Achtes Kapitel

[207] Der unerwartete Besuch war inzwischen in das Frontzimmer eingetreten, und während Stine wieder auf das Fenster und ihre hier aufgestellte Rahmenstickerei zuschritt, forderte sie den[207] jungen Grafen auf, auf dem schräg zur Seite stehenden Sofa Platz zu nehmen. Er lehnte dies aber ab und schob statt dessen einen Stuhl in die Nähe Stines, die sich ihrerseits sofort wieder ihrer Arbeit zuwandte, freilich in sichtlicher Erregung. Die Nadel flog, und der orangefarbene Faden von Flockseide blitzte bei jedem neuen Stich, den sie machte.

»Nun, Herr Graf«, begann sie, während sich ihr Kopf immer tiefer auf die Stickerei senkte, »was verschafft mir die Ehre? Was führt Sie zu mir?«

Aber ehe der, an den sich die Frage richtete, noch antworten konnte, fuhr sie schon mit einer ihr sonst fremden Lebendigkeit fort: »Ich glaube, Sie verkennen mich. Sie mögen darüber lachen, aber ich bin ein ordentliches Mädchen, und ist keiner in der Welt, der hintreten und zu mir sagen kann: ›Du lügst.‹ Ich sehe ja, wie's geht... nein, nein, lassen Sie mich ausreden..., und solch ein Leben, wie's meine Schwester führt, verführt mich nicht; es schreckt mich bloß ab, und ich will mich lieber mein Leben lang quälen und im Spital sterben als jeden Tag alte Herren um mich haben, bloß um Unanständigkeiten mit anhören zu müssen oder Anzüglichkeiten und Scherze, die vielleicht noch schlimmer sind. Das kann ich nicht, das will ich nicht. Und nun wissen Sie, woran Sie sind.«

»Fräulein Stine«, sagte der junge Graf, »Sie sagen, ich irrte mich in Ihnen. Ich glaube nicht, daß ich mich in Ihnen irre. Aber selbst wenn es so wäre, so lassen Sie mich Ihnen sagen, Sie irren sich auch in mir. Ich komme zu Ihnen, weil Sie mir gefallen und mir eine Teilnahme eingeflößt haben, oder lieber rundheraus, weil Sie mir leid tun. Ich hab es Ihnen wohl angesehen, daß an dem Abende neulich nicht alles nach Ihrem Sinn und Geschmack war, und da nahm ich mir vor, du willst sehen, wie's dem Fräulein Stine geht. Ja, Fräulein, das nahm ich mir vor, und wenn ich Ihnen helfen kann, so will ich Ihnen helfen und Ihnen Ihre Freiheit wiedergeben und Sie losmachen aus dieser Umgebung. Ich glaube, daß ich es kann, trotzdem ich kein Prinz bin und noch weniger ein Wundertäter. Und Sie dürfen auch nicht fürchten, daß ich eines Tages mit der Absicht[208] kommen werde, mir einen schönen Dank dafür zu holen. Nein, nichts davon. Ich bin krank und ohne Sinn für das, was die Glücklichen und Gesunden ihre Zerstreuung nennen. Eine lange Geschichte, womit ich Sie nicht behelligen will, wenigstens heute nicht.«

Er hatte sich, während er diese letzten Worte sprach, erhoben und sah, seine Hand auf Stines Stuhl lehnend, in den Sonnenball, der eben zwischen den nach Westen stehenden Bäumen des Invalidenparks niederging. Alles schwamm in einem goldenen Schimmer, und das Schweigen, in das er verfiel, zeigte, daß er auf Augenblicke von nichts als von der Schönheit des sich vor ihm auftuenden Bildes hingenommen war. Endlich aber nahm er sich Stines Hand und sagte: »Was hab ich da gesprochen von Freiheit geben und Sie wieder losmachen wollen! Geben Sie mir keine Antwort darauf. Alles falsch und eingebildet und töricht dazu. Weil ich mich selber hilfebedürftig fühle, war ich wohl des Glaubens, Sie müßten auch hilfebedürftig sein. Aber ich empfinde mit einem Male, daß Sie's nicht sind, daß Sie's nicht sein können.«

Stine lächelte vor sich hin. Der junge Graf aber, der es nicht sah oder nicht sehen wollte, fuhr in dem ihm eigentümlich elegischen Tone fort: »Ja, Fräulein Stine, das Kranksein, das eigentlich von Jugend auf mein Lebensberuf war, es hat auch seine Vorteile; man kriegt allerlei Nerven in seinen zehn Fingerspitzen und fühlt es den Menschen und Verhältnissen ab, ob sie glücklich sind oder nicht. Und mitunter sogar den Räumen, darin die Menschen wohnen. Und hier lehren mich meine Sinne, Sie können nicht unglücklich sein. Es ist nicht ein Zufall, daß ein solches Bild hier vor Ihnen ausgebreitet liegt, und ein Zimmer, in das die Sonne jeden Abend so freundlich blickt, das ist ein gutes Zimmer.«

»Ja«, sagte Stine, »das ist es. Freilich, man soll sich seines Glückes nicht rühmen, schon, um's nicht zu berufen. Aber es ist wahr, ich bin glücklich.«

Der junge Graf sah sie bei diesen Worten forschend und beinah verwundert von der Seite her an. Er hatte sich darin gefallen,[209] ihr, um der freundlichen Umgebung willen, in der er sie gegen Erwarten antraf, ohne weiteres das Glück zuzusprechen, und war nun doch betroffen, sie so rundheraus das bestätigen zu hören, was er ihr selber eben gesagt hatte. Stine sah das alles und setzte deshalb hinzu: »Sie müssen nun freilich nicht denken, ich wisse vor lauter Glück nicht ein noch aus. So steht es auch nicht. Ich bin glücklich, aber nicht wie die, welche die Not nicht kennen und immer nur gute Tage haben. Und bin auch nicht so glücklich wie die katholische Schwester, die mich letzten Winter in meiner Krankheit pflegte. Solche fromme Seele, die nichts will als Gott wohlgefällig sein, ja, die hat freilich mehr, und mit der steht es besser. Aber ich bin so gut dran wie gewöhnliche Menschen, die Gott schon danken, wenn ihnen nichts Schlimmes passiert.«

»Und das Zusammenleben mit Ihrer Schwester! Ist es Ihnen keine Last und keine Sorge?«

»Nein. Ich liebe meine Schwester und sie liebt mich.«

»Aber Sie sind doch so sehr verschieden.«

»Nicht so sehr, wie Sie glauben. Sie verkennen meine Schwester; meine Schwester ist sehr gut.«

»Aber das Verhältnis, in dem sie steht! Es muß doch darüber geredet werden und Anstoß geben bei Leuten, die noch ihren Katechismus haben und die Zehn Gebote halten.«

»Ja, bei denen gibt es freilich Anstoß, und meine Schwester, wenn sie mit solchen zusammentrifft, muß oft böse Worte hören. Aber so heftig sie sonst ist, so ruhig ist sie dabei. Sie hat nämlich einen sehr guten Verstand und ein großes Gerechtigkeitsgefühl, und wenn sie solche Worte hört, so sagt sie: ›Ja, Stine, das ist nun mal nicht anders; wer sich in den Rauch hängt, der wird schwarz.‹«

»Nun gut. Aber einen je besseren Verstand Ihre Schwester hat und je mehr sie zugibt, so, wie sie lebt, das Urteil und Gerede der Leute herauszufordern, desto mehr muß sie doch leiden unter der Mißachtung, die sie trifft.«

»Es wäre vielleicht so«, nahm Stine wieder das Wort, »wenn alle Menschen in einerlei Weise dächten. Aber das ist nicht der[210] Fall. Die, die sie verurteilen – und die mitunter lieber schweigen sollten –, das sind immer nur einzelne; die meisten plappern ihre Lehren und Vorwürfe nur so herunter und meinen es nicht bös und denken in ihrem Herzen ganz anders darüber.«

»Wie das?«

»Ja, das ist schwer zu sagen, aber es ist so und kann auch kaum anders sein. Denn die, die Not leiden, wollen vor allem aus ihrer Not und ihrem Elend heraus und sinnen und simulieren bloß, wie das zu machen sei. Brav sein und sich rechtschaffen halten, das ist alles sehr gut und schön, aber doch eigentlich nur was Feines für die Vornehmen und Reichen, und wer arm ist und das Feine mitmachen will, über den ziehen sie bloß her – und die gestern noch die Strengsten waren, am meisten – und reden und spotten, daß man was Apartes sein wolle. ›Die denkt wohl, sie sei es.‹ Ach, wie oft hab ich das hören müssen.«

»Welche Verworrenheit der Begriffe.«

»Ja, so nennen Sie's, und ich mag nicht widersprechen. Aber dieselben Leute, die so verworren scheinen, sind auch wieder sehr hell und halten auf Pflicht, wo sie sich aus freien Stücken verpflichtet haben. Und das gleicht manches wieder aus. Neben ihrem bloßen Gerede, das heute so ist und morgen so, gibt es auch was, das ihnen feststeht, und das ist das Wort und die Zusage. Mit dem ›sich gut halten‹, solange man frei ist, kann man's am Ende halten, wie man will; aber mit dem Kontrakte muß man's halten, wie man soll. Was ich übernehme, das gilt, und ehrlich sein ist die Hauptsache geworden. Und so kann es einer armen Frau passieren, in einem Verhältnis, das nicht löblich ist, doch noch gelobt zu werden.«

»Und dieses Vorzuges genießt Ihre Schwester?«

»Ja. Daß sie das Verhältnis hat, ist ihr kein Lob, aber bei der großen Mehrzahl auch keine Schande. Die arme Frau, so sagen sie, sie hätt's lieber anders. Aber sie muß. Und muß ist eine harte Nuß. Und so läßt man sie's nicht entgelten und fordert nur das eine von ihr, daß sie, was sie versprochen, auch respektiere. Wanda darf tun und lassen, was sie will, meine[211] Schwester Pauline darf es nicht. Die muß halten, wozu sie sich verpflichtet, und ich darf Ihnen versichern, es wird gehalten.«

»Und in das alles hat sich Ihre Schwester hineingefunden? Vielleicht sogar mit Leichtigkeit?«

»Doch nicht leicht. Eher schwer. Aber, die Wahrheit zu gestehen, nicht schwer von Tugend wegen – davon will sie nichts wissen –, sondern nur deshalb, weil ihr, von Natur, an einem Leben nichts liegt, wie sie's zu führen gezwungen ist. Meine Schwester ist arbeitsam und ordentlich und ganz ohne Passion. Wenigstens hat sie mir das hundertmal versichert.«

»Und aufrichtig?«

»Wer sieht ins Herz? Aber ich glaube: ganz auf richtig. Und wenn Sie meine Schwester so gut kannten wie ich, so würden Sie's auch glauben.«

»Und doch sagte sie mir, als ich vorgestern nach Olga fragte: ›Danach dürfen Sie nicht fragen. Einen Vater hat sie, das ist gewiß. Aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen.‹«

Stine lächelte verlegen vor sich hin. Endlich aber sagte sie: »Ja, in diesem Tone spricht sie gern, das ist wahr; aber nicht aus schlechter Sitte, sondern aus Übermut. Sie weiß, daß sie noch immer sehr hübsch ist, und hat aus Eitelkeit und Gefallsucht, wovon ich sie nicht freisprechen kann, eine sie beständig quälende Lust, die Männer in Verwunderung zu setzen, bloß um sie hinterher auszulachen. Ich kenne sie besser, weil ich ihr Leben kenne. Sie war kaum zwanzig, als Olga geboren wurde. Da hatte sie nun das Kind, eine gewöhnliche Verführungsgeschichte, womit ich Sie verschonen will, und weil man ihren Anspruch mit einer hübschen Geldsumme zufriedenstellte, so war sie nun eine ›gute Partie‹ geworden und verheiratete sich auch bald danach. Und wie meist in solchen Fällen, mit einem kreuzbraven Mann. Aber ich muß auch sagen, er kam ihr zu. Sie war eine ganz vorzügliche Frau, nicht das geringste konnt ihr nachgesagt werden, und als der Mann krank wurde, hat sie ihn, mit allem, was sie hatte, treu bis zum Tode gepflegt. Freilich, als er dann in seinem Grabe lag, war auch der letzte Notgroschen hin, und Ihr Herr Onkel, der in demselben Hause[212] wohnte, nahm sich ihrer an. Und da kam es dann – nun, Sie wissen wie. Das geht jetzt ins dritte Jahr, und sie wünscht es sich nicht anders, trotzdem sie klagt und wettert, übrigens ohne sich viel dabei zu denken. Sie nimmt ihr gegenwärtig Leben als einen Dienst, drin sich Gutes und Schlimmes die Waage hält; aber des Guten ist doch mehr, weil sie keine Sorge hat um das tägliche Brot. Und nun bitt ich Sie, wenn Sie sie wiedersehen, so sehen Sie sich ihr Tun und Treiben auf meine Worte hin an, und Sie werden finden, daß ich nicht zuviel gesagt habe.«

»Und was fordert sie von Ihnen?«

»Fordert? Nichts. Sie liebt mich und ist seelensgut zu mir und freut sich, daß ich auf mich halte, und ermutigt mich darin. ›Es ist immer das klügste so‹, das sind ihre Worte. Würd es aber anders kommen, so wär es nicht viel, und sie würde nur sagen: ›Ich weiß wohl, Stine, das Richtige läßt sich nicht immer tun.‹ Ja, sie sieht das, was sie das Richtige nennt, für etwas Wünschenswertes an, aber nicht als etwas Notwendiges; sie gönnt es mir, nichts weiter.«

Allmählich, während dies Gespräch geführt wurde, war die Sonne drüben niedergegangen, und nur ein letztes verblassendes Abendrot schimmerte noch zwischen dem Gezweige der Parkbäume. Stine hatte längst den Stickrahmen beiseite gestellt, und der junge Graf, der ihr jetzt gegenübersaß, sah in dem Fensterspiegel, wie, die ganze Straße hinunter, die Gaslaternen aufflammten. Er war so benommen davon, daß er eine Weile schwieg und dem eigentümlichen Straßenbilde zusah.

»Ich sehe«, sagte Stine, »der Spiegel tut es Ihnen auch an. Ich weiß das schon; es ist immer dasselbe.«

Der junge Graf nickte. Dann nahm er Stines Hand wie zum Abschied und sagte, während er sich rasch erhob: »Ich darf doch wiederkommen, Fräulein Stine?«

»Besser wäre es, Sie kämen nicht. Sie beunruhigen mich nur.«

»Aber Sie verbieten es nicht, Sie sagen nicht nein?«

»Ich sage nicht nein, weil ich es nicht sagen darf. Meine[213] Schwester würd es unklug finden, und ich weiß, daß ich ihr Rücksichten schuldig bin.«

»So denn auf Wiedersehen, Fräulein Stine.«

Stine gab ihm das Geleit bis auf den kleinen Korridor; dann aber rasch in ihre Stube zurückkehrend, trat sie ans offene Fenster und sog die frische Luft ein, die vom Park her herüberkam. Aber es blieb ihr bang ums Herz, und sie hatte das bestimmte Gefühl, daß ihr nur Schweres und Schmerzliches aus dieser Bekanntschaft erwachsen werde. »Warum hab ich nicht nein gesagt? Ich habe mich nun in seine Hand begeben... Und doch, ich will nicht, will nicht. Ich hab es ihr auf dem Sterbebette schwören müssen. ›Stine‹, sagte sie, ›halte dich. Es kommt nichts dabei heraus. Du bist nicht so hübsch wie deine Schwester Pauline, das ist mir ein Trost. Ach, das Hübschsein...‹ – Ich war noch ein halbes Kind damals; aber was ich ihr versprochen, ich will es halten!«


Im selben Augenblick, wo der junge Graf, von Stine geleitet, aus dem Zimmer in den Korridor trat, trat auch die Polzin von ihrem Horcheplatz wieder an den Klapptisch zurück, wo sich nun zwischen den beiden Eheleuten sofort ein kurzes, aber intimes Zwiegespräch entspann.

»Er ist eigentlich lange geblieben«, sagte Polzin, während er sich wieder an den Webstuhl setzte. »Wie war es denn?«

»Gar nichts war es. Und wird auch nichts.«

»I wo«, sagte Polzin. »Es wird schon werden. Alles muß doch Zeit und Weile haben. Aber du denkst immer...«

»Ach was, denken; ich denke gar nich. Ich sage bloß, wenn was werden soll, wird es gleich. Un wenn es nich gleich wird, wird es gar nich... Ich kenne doch auch die Mannsleute.«

»Ja, ja«, sagte Polzin und griente, »die kennst du.«

»Höre, Polzin, komme mir nich so. Fange nich wieder alte Geschichten an.«

»I wie werd ich denn... Ich meine ja bloß...«[214]

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21973, S. 207-215.
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