Zweiunddreißigstes Kapitel

[305] Zu guter Zeit waren die Reisenden wieder in Berlin zurück. Woldemar hatte Braut und Schwägerin bis an das Kronprinzenufer begleitet, mußte jedoch auf Verbleib im Barbyschen Hause verzichten, weil im Kasino eine kleine Festlichkeit stattfand, der er beiwohnen wollte.

Der alte Graf ging, als unten die Droschke hielt, mühsamlich auf seinem Zimmerteppich auf und ab, weil ihn sein Fuß, wie stets, wenn das Wetter umschlug, mal wieder mit einer ziemlich heftigen Neuralgie quälte.

»Nun, da seid ihr ja wieder. Der Zug muß Verspätung gehabt haben. Und wo ist Woldemar?«

Man gab ihm Auskunft und daß Woldemar wegen seines Nichterscheinens um Entschuldigung bäte. »Gut, gut. Und nun setzt euch und erzählt. Mit dem Conte, das ließ damals allerlei zu wünschen übrig... verzeih, Melusine. Da möcht ich denn begreiflicherweise, daß es uns diesmal besser ginge. Woldemar macht mir natürlich kein Kopfzerbrechen, aber die Familie, der alte Stechlin. Armgard braucht selbstverständlich auf eine so delikate Frage nicht zu antworten, wenn sie nicht will, wiewohl erfahrungsmäßig ein Unterschied ist zwischen Schwiegermüttern und Schwiegervätern. Diese sind mitunter verbindlicher als der Sohn.«

Armgard lachte. »Mir, Papa, passiert so was Nettes nicht. Aber mit Melusine war es wieder das Herkömmliche. Der alte Stechlin fing an, und der Pastor folgte. Wenigstens schien es mir so.«

»Dann bin ich beruhigt, vorausgesetzt, daß Melusine über den neuen Schwiegervater ihren richtigen alten Vater nicht vergißt.«[305]

Sie ging auf ihn zu und küßte ihm die Hand.

»Dann bin ich beruhigt«, wiederholte der Alte. »Melusine gefällt fast immer. Aber manchem gefällt sie freilich auch nicht. Es gibt so viele Menschen, die haben einen natürlichen Haß gegen alles, was liebenswürdig ist, weil sie selber unliebenswürdig sind. Alle beschränkten und aufgesteiften Individuen, alle, die eine bornierte Vorstellung vom Christentum haben – das richtige sieht ganz anders aus –, alle Pharisäer und Gernegroß, alle Selbstgerechten und Eiteln fühlen sich durch Personen wie Melusine gekränkt und verletzt, und wenn sich der alte Stechlin in Melusine verliebt hat, dann lieb ich ihn schon darum, denn er ist dann eben ein guter Mensch. Mehr brauch ich von ihm gar nicht zu wissen. Übrigens konnt es kaum anders sein. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Aber auch umgekehrt: wenn ich den Apfel kenne, kenn ich auch den Stamm... Und wer war denn noch da? Ich meine, von Verwandtschaft?«

»Nur noch Tante Adelheid von Kloster Wutz«, sagte Armgard.

»Das ist die Schwester des Alten?«

»Ja, Papa. Altere Schwester. Wohl um zehn Jahr älter und auch nur Halbschwester. Und eine Domina.«

»Sehr fromm?«

»Das wohl eigentlich nicht.«

»Du bist so einsilbig. Sie scheint dir nicht recht gefallen zu haben.«

Armgard schwieg.

»Nun, Melusine, dann sprich du. Nicht fromm also; das ist gut. Aber vielleicht hautaine?«

»Fast könnte man's sagen«, antwortete Melusine. »Doch paßt es auch wieder nicht recht, schon deshalb nicht, weil es ein französisches Wort ist. Tante Adelheid ist eminent unfranzösisch.«

»Ah, ich versteh. Also komische Figur.«

»Auch das nicht so recht, Papa. Sagen wir einfach, zurückgeblieben, vorweltlich.«

Der alte Graf lachte. »Ja, das ist in allen alten Familien so,[306] vor allem bei reichen und vornehmen Juden. Kenne das noch von Wien her, wo man überhaupt solche Fragen studieren kann. Ich verkehrte da viel in einem großen Bankierhause, drin alles nicht bloß voll Glanz, sondern auch voll Orden und Uniformen war. Fast zuviel davon. Aber mit einem Male traf ich in einer Ecke, ganz einsam und doch beinah vergnüglich, einen merkwürdigen Urgreis, der wie der alte Gobbo – der in dem Stück von Shakespeare vorkommt – aussah, und als ich mich später bei einem Tischnachbar erkundigte, ›wer denn das sei‹, da hieß es: ›Ach, das ist ja Onkel Manasse.‹ Solche Onkel Manasses gibt es überall, und sie können unter Umständen auch ›Tante Adelheid‹ heißen.«

Daß der alte Graf das so leichtnahm, erfreute die Töchter sichtlich, und als Jeserich bald danach das Teezeug brachte, wurd auch Armgard mitteilsamer und erzählte zunächst von Superintendent Koseleger und Pastor Lorenzen, danach vom Stechlinsee (der ganz überfroren gewesen sei, so daß sie die berühmte Stelle nicht hätten sehen können) und zuletzt von dem Museum und den Wetterfahnen.

Diese waren das, was den alten Grafen am meisten interessierte. »Wetterfahnen, ja, die müssen gesammelt werden, nicht bloß alte Dragoner, in Blech geschnitten, sondern auch allermodernste Silhouetten, sagen wir aus der Diplomatenloge. Da kommt dann schon eine ganz hübsche Galerie zusammen. Und wißt ihr, Kinder, das mit dem Museum gibt mir erst eine richtige Vorstellung von dem Alten und eine volle Befriedigung, beinah mehr noch, als daß ihm Melusine gefallen hat. Ich bin sonst nicht für Sammler. Aber wer Wetterfahnen sammelt, das will doch was sagen, das ist nicht bloß eine gute Seele, sondern auch eine kluge Seele, denn es is da so was drin wie ein Fingerknips gegen die Gesellschaft. Und wer den machen kann, das ist mein Mann, mit dem kann ich leben.«


Man blieb nicht lange mehr beisammen; beide Schwestern, ziemlich ermüdet von der Tagesanstrengung, zogen sich früh zurück, aber ihr Gespräch über Schloß Stechlin und die beiden[307] Geistlichen und vor allem über die Domina (gegen die Melusine heftig eiferte) setzte sich noch in ihrem Schlafzimmer fort.

»Ich glaube«, sagte Armgard, »du legst zuviel Gewicht auf das, was du das Ästhetische nennst. Und Woldemar tut es leider auch. Er läßt auf seine Mark Brandenburg sonst nichts kommen, aber in diesem Punkte spricht er beinah so wie du. Wohin er blickt, überall vermißt er das Schönheitliche. Das wenige, was danach aussieht, so klagt er beständig, sei bloß Nachahmung. Aus eignem Trieb heraus würde hier nichts der Art geboren.«

»Und daß er so klagt, das ist das, was ich so ziemlich am meisten an ihm schätze. Du meinst, daß ich, wenn ich von der Domina spreche, zuviel Gewicht auf diese doch bloß äußerlichen Dinge lege. Glaube mir, diese Dinge sind nicht bloß äußerlich. Wer kein feines Gefühl hat, sei's in Kunst, sei's im Leben, der existiert für mich überhaupt nicht und für meine Freundschaft und Liebe nun schon ganz gewiß nicht. Da hast du mein Programm. Unser ganzer Gesellschaftszustand, der sich wunder wie hoch dünkt, ist mehr oder weniger Barbarei; Lorenzen, von dem du doch soviel hältst, hat sich ganz in diesem Sinne gegen mich ausgesprochen. Ach, wie weit voraus war uns doch die Heidenzeit, die wir jetzt so verständnislos bemängeln! Und selbst unser ›dunkles Mittelalter‹ – schönheitlich stand es höher als wir, und seine Scheiterhaufen, wenn man nicht gleich selbst an die Reihe kam, waren gar nicht so schlimm.«

»Ich erlebe noch«, lachte Armgard, »daß du 'nen neuen Kreuzzug oder ähnliches predigst. Aber wir sind von unserm eigentlichen Thema ganz abgekommen, von der Domina. Du sagtest, ihre Gefühle widersprächen sich untereinander. Welche Gefühle?«

»Darauf ist leicht Antwort geben. Erst beglückwünscht sie sich zu sich selbst, und hinterher ärgert sie sich über sich selbst. Und daß sie das muß, daran sind wir schuld, und das kann sie uns nicht verzeihn.«

»Ich würde vielleicht zustimmen, wenn das, was du da sagst, nicht so sehr eitel klänge ... Sie hat übrigens einen guten Verstand.«[308]

»Den hat sie, gewiß, den haben sie alle hier oder doch die meisten. Aber ein guter Verstand, soviel er ist, ist auch wieder recht wenig, und schließlich – ich muß leider zu diesem Berolinismus greifen – ist diese gute Domina doch nichts weiter als eine Stakete, lang und spitz. Und nicht mal grün gestrichen.«

»Und der Alte? Der wenigstens wird doch vor deiner Kritik bestehn.«

»Oh, der; der ist hors concours und geht noch über Woldemar hinaus. Was meinst du, wenn ich den Alten heiratete?«

»Sprich nicht so, Melusine. Ich weiß ja recht gut, wie das alles von dir gemeint ist, Übermut und wieder Übermut. Aber er ist doch am Ende noch nicht so steinalt. Und du, so lieb ich dich habe, du bist schließlich imstande, dich in solche Kompliziertheiten von Schwiegervater und Schwager, alles in einem, und womöglich noch allerhand dazu, zu verlieben.«

»Jedenfalls mehr als in den, der diese Kompliziertheiten darstellt oder gar erst schaffen soll... Also, sei ruhig, freundlich Element.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 8, Berlin und Weimar 21973, S. 305-309.
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