[360] Als die Lehrerwitwe eilig in einem Wagen nach Pawlowsk gefahren war, hatte sie sich direkt zu der durch die Ereignisse des vorhergehenden Tages sehr ergriffenen Darja Alexejewna begeben, ihr alles erzählt, was sie wußte, und dadurch deren Angst noch erhöht. Die beiden Damen hatten dann beschlossen, mit dem ebenfalls sehr aufgeregten Lebedjew in Verbindung zu treten, weil dieser mit seinem Mieter befreundet und der Hauswirt sei. Wjera Lebedjewa hatte alles mitgeteilt, was sie wußte. Auf Lebedjews Rat hatten sie sich dann dafür entschieden, alle drei nach Petersburg zu fahren, um aufs schnellste das zu verhüten, »was sehr leicht geschehen könnte«. So war es gekommen, daß bereits am andern Vormittag gegen elf Uhr Rogoschins Wohnung von der Polizei in Gegenwart Lebedjews, der Damen und des Bruders von Rogoschin, Semjon Semjonowitsch Rogoschins, der im Nebengebäude wohnte, geöffnet wurde. Zu diesem Vorgehen hatte besonders auch die Angabe des Hausknechts mitgewirkt, er habe am Abend des vorhergehenden Tages Parfen Semjonowitsch mit einem Gast von der Haupttür ganz leise hereinkommen sehen. In folge dieser Angabe trug man keine Bedenken, die Tür, die auf Klingeln nicht geöffnet wurde, zu erbrechen. Rogoschin lag zwei Monate an Gehirnentzündung krank, und als er genesen war, folgte die Untersuchung und die Gerichtsverhandlung. Er gab über alles unumwundene, genaue und völlig befriedigende Auskunft, so daß von einer Hinzuziehung des Fürsten zu dem Gerichtsverfahren von vornherein abgesehen werden[360] konnte. Rogoschin zeigte sich bei seinem Prozeß schweigsam. Er widersprach seinem geschickten, beredten Verteidiger nicht, der klar und logisch bewies, daß das begangene Verbrechen eine Folge der Gehirnentzündung sei, die infolge der von dem Angeklagten erlittenen Unbilden schon lange vorher begonnen habe sich herauszubilden. Aber er fügte aus sich nichts zur Bekräftigung dieser Ansicht hinzu und bestätigte und erwähnte wie bisher klar und deutlich alle, auch die kleinsten Umstände des stattgefundenen Ereignisses. Er wurde unter Zubilligung mildernder Umstände zu fünfzehnjähriger Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und hörte sein Urteil finster, schweigend und »nachdenklich« an. Sein ganzes gewaltiges Vermögen, außer dem verhältnismäßig sehr geringen Teil, den er zu Anfang durch Schlemmerei vergeudet hatte, ging auf seinen Bruder Semjon Semjonowitsch zu dessen großer Befriedigung über. Die alte Frau Rogoschina lebt noch und scheint sich manchmal an ihren Lieblingssohn Parfen zu erinnern, aber nicht deutlich: Gott hat ihren Geist und ihr Herz vor der Erkenntnis des schrecklichen Verhängnisses bewahrt, von dem ihr unglückliches Haus heimgesucht worden ist. Lebedjew, Keller, Ganja, Ptizyn und viele andere Personen unserer Erzählung leben wie früher und haben sich wenig verändert, so daß wir fast nichts über sie mitzuteilen haben. Ippolit starb in schrecklicher Aufregung und etwas früher, als er erwartet hatte, etwa zwei Wochen nach Nastasja Filippownas Tod. Kolja war von allem Geschehenen tief erschüttert; er schloß sich seitdem eng an seine Mutter an. Nina Alexandrowna ist nicht frei von Sorge um ihn, da er über seine Jahre hinaus nachdenklich ist; er wird vielleicht einmal ein tüchtiger Geschäftsmann werden. Unter anderm ist großenteils durch seine Bemühungen auch das weitere Schicksal des Fürsten geordnet worden: schon lange hatte er unter allen Personen, mit denen er in der letzten Zeit bekannt geworden war, Jewgeni Pawlowitsch Radomski besonders schätzen[361] gelernt; er ging aus eigener Initiative zu ihm, teilte ihm alle ihm bekannten Einzelheiten des stattgefundenen Ereignisses mit und sprach mit ihm über die derzeitige Lage des Fürsten. Er hatte sich nicht geirrt: Jewgeni Pawlowitsch nahm selbst warmen Anteil an dem Schicksal des unglücklichen »Idioten«, und durch seine Bemühungen und seine Fürsorge gelangte der Fürst wieder ins Ausland, nach der Schweiz, in das Schneidersche Institut. Jewgeni Pawlowitsch selbst ist ins Ausland gereist, beabsichtigt in Westeuropa sehr lange zu bleiben und nennt sich selbst mit völliger Aufrichtigkeit einen in Rußland ganz überflüssigen Menschen; ziemlich oft, mindestens alle paar Monate einmal, besucht er seinen kranken Freund bei Schneider; aber Schneider macht ein immer finstereres Gesicht und schüttelt den Kopf; er deutet an, daß die geistigen Organe völlig zerrüttet seien; er spricht noch nicht positiv von Unheilbarkeit, bedient sich aber sehr trauriger Wendungen. Jewgeni Pawlowitsch nimmt sich das sehr zu Herzen, und er hat ein Herz, was er schon dadurch bewiesen hat, daß er von Kolja Briefe empfängt und sogar manchmal auf diese Briefe antwortet. Aber außerdem ist uns auch noch ein merkwürdiger Charakterzug an ihm bekannt geworden, und da dies ein guter Charakterzug ist, so wollen wir uns beeilen, ihn mitzuteilen: nach jedem Besuch des Schneiderschen Instituts schickt Jewgeni Pawlowitsch außer an Kolja auch noch an eine andere Person in Petersburg einen Brief mit einer sehr eingehenden, teilnahmsvollen Darstellung des Krankheitszustandes des Fürsten im vorliegenden Augenblick. Außer den respektvollsten Versicherungen von Ergebenheit beginnen in diesen Briefen manchmal (und zwar mit zunehmender Häufigkeit) offenherzige Darlegungen von Ansichten, Anschauungen und Empfindungen eine Stelle zu finden, kurz es entwickelt sich da etwas, was mit freundschaftlichen, herzlichen Gefühlen Ähnlichkeit hat. Diese Person, die in einem wenn auch nur ziemlich seltenen Briefwechsel mit Jewgeni Pawlowitsch[362] steht und in so hohem Grad seine Aufmerksamkeit und Hochachtung genießt, ist Wjera Lebedjewa. Wir haben nicht mit Sicherheit in Erfahrung zu bringen vermocht, auf welche Weise solche Beziehungen haben entstehen können; aber gewiß verdanken sie ihren Ursprung eben diesem Begebnis mit dem Fürsten, als Wjera Lebedjewa von dem Kummer darüber dermaßen erschüttert war, daß sie sogar krank wurde; aber wie im einzelnen sich die Bekanntschaft und Freundschaft bildete, das ist uns unbekannt. Erwähnt haben wir diese Briefe besonders im Hinblick darauf, daß in manchen von ihnen Nachrichten über die Familie Jepantschin und namentlich über Aglaja Iwanowna Jepantschina enthalten waren. Über die letztere teilte Jewgeni Pawlowitsch in einem ziemlich verworrenen Brief aus Paris mit, daß sie nach einem kurzen, aber sehr leidenschaftlichen Attachement an einen Emigranten, einen polnischen Grafen, diesen plötzlich gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet habe; wenn diese auch schließlich ihre Einwilligung gegeben hätten, so hätten sie es doch nur deshalb getan, weil die Sache gedroht habe, sich zu einem schrecklichen Skandal zu entwickeln. Dann, nach einem fast halbjährigen Stillschweigen, teilte Jewgeni Pawlowitsch, wieder in einem langen, ausführlichen Brief, mit, daß er bei dem letzten Besuch, den er dem Professor Schneider in der Schweiz gemacht habe, bei ihm mit der ganzen Familie Jepantschin zusammengetroffen sei (natürlich mit Ausnahme von Iwan Fjodorowitsch, der wegen seiner Geschäfte in Petersburg geblieben war), sowie mit dem Fürsten Schtsch. Es war ein seltsames Wiedersehen; sie begrüßten Jewgeni Pawlowitsch alle mit einer Art von Entzücken; Adelaida und Alexandra glaubten aus nicht recht verständlichem Grund ihm sogar dankbar sein zu müssen für seine »engelhafte Fürsorge für den unglücklichen Fürsten«. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten in seinem kranken, kläglichen Zustand erblickte, weinte sie von Herzen. Es schien, daß ihm alles schon verziehen sei.[363] Fürst Schtsch. sprach bei diesem Anlaß einige sehr treffende, verständige Gemeinplätze aus. Jewgeni Pawlowitsch hatte den Eindruck, daß Fürst Schtsch. und Adelaida sich noch nicht vollständig ineinander eingelebt hätten; aber für die Zukunft schien es unvermeidlich, daß die feurige Adelaida sich durchaus gutwillig und von ganzem Herzen dem Verstand und der gereiften Erfahrung des Fürsten Schtsch. unterordnen werde. Die ernsten Lehren, die die Familie empfangen hatte, hatten stark auf dieselbe gewirkt, und namentlich der letzte Fall mit Aglaja und dem gräflichen Emigranten. Alle Befürchtungen, die die Familie gehegt hatte, als sie diesem Grafen Aglaja überließ, hatten sich bereits ein halbes Jahr darauf verwirklicht, und es waren noch unangenehme Überraschungen hinzugekommen, an die kein Mensch vorher gedacht hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß dieser Graf gar nicht einmal ein Graf war, und mochte er auch tatsächlich ein Emigrant sein, so hing damit doch eine dunkle, zweideutige Geschichte zusammen. Gefesselt hatte er Aglaja durch den hohen Edelmut seiner von Trauer über das Vaterland zerrissenen Seele, und zwar hatte er sie dermaßen gefesselt, daß sie noch vor ihrer Verheiratung Mitglied eines ausländischen Komitees zur Wiederherstellung Polens und außerdem das Beichtkind eines berühmten römisch-katholischen Paters wurde, der ihren Verstand ganz in Banden geschlagen und sie zu seiner fanatischen Anhängerin gemacht hatte. Das kolossale Vermögen des Grafen, von dem er Lisaweta Prokofjewna und dem Fürsten Schtsch. beinah unwiderlegliche Beweise beigebracht hatte, stellte sich als gar nicht existierend heraus. Und nicht genug damit: ein halbes Jahr nach der Eheschließung hatten der Graf und sein Freund, der berühmte Beichtvater, es schon fertiggebracht, Aglaja mit ihrer Familie gänzlich zu veruneinigen, so daß diese sie schon seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen hatte ... Mit einem Wort, es wäre viel zu erzählen gewesen; aber Lisaweta Prokofjewna,[364] ihre Töchter und selbst Fürst Schtsch. waren von all diesen schrecklichen Ereignissen so ergriffen, daß sie sich sogar fürchteten, manche Dinge im Gespräch mit Jewgeni Pawlowitsch überhaupt nur zu erwähnen, wiewohl sie wußten, daß er auch aus anderer Quelle über Aglajas letzte Schwärmerei gut unterrichtet war. Die arme Lisaweta Prokofjewna sehnte sich nach Rußland zurück und kritisierte, wie Jewgeni Pawlowitsch bezeugte, im Gespräch mit ihm bitter und parteiisch das ganze Ausland: »Nirgends verstehen sie ordentlich Brot zu backen, und im Winter frieren sie wie die Mäuse im Keller«, sagte sie. »Wenigstens habe ich hier über diesen Armen auf russische Art weinen können«, fügte sie hinzu, indem sie aufgeregt auf den Fürsten zeigte, der sie überhaupt nicht erkannt hatte. »Nun haben wir uns genug durch Schwärmereien fortreißen lassen; es wird Zeit, daß wir auch auf die Stimme der Vernunft hören. Und all das, dieses ganze Ausland und dieses euer ganzes Westeuropa, das ist alles nur hohles Scheinwesen, und wir selbst sind im Ausland nur hohle Scheinwesen ... denken Sie an mein Wort; Sie werden selbst sehen, daß es so ist!« schloß sie ordentlich zornig, als sie von Jewgeni Pawlowitsch Abschied nahm.
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