Erstes Gespräch.

[331] Michel: Herrliche Herbsttage das! Noch glaubte man kaum, daß es schon November sei, wenn man nicht auch dich, den sicheren Wintervogel, wieder kommen sähe. Aber[331] das, Vetter, das war ein trauriger Sommer! Ich hätte nicht mehr geglaubt, daß du meinen Ältesten noch einmal sehen würdest. Man kann sich wohl kaum vorstellen, wie mir ward, als ich in der Zeitung las, wie jetzt die Rosse mehr wert seien als die Menschen. Es war furchtbar!

Lehrer: Es war wie immer, wenn von einem oder einigen ein Zweck verfolgt wird und die Mittel, die Werkzeuge, nur so viel gelten, als sie zur Erreichung dieses ihres Zweckes wert sind. Da kann es einem gar oft begegnen, daß man weniger als ein Tier, ja weniger als eine Maschine geschätzt und auch danach behandelt wird.

M.: Ja, ja, der Krieg ist das allerschrecklichste.

L.: Und doch muß man ihn, wie die Welt nun einmal ist, ein notwendiges Übel nennen. M.: Geht denn Macht vor Recht?

L.: Ja. –

M.: Mensch – Kerl – und dich läßt man noch Lehrer sein?

L.: Nur ruhig! In unseren Schulen haben wir nichts mit der Gegenwart, ihren Schlagwörtern und Forderungen zu tun. Wir haben ja von Abraham und Isaak und ähnlichen Helden der guten alten Zeit vorzutragen; jener Zeit, da der Mensch noch Gut und Blut einsetzte für seine Überzeugung. Damals war das Recht Macht, wie die Lebensgeschichte vieler beweist; heutzutage aber gleicht das Recht fast der von den einen heiß, den andern kalt gedachten Sonne hoch oben am oft bewölkten Himmel. Die armen Menschlein sitzen auf einem Hügel und warten auf ihre Strahlen, die sie ein wenig erwärmen und die Früchte an den Bäumen neben ihnen reif machen sollen.

M.: Es gibt aber doch ein göttliches Recht, ein Gewissen, dessen Sprache –

L.: Dessen Sprache in den Söhnen Jakobs und den[332] Schülern des Sokrates, im Chinesen und im Europäer, im Richter am Scheiterhaufen der verurteilten Hexe und in einem Kinde des 19. Jahrhunderts eine sehr, sehr ungleiche sein muß. Ein deutscher Dichter sagt: »Wie einer ist, so ist sein Gott,« und noch immer hat dieses Wort sich bestätigt. Darum bei den freien Völkern anfangs überall Vielgötterei. Auch später noch verehrte man höhere, aber doch dem Allgeist untergeordnete Wesen und suchte durch sie sich ihm näher zu bringen.

M.: Hoch hinaus – zerstört das Haus!

L.: Ich bin schon wieder bei dir; wie mit dem Begriffe von Gott, so mußte es mit dem Gewissen sein, so auch mit dem, was im gewöhnlichen Leben Recht oder Unrecht heißt.

M.: Es gäbe nach, diesem für jeden andere Rechte?

L.: Rechte? Nein! Ich möchte sagen, es gibt nur ein Recht für alle wie nur einen Gott. Aber wie die vielen herrlichen Eigenschaften des Unendlichen von jedem nur zum kleinsten Teile geahnt werden, wie wir diese gleichsam unter uns teilen und doch täglich die wohltätige Wirkung aller empfinden, ähnlich ist es oder sollte es doch sein mit dem durch, das Gesetz, gegebenen Recht. Das Gesetz ist ein Kompromiß, eine Vereinbarung, oder wie ein neuerer Schriftsteller sagt: der Ausdruck der innerhalb einer gesellschaftlichen Verbindung (Staat) bestehenden Machtverhältnisse. Zuerst war der mächtige Krieger, waren die Fürsten und ihre Helfershelfer die Gesetzgeber, dann wurde auch Wissenschaft Macht, und als später mit dem Fortschritte der Bildung und dem Wachsen der Macht des Menschen über die Naturkräfte der Bürger zum Wohlstand kam und vergesellschaftungsfähig wurde, mußte auch dieser bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Nur das Verkennen dieses Gesetzes, das wie ein Naturgesetz wirkt, hat die neuen,[333] flüssigen Elemente bis zur Revolution des Jahres 1789 aufgehalten. Seitdem hat keine Gesetzgebung über die an den Errungenschaften der Zivilisation teilnehmenden Völker ohne wenigstens scheinbare Berücksichtigung dieses dritten Standes für die Dauer bestehen können.

M.: Nun endlich kommst du mir doch recht. Es wäre mir schon fast zu langweilig worden, so vor dir dazustehen wie s. Zt. in der Schrift »Der Liberale und der Katholik« der erstere vor letzterem. Du weißt, ich nehme an den Bestrebungen der Liberalen nach Kräften Anteil und lerne aus ihren Blättern, soviel ich kann. Ich muß gestehen, daß mir jener Liberale denn doch etwas zu hölzern vorkommen wollte.

L.: Nun gut, so mache du es besser.

M.: Das will und werde ich. Du willst, wenn ich dich recht verstand, mir beweisen, daß der Rechtszustand einer gesellschaftlichen Verbindung immer das Resultat ihrer Geschichte oder der Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse sei. Allerdings ist es richtig, daß die französische Revolution die von der fortgeschrittenen Nation als vernunftwidrig erkannten Privilegien für ungültig erklärte; ja wenn man nur wenige Jahrhunderte weiter zurücksähe, so müßte man dir wohl recht lassen mit deiner Behauptung, daß jedes Recht ein geschichtliches, ein errungenes sei. Aber man weiß, daß es zu allen Zeiten und unter allen Völkern Männer gegeben hat, die mit Erfolg für das kämpften, was eigentlich, auch der Grundgedanke der französischen Revolution war. Griechen und Römer beweisen uns, wie wenig wir lernen, beweisen, daß das Recht des Volkes ein ewiges, daß das Bewußtwerden nicht von gewissen geschichtlichen Erscheinungen abhängig ist. Der Preis der französischen Revolution war nur das, was höher gebildete Völker schon im grauen Altertum beinahe am[334] Anfang aller Geschichte ihr Eigentum, ihr Recht genannt hatten.

L.: Ich wünschte, daß du das ein wenig unbestimmte Wort »Volk« nicht so oft gebrauchtest.

M.: Warum nennst du es ein unbestimmtes?

L.: Weil es je nach, dem Standpunkt desjenigen, der es gebraucht, eine sehr ungleiche Bedeutung hat. Wenn deine gepriesenen Alten vom Volke redeten, so dachten sie dabei nicht an die vielen tausend Sklaven, die ihnen zum Wohlstand verhalfen und es ihnen dadurch möglich machten, sich mit andern Angelegenheiten zu beschäftigen. Es gehörten also viele Tausende nicht zum Volke. Ja, du kannst die Volksstaaten des Altertums oder des Mittelalters, kurz alle uns geschichtlich bekannten derartigen Erscheinungen auch bei den sog. fortgeschrittensten Völkern ins Auge fassen, immer und überall, von Salomon herauf bis ins 18. Jahrhundert wirst du finden, daß die ausgedehnte Rechtsstellung des einzelnen, die Grundlage freier Verfügung des Volkes über seine Angelegenheiten, nicht als ein dem Menschen als solchem zustehendes Recht betrachtet wurde, sondern lediglich bloß als eine ihm zufällig, vermöge seiner Eigenschaft als Mitglied der fraglichen Staatsbürgerschaft zustehende Befugnis, als das Privilegium einer bestimmten Klasse. Die der Verfassung von 1791 vorausgeschickten, bereits 1789 beratenen und beschlossenen »Menschenrechte« aber verkünden:

Die Menschen werden frei und gleich zu Rechten geboren und bleiben es; die gesellschaftlichen Auszeichnungen können bloß auf die gemeine Nützlichkeit gegründet sein.

M.: »Und dann?« Pflegen die Jesuiten zu fragen.

L.: Dann kamen furchtbare Tage. Die plötzlich und zum großen Teil ohne eigenes Verdienst Entfesselten waren[335] einer Zeit, wo jeder entweder Hammer oder Amboß sein mußte, noch zu nahe, als daß nicht ein Schatten davon, ja ich darf wohl sagen das furchtbarste Dunkel auf sie hätte fallen müssen. Die Verkündigung der »Menschenrechte« war eine Folge des Zusammenwirkens aller lebensfähigen Elemente der Nation gewesen; als aber die Klassen wieder zum Bewußtwerden noch fortbestehender gesellschaftlicher Gegensätze gedrängt wurden, da kam die durch Kapital und Bildung mächtigste Klasse, die Bourgeoisie, gar bald wieder oben auf und vergebens forderte später die Bevölkerung der Vorstädte die Verfassung von 1793 wieder zurück. Immer aber sind seit jener Zeit die, welche die wahre Wohlfahrt der Gesellschaft anstrebten, auf die dem Menschen als solchem gebührenden Rechte zurückgegangen.

M.: So wäre denn nach diesem das Wort Volk doch nicht mehr gar so unbestimmt.

L.: Nach diesem wäre es wohl bestimmt, aber bald nach diesem wurde es wieder sehr unbestimmt, denn die Zeit war wohl groß, aber die Menschen klein und auf den die anderen Überragenden blieb liegen, was nur von allen getragen werden konnte. Darum ist denn auch, das Wort Volk ein unbestimmtes geblieben und wird es zum Unheil der Menschheit bleiben, so lange jene gesellschaftlichen Gegensätze fortbestehen. Der der Klasse der Bourgeoisie Angehörende denkt sich, wenn er mit Fräulein Tochter und einigen guten Freunden vom Volke redet, ganz etwas anderes als da, wo er sich, als sein Repräsentant gebärdet. Mir kommt die Geschichte, d.h. diese Ordnung, fast vor wie eine Haushaltung, die zwar von außen als ein Einiges angesehen wird, in der aber jedes Glied seine eigene Rechnung macht und keines dem andern recht traut.

M.: So ein Hauswesen wird sich aber auch nach außen den Schein der Sicherheit und Festigkeit nicht lange wahren[336] können, da es ja rasch, dem nicht mehr zu verbergenden Verfall entgegengetrieben werden muß.

L.: Das glaub' ich auch.

M.: Ich habe dir aber die Nichtigkeit deines Vergleiches noch nicht zugestanden.

L.: Warum nicht?

M.: Des Bürgerstandes bevorzugte Stellung entstammt wohl weniger der Unterdrückung des sog. gemeinen Mannes als der Macht höherer Bildung, die jedem Anerkennung und Achtung abnötigt, wenn er sich auch noch so sehr dagegen wehrte. Das Volk findet sich jetzt allerdings zum großen und größten Teil im Bürgerstande, doch kann ich das, die vielen Kenntnisse berücksichtigend, die zu erwerben ihm möglich und von seiner gesellschaftlichen Stellung geradezu geboten war, nur ganz in der Ordnung finden. Die Leute hier herum sind mit ihren eigenen Angelegenheiten derart beschäftigt und überladen, daß sie froh sein müssen, wenn sie sich nicht auch noch mit den ihnen weniger wichtigen des Staates zu befassen haben, zumal sie letztere getrost denen überlassen dürfen, die, wie gesagt, am meisten Gelegenheit und Veranlassung haben, sich dazu gehörig vorzubereiten.

L.: Mit dem zuletzt Gesagten bin ich so ziemlich einverstanden. Doch sage mir schnell: Gibt es für den Menschen, dieses vergesellschaftungsfähige und -bedürftige Wesen, wichtigere Angelegenheiten, als die des Staates? Wozu wären denn je Menschen in einer gesellschaftlichen Verbindung zusammengetreten und hätten derselben soviele ihrer persönlichen Freiheiten zum Opfer gebracht, als um vereint zu erreichen, was dem und den einzelnen zu erreichen rein unmöglich war? Du wirst doch etwas höher hinauswollen, als jenes Bäuerlein, welches behauptete, daß unser Staat immer in Wien drunten sei.[337]

M.: Du hast eigentlich recht. Der Staat, d.h. seine Beamten und Diener sind es, die dem einzelnen sein Eigentum schützen, die Gewerbe sichern und überhaupt die Ordnung aufrecht erhalten müssen.

L.: Nein, Vetter Michel, der Staat ist nicht nur so ein Polizei-Institut. Erniedrige nicht dich selbst, indem du so klein denkst von der Verbindung, zu der auch du gehörst; Bauer, werde mir nicht zu verbauert! Vergleiche die Verbindung, in der die größten und kühnsten Gedanken der Besten und Tüchtigsten, von der Kraft aller unterstützt, sich verwirklichen oder doch verwirklichen sollten, nicht mit deinem Kuhstall, in dem die vom Zufall zusammengetriebenen Kühe vor Kälte und Nässe geschützt werden.

M.: Ich hätte vom Staat schon auch noch mehr zu sagen gehabt, denn ich weiß wohl, daß die Teilung der Arbeit, durch die eigentlich der Mensch zum Menschen wurde, nur im Staate möglich war. Die Teilung der Arbeit schritt sicher genau in dem Maße fort, in welchem eine genügende Zahl Menschen, einen Teil ihrer Freiheiten opfernd, sich dem aus der Sorge für das Gemeinwohl erwachsenden Rechtszustande unterordneten. So war z.B. wohl eines der größten Hindernisse bei der Teilung der Arbeit die Schwierigkeit, Ortsveränderungen vorzunehmen, daher war das Bedürfnis der Wege eines der frühesten. Zuerst bildete der Fußpfad das einzige Verbindungsmittel, dann, als die Landwirtschaft sich schon bedeutend entwickelt hatte, trat das Saumpferd an die Stelle des Menschen, dann gab es Straßen, Schiffe, Postanstalten und ein Verbindungsmittel folgte dem andern. Aber immer mehrere mußten sich vereinigen, teils um Kraft zu gewinnen, teils um der Selbstsucht der hiedurch Geschädigten mit Erfolg entgegentreten zu können. Auch hier war die Teilung der Arbeit vielleicht zwar zum Nachteil dieses oder[338] jenes einzelnen, aber sicher zum Wohle der Gesamtheit. Daher mußte diese oder ihre Diener überall befehlend auftreten, wo mit Vernunftgründen nichts auszurichten war. Später freilich wurden die gesundesten Körper stark genug, um auch die noch widerstrebenden schwächeren anzuziehen. Heute ist der Kleine im Großen da, durch ihn vertreten und trägt mit ihm Vor- und Nachteile gemeinsam. Daher ist wohl eine der wichtigsten Staatsangelegenheiten die Sorge für den Handelsstand, von dessen Macht oder Gebundenheit sowohl Konsumenten als Produzenten abhängig sind.

L.: Nur soll für den Handel so gesorgt werden, daß er dem Verkehr dient. Es soll gesorgt werden nicht besonders für einen Stand, sondern dafür, daß alle handeln und tauschen können, ohne sich ihre Werte erst vom allmächtigen Vermittler schaben zu lassen, wie der Bregenzerwälder den Vorgang sehr treffend bezeichnet. Mir kommt es überhaupt vor, einer unserer alten Sprüche sage auch mehr und Richtigeres vom Staat, als deine Auseinandersetzung gesagt hat, nämlich der:


Drei im Verein

sind mehr als zehn allein.1


M.: Und warum sollte diese Reder besser sein, als die meinige?

L.: Weil sie sich nicht bloß auf etwas Besonderes, nur gerade in unserer Zeit so sterk Hervortretendes bezieht. Im Verein mit verschiedenen Talenten und Fähigkeiten ist sogar der Schwächere etwas für sich und etwas für die andern. Das ist aber nicht immer so gewesen. Im Anfange war Kain und Abel, der Jäger und der[339] Ackerbauer. Jeder hatte den andern nötig, da ja der Bauer lange auf die Ernte warten mußte und auch der Jäger sicher nicht jeden Tag seine Beute heimbrachte. Später kam der Jäger als Krieger, als Eroberer und machte den Ackerbauern zu seinem Sklaven. Erst mit dem Wachsen der Macht des Menschen über die Natur und seiner Herrschaft über die Naturkraft verbesserte sich auch die Stellung des Schwächeren. Schwere Lasten hatte zuerst nur der Staat vom Platze zu bringen vermocht, Achse und Rad aber konnte auch der weniger Kräftige benützen, um nun noch viel größere Lasten vom Platze zu bringen. Kain mußte sich noch der Kraft fordernden Keule bedienen, David, der Knabe, hatte nur einen Kieselstein. So führte die Herrschaft des mit der Natur ringenden Menschen über ihre bereits eroberten Kräfte nach und nach zur Gleichheit des Schwachen und des Starken, wenn nicht einzelne die so gewonnene Macht für sich allein in Anspruch nahmen und sich nun doppelt und dreifach stark gegen die andern erhoben, und die Verbesserung der Werkzeuge erhöht den Wert des Menschen als eines denkenden Wesens, wenn diese Werkzeuge allen dienen, die ihrer bedürfen.. Das scheint mir in kurzem die Entwicklung und die Aufgabe der Menschheit zu sein, und wenn du nichts dagegen hast, so sage mir, was du hiezu, also für die Entwicklung der Geschichte der Menschheit zum Höchsten für das Nötigste halten würdest.

M.: Auf diese Frage bin ich wirklich nicht vorbereitet.

L.: Und doch hast du selbst es schon gesagt: Ein festes Zusammenstehen, ohne welches die zum Menschen machende Teilung der Arbeit rein unmöglich gewesen wäre.

M.: Nun hast du mir allerdings bewiesen, daß durch Entdeckungen und Erfindungen die Schwächeren und die[340] Starken sich gleicher stellten. Ich begreife auch, daß der erste Jäger, obwohl ihm gehörte, was seine Keule erreichte, ganz alleinstehend gedacht, nicht fortkommen konnte. Aber sage mir nun, was hat das alles mit unsern modernen Zuständen, mit unseren Staaten gemein, was beweist es für uns?

L.: Wenn wir nur noch in einer Klasse lebten und uns entwickelten, etwa in der der Handelsleute und Krämer, dann allerdings nicht mehr viel.

M.: Ich kann nicht begreifen, wie du gegen die, durch die die Gesellschaft besteht, warum du gegen den Handelsstand so abgeneigt sein kannst.

L.: Das bin ich nicht, nur möchte ich das Mittel nicht über den Zweck stellen.

M.: Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen.

L.: Der Zweck ist der Verkehr. Der Amerikaner Carey stellt Handel und Verkehr als etwas Ungleiches sich gegenüber, indem er beweist, daß, solange der Handel von einigen Mächtigen betrieben wird, dieselben den freien Verkehr, den Tausch ohne ihre Vermittlung hindern wollen und können, indem sie Konsumenten und Produzenten sich ferne halten und sich dazwischen stellen – nicht als ihre Diener, sondern als ihre Beherrscher, um alle Macht, alle Bildung für sich allein zu haben. Das aber führt zur Barbarei, indem es die Gesellschaft trennt und den einzelnen rechts und links mit Mauern umgibt, so daß er nur noch vorwärts rennen kann in die Höhen oder Tiefen der Gesellschaft. Ich habe dir bereits angedeutet, was ich vom Staat erwarte; ich will aber nun einen andern reden lassen, der es besser kann. In seiner Verteidigungsschrift: »Die Wissenschaft und die Arbeiter« sagt Ferdinand Lassalle beiläufig so: Wenn die Adelsidee die Geltung des Individuums an eine bestimmte natürliche Abstammung und gesellschaftliche Lage bannt,[341] so ist es die sittliche Idee der Bourgeoisie, daß jede solche rechtliche Beschränkung ein Unrecht sei, daß das Individuum vielmehr gelten müsse rein als solches und daß ihm nichts anderes als die ungehinderte Selbstbetätigung seiner Kräfte als der eines Einzelnen zu garantieren sei. Wären wir nun, sage ich, alle gleich reich, gleich gescheit, gleich gebildet, so möchte diese sittliche Idee ausreichend sein; da aber eine solche Gleichheit nicht stattfindet, nicht stattfinden kann, da wir nicht als Individuen schlechtweg, sondern mit bestimmten Unterschieden des Besitzes und der Anlagen in die Welt treten, die dann auch wieder entscheidend werden über die Unterschiede der Bildung, so ist diese Idee noch nicht ausreichend. Denn wäre nun demnach in der Gesellschaft nichts zu garantieren, als die ungehinderte Selbstbetätigung des Individuums, so müßte das in seinen Konsequenzen zu einer Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren führen. Die sittliche Idee des Arbeiterstandes ist daher die, daß die ungehinderte Selbstbetätigung des Individuums für sich allein noch nicht ausreiche, sondern daß dazu in einem sittlich geordneten Gemeinwesen noch kommen müsse die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit der Entwicklung. Die Geschichte, sagt Lassalle ferner, die Geschichte ist ein Kampf mit der Natur, mit dem Elend, der Unwissenheit, der Rechtslosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns im Naturzustand, am Anfang der Geschichte befinden. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit, das ist die Entwicklung der Freiheit, wie die Geschichte sie darstellt. In diesem Kampfe würden wir nie einen Schritt vorwärts gemacht haben, noch jemals weiter machen, wenn wir ihn als einzelne, jeder für sich, jeder allein geführt hätten oder führen wollten. Der letzte und inhaltliche Zweck des Staates ist: Die menschliche Bestimmung, d.h.[342] alle Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirklichen Dasein herausbringen und zu gestalten. Er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit.

Ja, Vetter Michel, nur in dem Staat, in dem die ganze Tugend des Menschengeschlechtes sich verwirklichet, wo alle an den Errungenschaften der Kultur und der gewonnenen Macht des Menschen über die Natur und ihre Kräfte teilnehmen können, nur da wird der Wert des Einzelnen nie mehr unter dem eines Tieres oder einer Maschine stehen. Erst wenn die Ungleichheit der Rechte und der daraus entstandene Klassenkampf, wenn Ungerechtigkeit und Vergewaltigung aufgehört haben, werden Macht und Recht eins sein und auch bleiben für immer.

Fußnoten

1 So glaubte ich folgenden Spruch übersetzen zu dürfen:


Dri i-s gmuo

Seand meh as zeho-n-aluo.


Quelle:
Franz Michael Felder: Gespräche des Lehrers Magerhuber mit seinem Vetter Michel, in: Franz Michael Felders sämtliche Werke. Band 4: Erzählungen und kleine Schriften, Leipzig 1913, S. 328–362, S. 331-343.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon