Neuntes Kapitel

[207] Ihre Schönheit hatte sich bis zum Idealischen, und meine Liebe bis zur Anbetung erhoben. Auch bemerkte ich: daß sie denselben Eindruck auf Andre machte. Die lauteste Gesellschaft verstummte bey ihrem Eintritt, und die sinnlichsten Männer nahten sich ihr mit schüchterner Ehrfurcht.

Kaum wagte ich den Gedanken: daß sie die Meinige werden könnte – jede Berührung schien mir Entheiligung – der Seligkeit einer Umarmung wäre ich jetzt noch erlegen.

Aber wie? Wenn ich sie verlöhre! – bey dieser Vorstellung verschwand jede Bedenklichkeit.[207] Ich flog hin zu ihr, ich umfaßte ihre Knie, ich stammelte unzusammenhängende Worte, ich benezte ihre Hände mit Thränen der Angst, der Reue und des Entzückens. –

Sie verstand mich – ich ahnte es, und nun erst wagte ich es sie anzublicken. Doch aufgestanden wäre ich nicht; hätte sie mich nicht zu sich erhoben.

Jetzt lag ich sprachlos in ihren Armen – ihr Mund näherte sich dem meinigen, und bald wußte ich: daß ich das höchste Leben gelebt hatte.[208]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 207-209.
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