[120] Zu Olivers Unglück kommt ein großer Mann nach London.
In jedem guten Melodrama wechseln auf der Bühne komische und tragische Dinge so regelmäßig miteinander wie die roten und weißen Schichten eines speckdurchwachsenen Schinkens. Solche Wandlungen scheinen absurd, sind aber lange nicht so unnatürlich, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Der Übergang im Leben von Freudenfest zu Totenfest und von Trauerkleid zu Festtagskleid[120] kommt kaum so überraschend; nur sind wir hier passive Zuschauer, dort statt passiven Zuschauern die Darsteller, und das ist der einzige Unterschied.
Zeitig morgens tauchte Mr. Bumble im Tore des Arbeitshauses auf, schritt über die Schwelle und wandelte mit würdiger Haltung ehrfurchtsgebietend die Straße hinauf. Er hielt sich erst nicht lange unterwegs auf, um sich mit den Kleinkrämern und andern Leuten, die ihn anredeten, in Gespräche einzulassen, sondern erwiderte ihre ehrfurchtsvollen Begrüßungen mit einer majestätischen Handbewegung und lenkte seine Schritte dem Gartentor zu, hinter dem Mrs. Mann die Armenkinder mit mütterlicher Sorgfalt verpflegte.
»Der verdammte Kirchspieldiener,« murrte Mrs. Mann, als sie das bekannte Rütteln an der Pforte hörte. »Kaum daß es Tag ist, ist er schon wieder da – ja was wär denn jetzt dös, Mr. Bumble, grad hab ich an Ihnen gedacht. Ja, ist das eine Freud, Ihnen wieder einmal zu sehen. Tretens doch, bitte, näher!«
Die erste Hälfte ihrer Rede war an Susanne gerichtet, die freudevollen Begrüßungsausrufe aber bekam Mr. Bumble selbst zu hören, während die Treffliche das Gartengitter aufsperrte und ihn unter mannigfachen Hochachtungsbezeigungen in das Haus geleitete.
»Mrs. Mann,« sagte Mr. Bumble und ließ sich feierlich auf einem Stuhl nieder. »Mrs. Mann, ich entbiete Ihnen einen guten Morgen«
»I dank scheen und auch meinerseits einen recht scheenen guten Morgen,« erwiderte Mrs. Mann mit süßem Lächeln. »Und wie steht denn das werte Befinden?«
»So so, Mrs. Mann,« antwortete der Kirchspieldiener. »Ein Leben als Beamter, Mrs. Mann, ist nicht gerade etwas Verführerisches.«
»O mei, ja freilich nicht,« klagte die Dame.
»Ein Leben als Beamter in der Gemeinde, Mrs. Mann,« wiederholte Mr. Bumble und schlug mit dem Stock auf den Tisch, »ist ein Leben voll Mühsal und Plackerei, Verdruß und Entbehrungen; aber halt jeder öffentliche Charakter steht sozusagen am Pranger.«[121]
Mrs. Mann, die nicht recht verstand, was der Kirchspieldiener eigentlich meinte, richtete den Blick zur Decke und seufzte tief.
»Ja ja, Sie haben gut seufzen, Mrs. Mann,« sagte der Kirchspieldiener. Da Mrs. daraus erkannte, daß ihre Gesten gestimmt hatten, seufzte sie abermals und augenscheinlich sehr zur Befriedigung des öffentlichen Charakters, der ein wohlgefälliges Lächeln rasch unterdrückte, ein Blick auf seinen Dreispitz warf und anhob:
»Mrs. Mann, ich stehe gerade im Begriff nach London zu fahren.«
»Ja, was wär denn jetzt dös?« rief Mrs. Mann erschreckt.
»Ja ja nach London, Madame,« bekräftigte unerschüttert der Kirchspieldiener, »per Wagen. Ich und zwei Gemeindearme, Mrs. Mann. Es ist ein Rechtsverfahren im Zug wegen einer Überweisung von Gemeindearmen. Die löblichen Vorstände haben mich ausersehen – jawohl mich, Mrs. Mann –, die Sache dem Gerichte Clerkenwell vorzutragen. Na, es wird sich ja zeigen, ob das Gericht in Clerkenwell,« setzte Mr. Bumble hinzu und blähte sich gewaltig auf, »da lange stand halten wird können, wenn ich mich ins Zeug lege.«
»Ach Gott, Sie dürfen mit den Herrn vom Gericht nicht zu schroff verfahren, Mr. Bumble,« sagte Mrs. Mann mit erschreckten Augen.
»Die in Clerkenwell haben's sich selbst zuzuschreiben, Madame,« versetzte Mr. Bumble, »sie habens ja selber ins Rollen gebracht; jetzt haben's sie sich selber zuzuschreiben.«
Es lag so viel Entschlossenheit in der Art, wie Mr. Bumble sprach, daß Mrs. Mann ganz und gar eingeschüchtert zu sein schien. Kaum, daß sie die Worte hervorbrachte:
»Sie fahren im Postwagen, Sir? Ich hab' immer gemeint, für die Armen tut's auch ein Leiterwagen.«
»Das ist Vorschrift, Mrs. Mann, wenn sie krank sind,« erklärte der Kirchspieldiener, »wenn es regnet, kommen sie in offene Karren, damit sie sich nicht verkühlen, und jetzt nimmt sie der Omnibus von der Konkurrenzlinie auf; das macht die Sache sehr billig. Sie[122] sind beide sehr krank, und wir glauben, wir ersparen zwei Pfund mehr, wenn wir sie rechtzeitig fortschaffen, als wenn wir sie hier begraben müssen. Wir müssen nur schauen, daß wir sie rechtzeitig nach Clerkenwell bringen, daß sie unterwegs net vorzeitig sterben. Hahaha!«
Nachdem Mr. Bumble ein Weilchen gelacht, fiel sein Blick wieder auf den Dreispitz, und würdevoller Ernst überzog seine Miene.
»Wir vergessen ganz das Geschäftliche, Madame,« sagte er mit verändertem Ton, »hier haben's das Kostgeld für den laufenden Monat.« Dabei zog er eine kleine Rolle Silbergeld aus der Tasche und ließ sich von Mrs. Mann eine Quittung ausstellen.
»Es sin a paar Tintenklex drauf kommen,« entschuldigte sich die würdige Dame, »aber sonst ist alles in richtiger Form. Und recht schönen Dank, Mr. Bumble, ich bin Ihnen so verpflichtet, Sie wissen gar net.«
Mr. Bumble nickte gnädig und erkundigte sich nach dem Befinden der Kinder.
»O Gott, die süßen kleinen Hascherln,« säuselte Mrs. Mann gerührt, »alleweil munter sins und halt immer gsund; die zwei natürlich ausgnommen, die wo letzte Woch mit Tod abgangen sin. Und dann den kleinen Dick auch ausg'nommen.«
»Geht's denn dem Jungen immer noch nicht besser?« fragte Mr. Bumble.
Mrs. Mann schüttelte melancholisch das Haupt.
»Dieser Dick ist ein mißratener, von Krankheit nur so strotzender Arbeitshausbengel,« schimpfte Mr. Bumble. »Wo steckt er?«
»Gleich in einer Minute schaff ich ihn Ihnen herbei,« rief Mrs. Mann. »Obs d' gleich herkommst, Dick!«
Einiges Hin- und Herrufen im Haus, und dann brachte man Dick zur Stelle. Nachdem man ihm noch rasch das Gesicht unter die Pumpe gehalten und es ihm mit der Schürze Mrs. Manns abgetrocknet, wurde er zum gestrengen Herrn Kirchspieldiener geführt.
Es war ein bleiches abgemagertes Kind mit eingesunkenen Wangen und fieberhaft glänzenden Augen.[123] Der dürftige Gemeindeanzug, die Livree seines Elends, hing ihm schlotternd um die Gliedmaßen. Er sah aus wie ein Geist im Kindesalter.
»Siegst denn den gnädigen Herrn net, du mißratener Bub, du?« schimpfte Mrs. Mann. Wehmütig erhob das Kind die Augen und begegnete dem Blick Mr. Bumbles.
»Also, was ist denn los mit dir, du Armenhausstrick?« fragte Mr. Bumble, scherzhaft gelaunt, wie es die Situation offenbar verlangte.
»Nichts, gar nichts, gnädiger Herr,« hauchte der Kleine.
»Na ja, das will ich meinen,« sagte Mrs. Mann, nachdem sie sich über die gute Laune Mr. Bumble entsprechend ausgelacht hatte; »es fehlt dir ja auch an nichts.«
»Ich möchte gern ...,« hauchte der Kleine.
»Ja ja,« unterbrach ihn Mrs. Mann rasch, »du willst doch wohl net sagen, daß dirs hier an was fehlt, mißratener Bengel?«
»Nur Ruhe, Mrs. Mann, nur Ruhe,« ermahnte der Kirchspieldiener und erhob würdevoll den Zeigefinger. »Also, was möchtest du?«
»Ich möchte,« stammelte das Kind, »ich möchte bitten, daß jemand, der schreiben kann, für mich ein paar Worte auf ein Stück Papier schreibt, es zusammenfaltet und versiegelt und für mich aufhebt, daß ich's bei mir hab', wenn ich unter der Erde liege.«
»Was meint denn der Bub nur?« rief Mr. Bumble erstaunt und konnte eine gewisse Bewegung, die ihm die todestraurigen Worte und das kümmerliche Aussehen des Kleinen aufzwangen, kaum unterdrücken, trotzdem er wahrhaftig an dergleichen gewöhnt war. »Was soll das heißen?«
»Ich möchte gern dem armen Oliver Twist einen schönen Gruß von mir hinterlassen,« sagte das Kind, »damit er weiß, wie oft ich an ihn gedacht hab', daß er so in der finstern Nacht herumwandern muß, ohne daß ihm jemand hilft. Dann möcht ich ihm auch noch sagen,« setzte das Kind leise hinzu und preßte seine kleinen abgemagerten Hände zusammen, »daß ich gern[124] sterbe und froh drüber bin, wenn ich auch noch sehr jung bin. Ich freu mich so sehr, meine kleine Schwester, die auch im Himmel ist, wiederzusehen. Wir werden dann viel, viel glücklicher sein.«
Mr. Bumble musterte den kleinen Redner von Kopf bis zu Fuß mit unbeschreiblichem Erstaunen, dann wandte er sich an die Pflegefrau und rief: »Es ist doch immer dieselbe Geschichte, Mrs. Mann; dieser gotteslästerliche Oliver hat sie alle miteinander demoralisiert.«
»Ich hätt's nicht im Leben geglaubt,« rief Mrs. Mann, erhob entsetzt die Hände und warf dabei einen bösartigen Blick auf Dick. »Da schau einer nur diesen verhärteten kleinen Bösewicht!«
»Führen Sie ihn hinaus, Madame,« befahl Mr. Bumble gebieterisch, »das muß ordnungsgemäß gemeldet werden, Mrs. Mann.«
»Ich hoffe, die Herren Vorstände werden doch einsehen, daß ich keine Schuld nicht trage,« sagte Mrs. Mann und setzte ein pathetisches Winseln hinzu.
»Selbstverständlich, Madame. Sie wissen doch genau, wie die Sachen stehen,« erklärte Mr. Bumble. »Geh hinaus! Geh mir aus den Augen, Bengel!«
Dick wurde unverzüglich hinausgeführt und in einen Kohlenkeller eingesperrt, und gleich darauf empfahl sich Mr. Bumble, um die Vorbereitungen zu seiner Reise zu treffen.
Um sechs Uhr am nächsten Morgen vertauschte er seinen Dreispitz gegen einen runden Hut, zwängte sich in einen blauen Rock mit Umschlagkragen und bestieg seinen Platz auf dem Dach des Omnibus, begleitet von zwei Ortsarmen, deren Zugehörigkeit zum Kirchspiel stark bezweifelt worden war, und nicht lange später langte er in London an. Aufs strengste sah er unterwegs darauf, daß keinerlei Widerspenstigkeit passierte. Aber trotzdem konnte er nicht verhindern, daß die beiden Armen störrisch darauf beharrten, immerwährend vor Kälte mit den Zähnen zu klappern und vor Frost zu wimmern, was Mr. Bumble nicht begriff, zumal er in einen sehr warmen Rock gehüllt war.
In der Hauptstadt angelangt, verfügte sich der Treffliche unverzüglich in das Gasthaus, vor dem der[125] Omnibus ausgespannt wurde, und nahm ein bescheidenes Mahl, bestehend aus Beafsteaks mit Austernsauce und Porter, zu sich. Dann bereitete er sich ein kleines Glas heißen Wassers mit Wachholderschnaps, stellte es auf den Kaminsims, rückte sich den Stuhl ans Feuer und ging daran, sich in die Zeitung zu vertiefen.
Die erste Annonce, auf die sein Blick fiel, war folgende Anzeige:
»Fünf Guineas Belohnung.
Am verflossenen Donnerstag hat sich ein Knabe Namens Oliver Twist von seiner Wohnung Pentonville verirrt oder ist weggelockt oder verschleppt worden. Oben vermerkte Belohnung fällt demjenigen zu, der Auskunft geben kann, wo und wie besagter Oliver Twist aufzufinden wäre, oder überhaupt irgendwelche Mitteilung zu machen imstande ist, die Licht auf seine frühere Lebensgeschichte werfen kann.«
Dann folgte eine genaue Beschreibung von Olivers Anzug, Aussehen, Größe und dergleichen. Darunter stand Name und Adresse Mr. Brownlows.
Mr. Bumble riß die Augen auf, las die Annonce immer wieder und wieder durch und befand sich kaum fünf Minuten später auf dem Wege nach Pentonville.
»Ist Mr. Brownlow zu Hause?« fragte er atemlos das Dienstmädchen, das die Türe öffnete. Das Mädchen gab eine ausweichende Antwort, aber kaum hatte Mr. Bumble Olivers Namen genannt, als Mrs. Bedwin, die an ihrer Zimmertür gehorcht hatte, atemlos herausstürzte und ihn einlud näherzutreten. Mr. Bumble wurde in die Studierstube geführt, wo Mr. Brownlow mit seinem Freund Mr. Grimmig gerade hinter Weinflaschen und Gläsern saß.
»Aha, ein Kirchspieldiener, meinen Kopf will ich aufessen, wenn ich mich irre,« war der erste Satz, den Mr. Bumble hörte. Dann nahm er Platz, ein wenig aus der Fassung gebracht durch die seltsame Art und das Benehmen Mr. Grimwigs. Mr. Brownlow stellte die Lampe so, daß er das Gesicht des Besuches genau sehen konnte, faßte ihn fest ins Auge und fragte ungeduldig: »Sie kommen wahrscheinlich infolge der Annonce in der Zeitung, nicht wahr, Sir?«[126]
»Jawohl, Sir,« sagte Mr. Bumble.
»Sie sind doch Kirchspieldiener nicht wahr?« fragte Mr. Grimmig.
»Ich bin Kirchspieldiener, in einem Armenhaus, meine Herrn,« sagte Mr. Bumble stolz.
»Das hab' ich mir gleich gedacht,« brummte Mr. Grimwig, »ein Kirchspieldiener von oben bis unten.«
Mr. Brownlow schüttelte verweisend den Kopf und begann wieder: »Wissen Sie, wo sich der arme Junge befindet?«
»So wenig wie Sie oder sonst jemand,« erwiderte Mr. Bumble.
»Na, also was wissen Sie dann von ihm?« fragte der alte Herr ungeduldig. »Was wissen Sie also von ihm?«
»Sie wissen natürlich nichts Gutes von ihm?« sagte Mr. Grimwig witzig, nachdem er Mr. Bumbles Gesichtszüge eine Zeitlang aufmerksam studiert hatte.
Mr. Bumble schüttelte feierlich das Haupt.
»Na also, da sehen Sie's,« rief Mr. Grimwig und warf Mr. Brownlow einen triumphierenden Blick zu.
Mr. Brownlow warf einen besorgten Blick auf Bumble, der eine höchst besorgte Miene aufgesetzt hatte, bat ihn, ihm alles mitzuteilen, was er wisse, und sich so kurz wie möglich zu fassen.
Mr. Bumble legte seinen Hut weg, knöpfte den Rock auf, verschränkte die Arme, neigte sinnend das Haupt und legte dann, nachdem er eine Weile tief in Gedanken zu Boden geblickt, mit seinem Bericht los.
Seine Erzählung dauert ungefähr zwanzig Minuten und lautete im ganzen großen dahin, daß Oliver ein Findelkind sei und von armen und im Laster versunkenen Leuten abstamme, von Geburt an Hinterlist, Bosheit und Undankbarkeit gezeigt habe und schließlich seiner Ruchlosigkeit damit die Krone aufsetzte, daß er an einem harmlosen Jungen einen Mordversuch machte und seinem Meister auf und davongelaufen sei.
»Ich fürchte, das ist ja alles nur zu wahr,« sagte der alte Herr sorgenvoll, »fünf Pfund sind wohl nicht allzuviel für Ihre Auskünfte, aber gern hätte ich das Dreifache gegeben, würden sie für Oliver günstig gelautet haben.«[127]
Wenn Mr. Bumble gleich anfangs nur eine Ahnung von diesem Umstand gehabt hätte, würde er höchst wahrscheinlich seinen Bericht anders gefärbt haben, aber jetzt war es zu spät. Ernst und feierlich schüttelte er daher das Haupt, steckte die fünf Guineen ein und zog ab.
Eine Weile schritt Mr. Brownlow unruhig und bekümmert im Zimmer auf und ab und schien so traurig, daß selbst Mr. Grimwig sich nicht getraute, ihn zu verhöhnen. Endlich blieb er stehen und riß heftig an der Klingelschnur.
»Mrs. Bedwin,« sagte er, als die Haushälterin erschien, »Oliver, denken Sie nur, ist ein Betrüger gewesen.«
»Das kann nicht sein, Sir. Unmöglich,« antwortete die Dame mit großer Entschiedenheit.
»Ich sage Ihnen aber: es ist doch so,« erwiderte der alte Herr. »Woher wissen Sie denn, daß es nicht sein kann? Ich habe soeben einen genauen Bericht über seine Lebensführung von seiner Geburt an gehört, und vom Säuglingsalter an ist er ein Tunichtgut gewesen.«
»Das werde ich mein ganzes Lebenlang nicht glauben, Sir,« sagte die alte Dame fest und bestimmt. »Niemals!«
»Na ja, alte Weiber glauben eben nur Quacksalbern und verlogenen Märchenerzählern,« brummte Mr. Grimwig. »Das ist eine alte Geschichte. Warum haben Sie mir denn nicht von Anfang an gefolgt? Wenn der Junge nicht das Fieber gehabt hätte, wär's auch natürlich ganz anders gekommen, aber das hat ihn natürlich interessant gemacht, was?«
Und Mr. Grimwig kratzte wütend mit dem Schürhacken, den er vom Ofen gerissen, in der Kohlenglut herum.
»Er war ein liebes, dankbares, freundliches Kind, Sir,« fuhr Mr. Bedwin entrüstet auf. »Ich kenne mich in Kindern aus. Ich habe sie vierzig Jahre lang um mich gehabt. Leute, die das nicht von sich sagen können, sollten sich gefälligst jedes Urteils enthalten; das ist meine Meinung.«
Das war ein strenger Verweis für Mr. Grimwig und eine höhnische Anspielung auf seinen Stand als Junggeselle, da ihm aber die Worte nur ein Lächeln[128] entlockten, warf die alte Dame den Kopf zurück und strich sich die Schürze glatt als Vorbereitung zu einer neuerlichen ausführlichen Rede.
»Ruhig jetzt,« schalt Mr. Brownlow, sich auf den Ärgerlichen spielend; »ich will den Namen des Jungen nie wieder hören; ich habe Sie heraufkommen lassen, um Ihnen das mitzuteilen; hören Sie: niemals. Und was auch immer geschehen möge. Sie können jetzt wieder hinuntergehen, Mrs. Bedwin, und merken Sie sich, was ich Ihnen gesagt habe. Es ist mir heiliger Ernst.«
An diesem Abend gab es in Mr. Brownlows Haus nur traurige Herzen.
Es war gut für Oliver, daß er nicht wußte, was man seinem Wohltäter über ihn erzählt, sonst würde ihm wahrscheinlich sein kleines Herz gebrochen sein.
Buchempfehlung
Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.
32 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro