1.

[10] Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;

der Mond läuft mit, sie schaun hinein.

Der Mond läuft über hohe Eichen;

kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,

in das die schwarzen Zacken reichen.

Die Stimme eines Weibes spricht:


Ich trag ein Kind, und nit von Dir,

ich geh in Sünde neben dir.

Ich hab mich schwer an mir vergangen.

Ich glaubte nicht mehr an ein Glück

und hatte doch ein schwer Verlangen

nach Lebensinhalt, nach Mutterglück[10]

und Pflicht; da hab ich mich erfrecht,

da ließ ich schaudernd mein Geschlecht

von einem fremden Mann umfangen,

und hab mich noch dafür gesegnet.

Nun hat das Leben sich gerächt:

nun bin ich Dir, o Dir begegnet.


Sie geht mit ungelenkem Schritt.

Sie schaut empor; der Mond läuft mit.

Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.

Die Stimme eines Mannes spricht:


Das Kind, das du empfangen hast,

sei deiner Seele keine Last,

o sieh, wie klar das Weltall schimmert!

Es ist ein Glanz um alles her;

du treibst mit mir auf kaltem Meer,

doch eine eigne Wärme flimmert

von dir in mich, von mir in dich.

Die wird das fremde Kind verklären,

du wirst es mir, von mir gebären;

du hast den Glanz in mich gebracht,

du hast mich selbst zum Kind gemacht.


Er faßt sie um die starken Hüften.

Ihr Atem küßt sich in den Lüften.

Zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 10-11.
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