2. Szene

[235] Vorige, der sehende Wächter.

Der sehende Wächter kommt von rechts hinten und bleibt tief geneigt oben an der Türe stehen.


DER FREMDE. Was bringst du mir?

DER SEHENDE WÄCHTER. Mein Herr entsendet mich ...

DER FREMDE. Wer ist dein Herr?

DER SEHENDE WÄCHTER sehr erstaunt. Der Herr des Landes ... Belian ... der König, in dessen Burg du weilst ... in dessen Macht wir alle stehen ...

DER FREMDE ruhig. Alle ...? Wir ...? Ich komme weit her des Landes ... und ich gehe weit und steh' in keines Königs Macht.

DER SEHENDE WÄCHTER rasch näher. O, Herr! Dann laß mich mit dir gehen ...!

DER FREMDE. Sag' deinen Auftrag, du Knabe.

DER SEHENDE WÄCHTER. Wie es Sitte ist, zur Nacht soll dich ein Mahl empfangen. Näher. Herr, es ist dein letztes Mahl ...!

DER FREMDE. Hast du auch das zu sagen?

DER SEHENDE WÄCHTER. Schon viele kamen ... keinen sah ich ziehn ... Im Turme aber.. Herr, du weißt es nicht, was dir verhängt ist ...

DER FREMDE. Keiner wußte das, solang' es Menschen gibt. Ein jeder ist sich selber nur verhängt.

DER WAFFENMEISTER. O, laß dich warnen ...[235]

DER FREMDE. Sag' deinem Herrn, ich komme.


Der Wächter hat den Speer des Fremden an der Wand lehnend erblickt und sieht wie gebannt hin.


DER FREMDE. Was ist noch?

DER SEHENDE WÄCHTER. Ist das dein Speer?

DER FREMDE. Ei wohl. Gefällt er dir? Ein braver Schaft, ein wenig derb. Du führst noch keinen Speer?

DER SEHENDE WÄCHTER immer hinsehend. Nein ...

DER FREMDE nimmt den Speer. Holz aus, fernem Wald ... Bedächtig hat des Nordens kühle Sonne der Heimaterde Kraft in dich gesogen, dich zögernd wachsen heißen, hart und schwer ... Ihr fechtet hier mit flinkem Waffen?

DER SEHENDE WÄCHTER wie oben. Laß mich seine Spitze sehen, Herr ...

DER FREMDE. Sie ist ein Eisen, grob und schlicht.

DER SEHENDE WÄCHTER nimmt die Speerspitze in beide Hände. Du heiliger Stahl.. Du glühender ... Du hast den Stern getragen, der aus der Krone fiel. Du hast die Welt von einem Alp befreit, Gesegneter! Du Speer des Lichts ... Du Sonnenpfeil ... Du Strahl des einen, ersten Tages ...!


Er küßt die Spitze und geht schnell ab nach rechts.


Quelle:
Bruno Ertler: Dramatische Werke. Wien 1957, S. 235-236.
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