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[189] Ueber Rußlands Leichenangesicht

faltet hoch die Nacht die blassen Hände;[189]

auf das stumme, weiße, kalte Antlitz

hohlen Auges starrt die Nacht und lauscht.

Gellend hallt ein Geläute.


Dumpf ein Stampfen von Hufen – ein Schlitten kreischt,

fahl flatternder Reif – der Schlitten fliegt;

es dampfen die Pferde, die Peitsche pfeift,

stiebende Furchen die Kufe pflügt;

flimmernd zittern die Birken.


»Knecht, was hörtest du von – Bonaparte?«

Bang aufschreckend der Bauer horcht erschauernd,

wie da hinter ihm das steinern bleiche

Antlitz mit den harten Lippen

Laute so voll Trauer spricht.


Rückwärts horcht der Alte – hockt und starrt,

starrt und staunt mit frommer Furchtgeberde:

drüben weit im Osten aus der Erde

drohend taucht die rotgeballte

Mondfaust in die öde Nacht, –


düster wie von Blut die lange Straße glimmt,

wie von Blut die blanken Birken perlen,

wie von Blut umtropft das Haupt im Schlitten thront, –

»Knecht, was sagt man von dem großen Kaiser?!«

Klagend schrillt das Geläute.


Auf zuckt der Bauer, die Peitsche klatscht,

die Glocke schreit, hohl rauscht's im Schnee, –

und schwer nun, feiervoll und sacht,

wie uralt Lied so dumpf und weh,

kommt Wort um Wort gezogen:


»Groß am Himmel stand die schwarze Wolke,

fressen wollte sie den heil'gen Mond, –[190]

doch der heil'ge Mond steht noch am Himmel,

und zerstoben ist die schwarze Wolke.

Volk, was weinst du?


Stolz der kalte Sturm die Wolke rollte,

fressen sollte sie die stillen Sterne, –

aber ewig blühn die stillen Sterne,

nur die Wolke hat der Sturm zerrissen;

und den Sturm – verschlingt die Ferne.


Und es war ein großes schwarzes Heer,

und es war ein stolzer kalter Kaiser, –

aber unser Mütterchen das heil'ge Rußland

hat viel tausend tausend stille warme Herzen,

aber ewig lebt das Volk.«


Hohl verschluckt der Mund der Nacht die Laute,

dumpfhin rauschen die Hufe, die Glocke wimmert;

auf den nackten Birken flimmert

rot der Reif, der mondbetaute.

Den Kaiser schauert.


Durch die leere Ebne irrt sein Auge:

über Rußlands Leichenangesicht

faltet hoch die Nacht die blassen Hände,

hängt der große rote dunkle Mond,

eine blutige Thräne Gottes.

Quelle:
Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 189-191.
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