Fünfunddreißigstes Kapitel

[513] Zwischen den Feldern hin huschte was. Was es war, war nicht deutlich erkennbar, das Korn stand zu hoch, und die Dämmerung war noch zu dicht. Aber jetzt kam ein gemähter Wiesengrund, der ganz zuletzt zwischen den Maisfeldern und dem Dorfe lag, und nun ließ sich's erkennen, daß es Uncas war, der in Sprüngen auf Nogat-Ehre zujagte. Nur noch das Stück Parkland und die Brücke war zu passieren. Und nun war er heran und gab einen lauten Blaff, zwei-, dreimal, und sprang dann an dem Erdgeschoß in die Höh und kratzte an den Läden, die das Fenster von Obadjas Zimmer schlossen.

Obadja stand auf und warf einen Pelzrock über, den zu tragen er sich in den langen Wintertagen von Dakota gewöhnt hatte. Dann ging er hinaus auf den Flur, den Hund einzulassen. Aber Uncas sprang ihm schon entgegen, weil L'Hermite – der sich für alle Fälle halb angekleidet aufs Bett geworfen hatte – schneller als Obadja zur Hand gewesen war. Gleich danach kamen auch Ruth und Maruschka die Treppe herab und mit ihnen Toby; Toby, der noch am selben Abend, wo Lehnert auf die Suche nach ihm ausgezogen, wohl und munter und jedenfalls völlig unverletzt heimgekommen war. Und ein wunderlicher Anblick war es, den die Halle jetzt bot. Front- und Hoftür standen auf, und von beiden Seiten her fiel ein[513] fahles Dämmerlicht ein, während das Licht in der herabhängenden Flurlampe zu verschwelen begann. Am bemerkbarsten aber und jedenfalls am lautesten war Uncas. Er lief hin und her und sprang empor und beschäftigte sich vor allem mit Ruth, an deren Kleid er zerrte, wie um zu zeigen, daß sie folgen solle.

Jeder wußte, was geschehen, und war erschüttert. Am meisten Toby, der, wenn auch schuldlos, die Veranlassung von all dem war, was jetzt auf jedem lastete. L'Hermite schritt auf und ab, die Hände à la Zouave in den weiten Beutelhosen, das Käppi zurück. Toby aber nahm ihn beiseit und fragte, was er zu dem allem denke.

»Pas beaucoup de bien.«

»Und was?«

»La mort sans phrase.«


Obadja faßte sich zuerst und gab, als er sah, daß Uncas, wie um die einzuschlagende Richtung anzugeben, immer wieder auf die Steinbrücke zulief, kurze Weisungen für das, was zunächst zu tun sei. Toby solle mit Shortarm und einem andern Indianer, Yellow Cat, von dem bekannt war, daß er wie eine Katze kletterte, zunächst nach dem Vorwerk aufbrechen und dort die weitere Führung an Kaulbars abtreten. Er, Obadja, so sehr er es wünsche, könne sich dem Zuge nicht anschließen, das würde nur Hindernisse schaffen.

Und keine fünf Minuten mehr, so brach denn auch Toby mit den zwei Gefährten auf, Uncas abwechselnd vorantrabend und dann wieder an Tobys Seite. Von L'Hermites Begleitung war all die Zeit über mit keinem Worte die Rede gewesen, was in einer Art abergläubischen Vorstellung von seiten Obadjas seinen Grund hatte. L'Hermite, wenn es sich um Leben und Sterben handelte, hatte keine glückliche Hand, was niemandem klarer war als ihm selbst, weshalb er denn auch sein Ausgeschlossensein von dieser Expedition als etwas durchaus Selbstverständliches ansah und sich begnügte, sich Miss Ruth anzuschließen, als diese mit der alten Maruschka wieder die[514] Treppe hinaufstieg. Oben angekommen aber trat er, statt in sein eigenes Zimmer, in das von Lehnert, um von hier aus – weil es den Blick auf das Gebirge hatte – dem Zug eine Weile nachzusehen. Eine gute Strecke konnt er es auch und sah deutlich, wie Uncas seine Freude bezeigte, daß man ihn endlich verstanden.

»Ist noch Hoffnung...? Keine. Seine Geschicke haben sich erfüllt.«

Es war vier Uhr, und die Sonne stieg eben herauf, als Toby mit seinen zwei Gefährten auf dem Vorwerk eintraf. Das Ehepaar Kaulbars war schon auf und nahm eben seinen Morgenkaffee.

Kaulbars erhob sich sofort, um seines Herrn Sohn zu begrüßen und ihn zur Teilnahme am Frühstück einzuladen. Aber Toby dankte, nahm auch nicht Platz und beschränkte sich darauf, in aller Kürze mitzuteilen, um was sich's handle. Leider sah er nicht die Wirkung davon, auf die zu rechnen er ein Recht hatte, was ihn auf einen Augenblick ernstlich verdroß und doch eigentlich nicht verdrießen durfte. Leute hergeben und vorherbestimmte Tagesarbeit unterbrechen, das konnte bei Kaulbars in erster Reihe nur Verstimmung wecken, weil er ganz und gar und in besonders hohem Grade zu jenen ausgesprochenen Bauer- und Landwirtsnaturen gehörte, die, wenn ihnen Vater und Mutter während der Ernte sterben, zunächst nur unter dem Gefühle stehen: Vater und Mutter hätten sich auch eine bessere Zeit aussuchen können. Als indessen dies erste selbstische Gefühl in unserem Kaulbars überwunden war, war er nicht bloß gutwillig, sondern vor allem auch umsichtig in all seinen Anordnungen und wählte neben allerlei Rettungsmaterial, das man mutmaßlich brauchen würde, zugleich drei seiner besten Leute zur Verstärkung des nun von ihm zu führenden Zuges aus. Auch eine Leiter samt einer Schütte Stroh nahm er mit, weil er, ganz im Gegensatze zu L'Hermite, der bestimmten Ansicht war, daß der Verunglückte, verwundet oder nicht, noch am Leben sein müsse; dreißig Stunden könne man's aushalten, und Tobys Bemerkung, daß Uncas ihn sicher[515] erst verlassen habe, als es mit ihm vorbei gewesen, wollt er nicht gelten lassen. Der Hund sei klug, aber doch bloß ein Hund und eine unvernünftige Kreatur. »Und reden kann er doch am Ende nich.«

Es war gegen sechs Uhr, als man oben war und eine kurze Rast nahm. Im Tale lag noch ein Nebel, aber dünn und niedrig, und man sah die Häuser von Nogat-Ehre, die mit ihren Dächern darüber hinausragten. Und da war wieder Station Darlington, und wo der Qualm schwarz über dem weißen Nebel hinzog, da kam der Zug heran, der große Expreßtrain von Galveston. Alles ließ sich deutlich erkennen. Aber es war nicht Zeit zu solchen Betrachtungen. Uncas, solange die Rast dauerte, jagte beständig hin und her, immer auf denselben Punkt zu, so daß Toby nun in aller Bestimmtheit wußte, wohin man die Schritte zu richten habe.

»Er ist auf den Look-out hinaufgestiegen, um nach mir auszusehen. Und bei dem Aufstieg ist er verunglückt.«

Auf den Look-out also schritten sie zu, Kaulbars voran. Und nur noch wenige Minuten, so waren sie bis an den Fuß der Felspartie gekommen und tranken hier aus dem Quell (denn es war, trotz früher Stunde, schon heiß) und stiegen nun höher hinauf bis auf den Einknick, von dem aus der eigentliche Kegel anhob.

Und nun hatte man die Stufe glücklich erreicht und schritt um den mäßig breiten Rand, den sie bildete, herum. Das erste, was man sah, war der Brotrest, den Lehnert auf ein paar Schritt Entfernung dem Hunde zugeworfen, den dieser aber nicht berührt hatte.

»Hier müssen wir ihn finden«, sagte Toby, und das Zweigwerk eines ziemlich blattreichen, am Fuße des Kegels festeingewurzelten Gebüsches zurückschlagend, sah er den, dem die Suche galt. Unwillkürlich ließ er das Gezweig, das er in Händen hielt, wieder zurückfahren, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Konnt es anders sein? Der da lag, war gestorben um ihn, um seinetwillen. Und er sprach ein kurzes Gebet, während die andern noch zurückstanden. Und nun[516] näherte sich auch Shortarm und brach die weit vorgestreckten Zweige fort, und gleich nach ihm traten alle heran und schlossen einen Halbkreis und blickten auf den Toten. Er sah ernst aus, aber nicht von Schmerzen verzerrt oder entstellt, und hatte die Jagdtasche unter dem Kopf; – neben ihm lag das Gewehr, und ein kurzes Jagdmesser, das er noch in seiner letzten Stunde gebraucht haben mußte, war mit der Klinge in den Sand gestoßen. Sein Rock war halb geöffnet, und man sah ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt, das er in die Rocköffnung wie in eine Brusttasche gesteckt hatte. Darüber ruhte seine linke Hand, auf deren Oberfläche man geronnenes Blut sah, aber nur wenig, wie von einem kleinen Riß mit dem Messer. Und nun bückte sich Toby, um das Zeitungsblatt zu nehmen, auf das der Tote, wie's schien, in seiner letzten Stunde seine letzten Worte geschrieben hatte. Zwischen den Fingern der rechten Hand hielt er noch ein zugespitztes Holzstäbchen. Was er aber geschrieben, das lautete: »Vater unser, der du bist im Himmel... Und vergib uns unsere Schuld... Und du, Sohn und Heiland, der du für uns gestorben bist, tritt ein für mich und rette mich... Und vergib uns unsere Schuld... Ich hoffe: quitt

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21973, S. 513-517.
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