose geflochtenen Korbes das helle Straßenpflaster, das große Hotel und[25] die tanzende Schattengestalt seines Vaters. Und wenn das Geld draußen klingelte, sprang er vergnügt und unverletzt aus dem Korb.

Heute am Sonntag, wo mehr Europäer als sonst im Hotel auf den Altanen waren, hatte der Zauberer bis zum Abend gezaubert. Er hatte seinen Knaben zum erstenmal an der Lippe geritzt, und das rote Tuch zeigte einige dunkle Flecken. Er hatte dann sein Kind in die leere Lehmhütte heimgebracht; er machte für die Nacht ein kleines Kohlenfeuer an, legte den Knaben auf die Strohmatte und wartete, bis die Atemzüge ihm sagten, daß das Kind schlief. Dann ging er noch einmal aus, um dem Knaben ein neues Turbantuch zu kaufen und sich selbst für den heutigen Schreck zu trösten.

Im Abendgewühl in den Eingeborenenstraßen setzte sich Walai müde auf einen Treppenstein und sah einen Augenblick auf die Millionen Lichter der Stadt, auf die breiten Feuer in den offenen Höfen. Kerzen und Windlichter tanzten in der Nachtluft auf den Holzgalerien, große Menschenschatten fuhren aus den Türen, schossen spukhaft durch die Lichtkegel weit hinaus über die Geländer der Altanen. Oft wurden die Schatten von[26] fünf Fingern größer als ein Haus, große Nasen fuhren über weiße Hofwände, als würden die Menschen mit einem Atemzug zu aufgeblähten Riesen und schrumpften gleich darauf wieder zu Zwergen zusammen. Über den roten und blauen Gläserlampen der Häuser und über den braunen offenen Hoffeuern erschienen und verschwanden in der halbkühlen Märznacht die weißen Raketen der Sternschnuppen und zogen lange Phosphorlinien durch das Dunkel.

Walai der Zauberer sah die Nacht wie einen Kollegen an, der ihm seine überlegenen Kunststücke zeigen wollte. Und Walai nickte in die Wirklichkeit und Unwirklichkeit der spukenden Lichter und Schatten; er fühlte sich wie ein Fremder und Hotelgast vor der nächtlichen Zauberei.

Ganz in seinen Gedanken ging der Zauberer in den nächsten Hof und hielt seine Hände an das offene Feuer und niemand von denen, die um die Flammen hockten, achtete auf ihn. Während Walai sich noch wärmte, hörte er Musik von Gongs, Trommeln und Flöten; er bemerkte jetzt erst, daß er im Vorhof des Kulitheaters war. Seine abwesenden Augen verschafften ihm überall freien[27] Eintritt. Er ging an den armseligen Türwächtern vorüber in den halbzerfallenen Theaterraum. Keiner getraute sich den langen, hagern Indier, der wie eine wandelnde Lanze daherkam, anzureden. Das Theater war voll von Leuten, Kulis, die wie Lumpenbündel hintereinander saßen, mit farblosen Turbanen, in Wolken von Tabakrauch. Das Theater erschien wie mit Lumpen und Knochen gefüllt. Nackt, abgemagert und grau saß das Kulivolk auf dem Parkett und dem einzigen Rang. Das kleine verräucherte Haus war wie ein französisches Theater eingerichtet. Vier Musikanten spielten stehend auf der Bühne oben und warteten auf die Tänzerin, die erscheinen sollte. In der dunkeln Bühnenwelt standen manche Kulissen auf dem Kopf, und man wußte nicht, ob sie Zimmer, Garten oder Straße vorstellten. Walai stieg über kauernde Menschenhaufen hinauf auf den Rang, setzte sich, legte sein Gesicht auf das Balkongeländer und schlief ein, wie viele der andern, die müde vom Lasttragen, von der Straße und von der Hafenarbeit waren.

Die vier Musikanten musizierten einförmig, und Walai wachte erst wieder aus seinem Schlaf auf, als ein Weib einen Schrei ausstieß.[28] Er öffnete seine Augen langsam und sah auf der verstaubten Bretterbühne, unter der einzigen elektrischen Bogenlampe, die Kulitänzerin, umgeben von ihren vier Musikanten. Sie mußte schon eine lange Stunde getanzt haben. Der Tanz war eben bei der Szene der Entschleierung angekommen. Sie tanzte bereits mit nackten Brüsten und trug nur noch den letzten blaugrauen schmutzigen Schleierlappen um die schmalen Schenkel. Nackt bis an das Becken, reckte sie sich im Tanzwirbel, wie ein Zweig im Sturm. Sie sprang mehrmals gleich einem Ball vom Boden auf, und aus ihrer Kehle fuhr dann Schrei um Schrei. Endlich fiel sie am Boden in gekauerter Stellung zusammen und blieb liegen, als hätte ihre Seele den Leib fortgeworfen und sich im Tanz vom Herzen losgerissen.

Der Zauberer Walai sah tief aus dem Schlaf heraus den letzten Tanztakten der rasenden Bajadere zu; dann zwinkerte er mit beiden Augen wie ein Tiger, der blutunruhig durch die Wimpern blinzelt, und stieß den Atem zischend durch die geschlossenen Zähne aus. Neben ihm klatschten ein paar Kulis, andere drehten sich schlafend um.

Walai schlief nicht mehr. Er hatte seine[29] Augen schließen wollen, aber seine Augäpfel öffneten ihm immer wieder die Augenlider, als hätten sie Hände, und seine Blicke holten sich das schlanke Mädchen, und sie tanzte durch sein Blut. Der Zauberer sah, wie ein hellhäutiger Engländer – der einzige Fremde, der sich in das Theater verirrt hatte, – die Hand mit der weißen Manschette hob und der bettelnden Tänzerin während der Pause große Silbermünzen in den hingehaltenen Schleier warf.

Der Walai spuckte rasch zwischen seinen Knieen auf den Fußboden. Wie das Haupt eines Geköpften lag sein Kopf mit aufgestütztem Kinn auf dem Geländer, seine weit offenen Augen hielten das Mädchen auf der Bühne fest, als wären seine Blicke Zügel, als hätte er die fliegende Gestalt auf den Bühnenbrettern mit einem Lasso eingefangen und an sein Herz gebunden. Stundenlang rührte sich sein Kopf nicht und seine Augäpfel starrten rot aufgerissen wie zwei fleischfressende Urwaldorchideen, deren Kelche in der Nacht plötzlich mit einem Knall aufspringen.

Das Mädchen auf der Bühne tanzte ahnungslos und ließ seine nackten Brüste wie zwei kleine Seidenkissen unter der Bogenlampe[30] glänzen. Von Sekunde zu Sekunde wurde jetzt das seufzende Zischen des Zauberers lauter, und als die Tänzerin sich wieder zu dem Fremden bückte und Geld auffing, glitt Walai an der Wand entlang, als wolle er sich unsichtbar machen, und kam zur Tür. Das Türbrett öffnete er lautlos. Da fiel der Schatten der Tänzerin, groß und lang, zugleich mit Walais Schatten hinaus an die weiße Hofwand, und die Schattenhände des Mädchens fuhren einen Augenblick um Walais Halsschatten. –

Ein paar Minuten später stand Walai vor seiner Lehmhütte, bei seinem schlafenden Knaben. Der Hüttenraum war blutrot vom ausgehenden Feuer. Wie von den Augen der rasenden Tänzerin getragen, war Walai mit leichten, großen Sätzen durch die Gassen nach Hause gesprungen; er konnte schwören, daß er keine Fußspuren hinter sich im Sand gelassen hatte. Wie offene Feuer großen Rauch und große Schatten in die Nacht schleudern, so fühlte sich der Zauberer von seinem plötzlich leidenschaftlich verliebten Herzen als ein dunkler Riese in die Welt gestellt. Wenn er die Augen schloß, tanzte in ihm die Bajadere. Es war ihm all sein Blut im Leib verdorrt,[31] und der rasende Tanz des Mädchens war das einzige Leben in seinen Adern.

Er nahm wie ein Irrsinniger den Degen aus der Zimmerecke.

»Süße!« flüsterte er, »Süße!« Er schloß die Augen, als tanzte das Mädchen auf dem roten Lehmboden der Hütte vor ihm, und mit geschlossenen Zähnen seufzte er noch einmal tief: »Der Fremde gibt dir Geld, was gibt dir Walai?« Er schwang plötzlich die rotbeleuchtete Degenklinge wie eine Fahne in der Hand und stieß die Stahlspitze seinem Knaben in das Herz.

Mit roten Augäpfeln lachend, in Ekstase wie ein Tanzender und mit hochgehaltener Degenklinge, deren Spitze schwarz von Blut war, rannte er aus der Hütte, sprang wie ein Gespenst an den Häusern hin. Die Leute unter den Laternen wichen ihm aus, sie meinten, es sei ein irrsinniger heiliger Mann, der aus einem Tempel fort in die Welt stürzte. Mit einem einzigen Satz sprang Walai mitten in den Theaterhof. Da der Weg über das Feuer der kürzere war, sprang er ohne Besinnen über den Holzstoß. In drei Sprüngen war er durch die aufgerissene Tür des Zuschauerraumes oben auf der Bühne.[32]

Die Musikanten warfen sich zwischen ihn und die Tänzerin. »Willst du sie töten?« rief der eine und hielt zum Schutz gegen seinen Degen den bronzenen Gong wie einen Schild hoch. Der Zauberer aber lachte, und über die Köpfe der Musikanten warf er den Degen vor die Füße der Kulitänzerin.

»Laßt mich,« schrie er, »der Fremde gab ihr sein Geld, ich gebe ihr mein liebstes Blut.«

Die Tänzerin floh vor dem hingeworfenen blutigen Degen hinter die Kulissen. Viele packten Walai, hielten ihn fest, riefen die englischen Konstabler von der Straße; die kamen in ihren gelben Kaki-Uniformen auf die Bühne, banden den Mann solid und nüchtern und schleiften ihn fort.

»Der hatte einen roten Gedanken,« sagten die schläfrigen Kulis zueinander, und einer warf Walai den blutigen Degen über den Hof nach. Dann setzten sich die Leute wieder auf ihre Plätze, die Musikanten spielten, die Kulibajadere tanzte wie immer bis zum Morgenrot und verstand nicht einmal, daß sie in die ser Nacht einen Zauberer verzaubert hatte. Sie tanzte, weil es ihr Geschäft war und tanzte heute lebhafter, weil der Fremde im Parkett noch reich an Silbermünzen war.

Quelle:
Max Dauthendey: Lingam. München 1923, S. 20-33.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lingam
Lingam
Lingam: Zwölf asiatische Novellen
Lingam
Lingam: Zwölf asiatische Novellen (1909)
Lingam: Zwoelf asiatische Novellen

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon