Fünfter Auftritt.

[17] Madame Welldorf. Luise. Dann Eduard.


LUISE froh hereineilend. Denken Sie, denken Sie Sich! Ich hatt' ihn doch kaum erst genannt, war doch kaum erst um ihn besorgt gewesen; und da ich hinaustrete – – Sich umsehend. Aber wo bleibt er denn nun? – Ach, er ist so in sich gekehrt und so schüchtern. – Die offne Thüre haltend. Komm! komm, Eduard! komm!

MADAME WELLDORF wie erschrocken. Dein Bruder?

LUISE. Da ist er! – Ja, er lebt, und besucht uns. Freuen Sie Sich mit[17] mir! – Er kömmt mit eben den Wenigen, die uns gestern angesagt wurden. Er wird hier Rasttag halten.

MADAME WELLDORF auf ihn zufliehend. Eduard – darf ich's glauben? – Mein Sohn! –

LUISE. Ich war erst auch ganz betroffen. Ich hatte noch meinen Vater im Sinne, und machte mir – ich weiss nicht, was für Gedanken. Aber da er mir näher trat – da er meine Hand fasste, und mich bei Namen nannte – –

MADAME WELLDORF ihm haltend. So bist du's? So muss ich dich nach Jahren der Trennung, der Unruhe – muss dich in so einem Augenblicke – – Gott, wie fremd ist mir das! Ich hatte an Glück und an Freude auch keinen Gedanken; und nun – – Indem er sich ihr entwindet. Aber was ist dir? Du fliehst mich?

EDUARD. So mich aufzunehmen! Mit so viel Liebe![18]

MADAME WELLDORF ihm nach. Mein Sohn –

EDUARD. Einen Undankbaren – Entlaufnen – einen Elenden, der alle Rechte des Sohns verwirkt hat, und der in dieser Gestalt – –

MADAME WELLDORF. Eduard – Welche Reden sind das! – – O nicht weiter in diesem Tone!

LUISE zuredend. Mein Bruder –

MADAME WELLDORF. Keine Rückblicke weiter! Es waren Unbesonnenheiten – jugendliche Verirrungen, die schon lange vergessen, die auf immer vergessen wurden.

EDUARD gen Himmel blickend. Nur nicht dort, meine Mutter – Und auf sein Herz deutend. nicht hier! – Und wenn auch Sie und mein Vater vergessen konnten – – An seine Kleider fassend, mit dumpfem Tone. Sehen Sie her! Dies erinnert![19]

MADAME WELLDORF. An dein Unglück, Eduard; woran sonst? – Hat dich dein freier Entschluss, oder hat dich das Elend deiner Gefangenschaft – –

EDUARD lebhaft. Nein, nur dies hat mich hingerissen; nur dies! – Ich halte die festesten, heiligsten Vorsätze gefasst. Ich hatte meinem Fürsten geschworen, und wollte kein Meineidiger werden; tausendmal eher mein Leben lassen. – Aber Hunger, Durst, Nacktheit – alles Unerträgliche, was Sie Sich denken können – –

MADAME WELLDORF gütig. Nun, so vergieb dir selbst; und sei ruhig!

EDUARD. Ruhig? Darf ich das, meine Mutter? – O ich hätte Fragen an Sie zu thun; Fragen – die ich zittre, über die Lippen zu bringen.

MADAME WELLDORF. Und welche? Sprich!

EDUARD. Ob mein unglücklicher,[20] mein so schändlich gemisshandelter Vater – denn ich weiss Alles, Alles was mit ihm vorging – ob er in der That vom Gefängnisse frei ist? ob Sie ihn wieder haben?

LUISE schnell. Dort schläft er! Es ist schon Wochen her, dass ich ihn freibat. – Der Hauptmann selbst, der die Aussicht über die Geissel hatte, ward das Werkzeug zu seiner Rettung – einer der edelsten, der vortrefflichsten Menschen!

EDUARD tief Athem schöpfend. Nun, wohl! So hätt' ich denn doch Eins von der Seele! – Wie hat mich die Nachricht von seiner Verhaftung gemartert! – – Aber an dieser Nachricht hing eine noch andre. Sein Zustand?

MADAME WELLDORF ungern. Was soll ich dir antworten? Immer – immer noch –

EDUARD. Ohne Hoffnung. Nicht weit vom Tode. Ich weiss.[21]

LUISE. Wie? – Indem die Mutter die Achseln zuckt. Nein, ich bitte Sie, liebste Mutter: warum ihn in dieser Unruhe lassen? – Ohne Hoffnung ist der Vater doch nicht; nimmermehr! Er hat noch immer Kräfte, um wieder emporzukommen. Und was die Furcht betrifft, dass wir zum zweiten Mal ihn verlieren könnten – –

MADAME WELLDORF mit Wehmuth. Du baust so viel auf die Menschen!

EDUARD von einer auf die andere blickend. Was heisst dies?

LUISE. Eduard! Sei nur ganz ausser Sorgen! Die gute Mutter, weisst du, sieht oft zu weit, allzuweit. – Sie denkt, weil unser Vater doch nur auf Bedingung frei ward, und weil er sein Ehrenwort geben musste, nicht von hier zu entweichen –

EDUARD erschrocken. Wie?

LUISE. So denkt sie, werde man mit[22] den übrigen Geisseln vielleicht auch ihn – wenn etwa Befehl käme, sie weiter zu schaffen – –

EDUARD zurücktretend. Weiter zu schaffen? Luise!

LUISE. Kann dich das unruhig machen?

EDUARD. Ah! was du da sagst – wenn ich es mit den Anstalten, die man hier trifft, mit der Ängstlichkeit unsrer Mutter vergleiche – – Sich schnell gegen die Mutter wendend. Ich beschwöre Sie: sagen Sie mehr! Sagen Sie Alles! Erklären Sie mir diese Ihre Niedergeschlagenheit, Ihre Wehmuth! – Die Hand vor der Stirne. Ich fasse Gedanken, die – –

LUISE ängstlich. Was für Gedanken?

EDUARD. Ich sah den Marktplatz voll Menschen, und ein Wagen mit Wache hielt vor dem Gefängniss. Ich floh, um nicht erkannt zu werden, vorüber; denn[23] jedes stillstehende Kind sah mich an; aber ich hörte, däucht mir, von Festung, von Wegführen, von Unsicherheit dieser Gränze murmeln. – Und nun – man sollte mir meinen todtkranken Vater – sollt' ihn von seinem Sterbebette – – Ich schaudre!

LUISE starr auf die Mutter sehend. Wie?

MADAME WELLDORF. Wenn du Ursache hättest zu fürchten!

EDUARD schnell und heftig. Ha! – So errieth ich's? So soll er fort?

LUISE ausser sich. Meine Mutter!

EDUARD. Um Gotteswillen! – Und das jetzt in dem Augenblick, da ich hier ankomme? vor meinen Augen?

MADAME WELLDORF zuredend. Eduard –

LUISE. Nein, wie ist dies? wie ist dies? – Indem sich Eduard voll Verzweiflung an einen Tisch wirft. So sehr ich von Sinnen bin, so seh' ich doch, dass Sie mir[24] das nicht hätten verbergen können; unmöglich! – Schon die Anstalten, sagt Eduard? Schon ein Wagen vor dem Gefängniss? – Und Sie wissen, dass man auch meinen Vater –? –

MADAME WELLDORF. Es wissen! – Würd' ich geschwiegen haben, wenn ich es wüsste? Würd' ich nicht das erste heftigste Schrecken haben verhindern wollen? – Aber eben weil ich noch ungewiss bin; weil ich nur Alles noch von Sophien habe –

LUISE. Von ihr? –

MADAME WELLDORF. Und weil auch die nur noch muthmasste, nur Argwohn schöpfte – –

LUISE immer dringender. Also doch keine Ankündigung? keine Aufforderung sich bereit zu halten?

MADAME WELLDORF. Keine. Keine. – Sie von sich wegdrückend. Ich bitte dich:[25] lass mich zu mir kommen, und lass mich mit deinem Bruder reden! Wenn ich ängstlich war, so war ich es mehr um deinet – als deines Vaters willen. Ich habe Hoffnung für ihn, die beste Hoffnung. – Und wenn er mich wirklich Gefahr liefe – – Indem sie sich gegen den Sohn wendet. Eduard! Auf den möglichen Fall, dass er sie liefe; – – Sollt' es nicht Schickung von Gott seyn, dass du hier ankamst? Sollten wir nicht gegen alle Besorgniss eben durch dich gedeckt seyn?

EDUARD mit Wildheit aufspringend. Durch mich? Durch mich?

LUISE. Durch Eduard? Sie glauben, dass wenn er ginge – –

MADAME WELLDORF. Dass er Alles, selbst das Schrecken, verhindern könnte. Ich liess in meiner Verlegenheit schon unsern Freund, unsern Arzt entbieten.[26]

LUISE. Und der? –

MADAME WELLDORF. Ich wusste niemand, an den ich mich wenden konnte; als ihn; aber nun denk' ich, wenn lieber Eduard spräche, wenn ein Sohn spräche, der selbst in Dienst ist und der es Jahre lang ist. – – Ihm nach, indem er in Unordnung umhergeht. O aber du hörst nicht. Du überlässt dich ganz deiner Verzweiflung. – Eduard! Wer verzweifelt, bleibt hülflos. – Und steht's denn schon so schrecklich mit deinem Vater? Kann nicht eben dein Unglück ihm vielleicht noch zur Rettung werden?

EDUARD. Mein Unglück? Ihm mein Unglück zur Rettung?

MADAME WELLDORF bittend. Fasse dich nur! –

EDUARD. Bei Gott! Sie könnten mich lehren, dass ich es liebte! – Aber wie, wie zur Rettung?[27]

MADAME WELLDORF. Du müsstest hingehen, mein' ich; müsstest einen Versuch wagen – –

EDUARD. Wie mir Wunder gelängen? Wie ich Menschen zum Mitleiden rührte, bei denen es Tugend ist, keine Seele und kein Gefühl zu haben? Menschen, die, wenn sie einmal Befehl sehn – –

LUISE zur Mutter. Aber ist es denn – ist es wirklich Befehl?

MADAME WELLDORF nicht ohne Unmuth. Und weiss ich's? Bin ich nicht noch völlig im Dunkeln? – Doch gesetzt, dass es so wäre – –

EDUARD heftig. Dann! – dann! –

MADAME WELLDORF. Blieben nicht Auswege übrig? Hat ein Unglücklicher, hat ein Sterbender keine Rechte? Käm' es hier nicht bloss auf Bericht an, und auf Bericht der Wahrheit, der reinen Wahrheit?[28] – Doch vielleicht auch, dass Alles im Grunde nichts ist, dass man nur einen letzten Versuch macht, die Geissel zur Einwilligung zu bewegen. Man hat ja schon öfter geschreckt.

EDUARD aufhorchend. Schon öfter?

MADAME WELLDORF. Und mit Drohungen! mit so fürchterlichen, als ob man sie auf der Stelle vollziehen wollte. – Gewiss, es ist auch jetzt wieder Drohung. Oder, wenn man auch mit den Übrigen Ernst machte und sie von hier schaffte –

EDUARD. Ach! dies Einzige – diese aufdämmernde Möglichkeit, dass es vorübergehe – – Sich zusammenraffend. Ich habe hier keine Geduld länger. Ich muss Gewissheit haben.

MADAME WELLDORF. Eduard! – Und wenn du Absichten merktest; wenn wirklich dein Vater Gefahr liefe – –

EDUARD. Was dann? Was soll ich?[29]

MADAME WELLDORF. Nicht an Rettung verzweifeln. Einen Versuch machen, was deine Bitten – –

EDUARD. O Gott! – Lieber, was meine Raserei, meine Wuth vermögte! – Aber ja! ja, meine Mutier! ich will. Wenn ich noch Möglichkeit sehe; so will ich kriechen, betteln, zu Füssen fallen, Alles thun, was ich für mich nicht thäte, und hätt, ich ein tausendfaches Leben zu retten. Für ihn – ah! da will ich! da muss ich! Ab.


Quelle:
J[ohann] J[akob] Engel: Eid und Pflicht. Berlin 1803, S. 17-30.
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