Fünftes Kapitel

[42] Die Backsteinfassade des Hauses stand gerade in der Fluchtlinie der Straße, genauer gesagt: der Landstraße. Im Hausflur, gleich an der Haustür, hingen an einem Halter ein Kragenmantel, ein Zügel, eine Mütze aus schwarzem Leder, und in einem Winkel auf dem Fußboden lag ein Paar Gamaschen, voll von trocken gewordenem Straßenschmutz. Rechter Hand lag die ›große Stube‹, das heißt der Raum, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden und der zugleich als Wohnzimmer diente. An den Wänden bauschte sich allenthalben die schlecht aufgeklebte zeisiggrüne Papiertapete, die an der Decke durch eine Girlande von blassen Blumen abgeschlossen ward. An den Fenstern überschnitten sich weiße Kattunvorhänge, die rote Borten hatten. Auf dem schmalen Sims des Kamins funkelte eine Stutzuhr mit dem Kopfe des Hippokrates zwischen zwei versilberten Leuchtern, die unter ovalen Glasglocken standen. Auf der anderen Seite des Flures lag Karls Sprechzimmer, ein kleines Gemach, etwa sechs Fuß in der Breite. Drinnen ein Tisch, drei Stühle und ein Schreibtischsessel. Die sechs Fächer eines Büchergestells aus Tannenholz wurden in der Hauptsache durch die Bände des ›Medizinischen Lexikons‹ ausgefüllt, die unaufgeschnitten geblieben waren und durch den mehrfachen Besitzerwechsel, den sie bereits erlebt hatten, zerflederte Umschläge bekommen hatten. Durch die dünne Wand drang Buttergeruch aus der benachbarten Küche in das Sprechzimmer, während man dort hören konnte, wenn die Patienten husteten und ihre langen Leidensgeschichten erzählten.

Nach dem Hofe zu, wo das Stallgebäude stand, lag ein großes verwahrlostes Gemach, ehemals Backstube, das jetzt als Holzraum, Keller und Rumpelkammer diente und vollgepfropft war mit altem Eisen, leeren Fässern, abgetanem Ackergerät und einer Menge anderer verstaubter Dinge, deren einstigen Zweck man ihnen kaum mehr ansehen konnte.[43]

Der Garten, der mehr in die Länge denn in die Breite ging, dehnte sich zwischen zwei Lehmmauern mit Aprikosenspalieren; hinten begrenzte ihn eine Dornhecke und trennte ihn vom freien Felde. Mitten im Garten stand ein gemauerter Sockel mit einer Sonnenuhr darauf auf einer Schieferplatte. Vier Felder mit dürftigen Heckenrosen umgürteten symmetrisch ein Mittelbeet mit nützlicherem Gewächs. Ganz am Ende des Gartens, in einer Fichtengruppe, stand eine Tonfigur: ein Mönch, in sein Brevier vertieft.

Emma stieg die Treppe hinauf. Das erste Zimmer oben war überhaupt nicht möbliert, aber im zweiten, der gemeinsamen Schlafstube, stand in einer Nische mit roten Vorhängen ein Himmelbett aus Mahagoniholz. Auf einer Kommode thronte eine mit Muscheln besetzte kleine Truhe, und auf dem Schreibpult am Fenster leuchtete in einer Kristallvase ein Strauß von Orangenblüten, umwunden mit einem Seidenbande: ein Hochzeitsbukett, die Brautblumen der anderen! Emma betrachtete sie. Karl bemerkte es, nahm den Strauß aus der Vase und trug ihn auf den Oberboden. Währenddem saß sie in einem Lehnstuhl. Ihr eigenes Brautbukett kam ihr in den Sinn, das in einer Schachtel verpackt war. Eben trug man ihr ihre Sachen in das Zimmer und baute sie um sie herum auf. Nachdenklich fragte sie sich, was wohl mit ihrem Strauße geschähe, wenn sie zufällig auch bald stürbe.

In den ersten Tagen beschäftigte sich Emma damit, sich allerlei Änderungen in ihrem Hause auszudenken. Sie nahm die Glasglocken von den Leuchtern, ließ neu tapezieren, die Treppe streichen und Bänke im Garten aufstellen, um die Sonnenuhr herum. Sie erkundigte sich, ob nicht ein Wasserbassin mit einem Springbrunnen und Fischen darin angelegt werden könnte. Karl wußte, daß sie gern spazieren fuhr, und da sich gerade eine Gelegenheit bot, kaufte er ihr einen Wagen. Nach Anbringung von neuen Laternen und gesteppten Spritzledern sah er ganz aus wie ein Dogcart.[44]

So war Karl der glücklichste und sorgenloseste Mensch auf der Welt. Die Mahlzeiten zu zweit, die Abendpromenaden auf der Landstraße, die Gesten von Emmas Hand, wenn sie sich das Band im Haar zurechtstrich, der Anblick ihres an einem Fensterkreuze hängenden Strohhutes und noch allerhand andere kleine Dinge, von denen er nie geglaubt hätte, daß sie einen erfreuen könnten, all das trug dazu bei, daß sein Glück nicht aufhörte. Frühmorgens im Bette, Seite an Seite mit ihr auf demselben Kopfkissen, sah er zu, wie die Sonnenlichter durch den blonden Flaum ihrer von den Haubenbändern halb verdeckten Wangen huschten. So aus der Nähe kamen ihm ihre Augen viel größer vor, besonders beim Erwachen, wenn sich ihre Lider mehrere Male hintereinander hoben und wieder senkten. Im Schatten sahen diese Augen schwarz aus und dunkelblau am lichten Tage; in ihrer Tiefe wurden sie immer dunkler, während sie sich nach der schimmernden Oberfläche zu aufhellten. Sein eigenes Auge verlor sich in diese Tiefe; er sah sich darin gespiegelt, ganz klein, bis an die Schultern, mit dem Seidentuche, das er sich um den Kopf geschlungen hatte, und dem Kragen seines offen stehenden Nachthemdes.

Wenn er aufgestanden war, schaute sie ihm vom Fenster aus nach, um ihn fortreiten zu sehen. Eine Weile blieb sie, auf das Fensterbrett gestützt, so stehen, in ihrem Morgenkleide, das sie leicht umfloß, zwischen zwei Geranienstöcken. Karl unten auf der Straße schnallte sich an einem Prellsteine seine Sporen an. Emma sprach in einem fort zu ihm von oben herunter, währenddem sie mit ihrem Munde eine Blüte oder ein Blättchen von den Geranien abzupfte und ihm zublies. Das Abgerupfte schwebte und schaukelte sich in der Luft, flog in kleinen Kreisen wie ein Vogel und blieb schließlich im Fallen in der ungepflegten Mähne der alten Schimmelstute hängen, die unbeweglich vor der Haustür wartete. Karl saß auf und warf seiner Frau eine Kußhand zu. Sie antwortete winkend und schloß das Fenster. Er ritt ab.

Dann, auf der endlos sich hinwindenden staubigen Landstraße, in den Hohlwegen, über denen sich die Bäume zu einem Laubdache[45] schlossen, auf den Feldwegen, wo ihm das Korn zu beiden Seiten die Kniee streifte, die warme Sonne auf dem Rücken, die frische Morgenluft in der Nase und das Herz noch voll von den Freuden der Nacht, friedsamen Gemüts und befriedigter Sinne, – da genoß er all sein Glück abermals, just wie einer, der nach einem Schlemmermahle den Wohlgeschmack der Trüffeln, die er bereits verdaut, noch auf der Zunge hat.

Was hatte er bisher an Glück in seinem Leben erfahren? War er denn im Gymnasium glücklich gewesen, wo er sich in der Enge hoher Mauern so einsam gefühlt hatte, unter seinen Kameraden, die reicher und stärker waren als er, über seine bäuerische Aussprache lachten, sich über seinen Anzug lustig machten und zur Besuchszeit mit ihren Müttern plauderten, die mit Kuchen in der Tasche kamen? Oder etwa später als Student der Medizin, wo er niemals Geld genug im Beutel gehabt hatte, um irgendein kleines Mädel zum Tanz führen zu können, das seine Geliebte geworden wäre? Oder gar während der vierzehn Monate, da er mit der Witwe verheiratet war, deren Füße im Bett kalt wie Eisklumpen gewesen waren? Aber jetzt, jetzt besaß er für immerdar seine hübsche Frau, in die er vernarrt war. Seine Welt fand ihre Grenzen mit der Saumlinie ihres seidenen Unterrocks, und doch machte er sich den Vorwurf, er liebe sie nicht genug. Und so überkam ihn unterwegs die Sehnsucht nach ihr. Spornstreichs ritt er heimwärts, rannte die Treppe hinauf, mit klopfendem Herzen ... Emma saß in ihrem Zimmer bei der Toilette. Er schlich sich auf den Fußspitzen von hinten an sie heran und küßte ihr den Nacken. Sie stieß einen Schrei aus.

Er konnte es nicht lassen, immer wieder ihren Kamm, ihre Ringe, ihr Halstuch zu befühlen. Manchmal küßte er sie tüchtig auf die Wangen, oder er reihte eine Menge kleiner Küsse gleichsam aneinander, die ihren nackten Arm in seiner ganzen Länge von den Fingerspitzen bis hinauf zur Schulter bedeckten. Sie wehrte ihn ab, lächelnd und gelangweilt, wie man ein kleines Kind zurückdrängt, das sich an einen anklammert.[46]

Vor der Hochzeit hatte sie fest geglaubt, Liebe zu ihrem Karl zu empfinden. Aber als das Glück, das sie aus dieser Liebe erwartete, ausblieb, da mußte sie sich doch getäuscht haben. So dachte sie. Und sie gab sich Mühe, zu ergrübeln, wo eigentlich in der Wirklichkeit all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch so verlockend geschildert wird.

Quelle:
Flaubert, Gustave: Frau Bovary. Leipzig 1952, S. 42-47.
Lizenz:
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