Erstes Kapitel

[179] Jetzt bedurfte es keiner Ueberredung, um mich von Neapel zu entfernen, und schon am folgenden Tage waren wir auf dem Wege nach Rom, wo wir uns gleichwohl, der Vorschrift des Arztes zufolge, nur kurze Zeit verweilen durften.

Er hatte mir gerathen, durch die Schweiz zu gehen, und den Winter im südlichen Frankreich zuzubringen; und ich[179] war auch um so mehr geneigt, dieser Vorschrift zu folgen, da ich durch Heinrich, welcher mit Sophie im fortwährenden Briefwechsel stand, wußte: daß sich dieselbe seit mehrern Monaten in Avignon aufhielt.

Ihr und Mariens Bild wurden jetzt die herrschenden meiner Seele und oft so in einander verschmolzen, daß sie mir zuletzt nur ein Wesen auszumachen schienen.

Ich wollte mich der Tugend widmen; aber meine Phantasie bedurfte einer menschlichen Gestalt, sie zu umhüllen, und indem Sophie mir für die Tugend selbst galt, schmückte ich sie mit allen jugendlichen Reitzen Mariens.

Italien hatte ich nur durchgejagt, jetzt würde die Sehnsucht nach Avignon mich wahrscheinlich verleitet haben, die Schweiz eben so zu durcheilen, wenn es mir meine zerrüttete Gesundheit nicht unmöglich gemacht hätte.[180]

Ich mußte in Chamouny ein Häuschen miethen, und meine Reise nach Avignon wenigstens um einen Monat verschieben.

Wer war froher, als Heinrich! –

»Nur hier wirst du genesen!« – rief er – »nur hier wirst du den Adel der Menschheit begreifen!« –

Aber ach! was ihn mit Muth und Freude erfüllte, erregte mir nur Schauder, und wenn ich die schroffen Felsen hinanblickte, so dünkte mich, sie würden über mir zusammenstürzen.

Oft wollte ich es wagen mich durch die Aussicht von ihren Gipfeln zu erheitern; aber schon auf der Hälfte des Weges sank ich kraftlos zu Boden, und wir mußten nach Genf eilen, um einer ernsthaften Krankheit zuvorzukommen.[181]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 179-182.
Lizenz:
Kategorien: