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[309] Das war in den letzten Dezembertagen; auf Ende Februar hatte man die Hochzeit des jungen Paares festgesetzt. In der Zwischenzeit war seitens des alten Grafen erwogen worden, ob die Trauung nicht doch vielleicht auf einem der Barbyschen Elbgüter stattfinden solle, die Braut selbst aber war dagegen gewesen und hatte mit einer ihr sonst nicht eignen Lebhaftigkeit versichert: sie hänge an der Armee, weshalb sie – ganz abgesehn von ihrem teuren Frommel – die Berliner Garnisonkirche weit vorziehe. Daß diese, nach Ansicht vieler, bloß ein großer Schuppen sei, habe für sie gar keine Bedeutung; was ihr an der Garnisonkirche soviel gelte, das seien die großen Erinnerungen, und ein Gotteshaus, drin die Schwerins und die Zietens ständen (und wenn sie nicht drin ständen, so doch andre, die kaum schlechter wären) – eine historisch so bevorzugte[309] Stelle wäre ihr an ihrem Trautage viel lieber als ihre Familienkirche, trotz der Särge so vieler Barbys unterm Altar. Woldemar war sehr glücklich darüber, seine Braut so preußisch-militärisch zu finden, die denn auch, als einmal die Zukunft und mit ihr die Frage nach »Verbleib oder Nichtverbleib« in der Armee durchgesprochen wurde, lachend erwidert hatte: »Nein, Woldemar, nicht jetzt schon Abschied; ich bin sehr für Freiheit, aber doch beinah mehr noch für Major.«
Auf drei Uhr war die Trauung festgesetzt. Schon eine halbe Stunde vorher erschien der Brautwagen und hielt vor dem Schickedanzschen Hause, dessen Flur auszuschmücken sich die Frau Versicherungssekretärin nicht hatte nehmen lassen. Von der Treppe bis auf das Trottoir hinaus waren zu beiden Seiten Blumenestraden aufgestellt, auf denen die Lieblinge der Frau Schickedanz in einer Schönheit und Fülle standen, als ob es sich um eine Maiblumenausstellung gehandelt hätte. Hinter den verschiedenen Estraden aber hatten alle Hausbewohner Aufstellung genommen, Lizzi, Frau Imme und sämtliche Hartwigs und natürlich auch Hedwig, die, nach ganz kurzem Dienst im Kommerzienrat Seligmannschen Hause, vor etwa acht Tagen ihre Stelle wieder aufgegeben hatte.
»Gott, Hedwig, war es denn wieder so was?«
»Nein, Frau Imme, diesmal war es mehr.«
Frommel traute. Die Kirche war dicht besetzt, auch von bloß Neugierigen, die sich, ehe die große Orgel einsetzte, die merkwürdigsten Dinge mitzuteilen hatten. Die Barbys seien eigentlich Italiener aus der Gegend von Neapel, und der alte Graf, was man ihm auch noch ansehe, sei in seinen jungen Jahren unter den Carbonaris gewesen; aber mit einem Male hab er geschwenkt und sei zum Verräter an seiner heiligen Sache geworden. Und weil in solchem Falle jedesmal einer zur Vollstreckung der Gerechtigkeit ausgelost würde (was der Graf auch recht gut gewußt habe), hab er vorsichtigerweise seine schöne Heimat verlassen und sei nach Berlin gekommen und[310] sogar an den Hof. Und Friedrich Wilhelm IV., der ihn sehr gern gemocht, hab auch immer italienisch mit ihm gesprochen.
Das Hochzeitsmahl fand im Barbyschen Hause statt, notgedrungen en petit comité, da das große Mittelzimmer, auch bei geschicktester Anordnung, immer nur etwa zwanzig Personen aufnehmen konnte. Der weitaus größte Teil der Gesellschaft setzte sich aus uns schon bekannten Personen zusammen, obenan natürlich der alte Stechlin. Er war gern gekommen, trotzdem ihm die Weltabgewandtheit, in der er lebte, den Entschluß anfänglich erschwert hatte. Tante Adelheid fehlte. »Trösten wir uns«, sagte Melusine mit einer ihr kleidenden Überheblichkeit. Selbstverständlich waren die Berchtesgadens da, desgleichen Rex und Czako sowie Cujacius und Wrschowitz. Außerdem ein behufs Abschluß seiner landwirtschaftlichen Studien erst seit kurzem in Berlin lebender junger Baron von Planta, Neffe der verstorbenen Gräfin, zu dem sich zunächst ein Premierleutnant von Szilagy (Freund und früherer Regimentskamerad von Woldemar) und des weiteren ein Doktor Pusch gesellte, den die Barbys noch von ihren Londoner Tagen her gut kannten. Dem Brautpaare gegenüber saßen die beiden Väter beziehungsweise Schwiegerväter. Da weder der eine noch der andre zu den Rednern zählte, so ließ Frommel das Brautpaar in einem Toaste leben, drin Ernst und Scherz, Christlichkeit und Humor in glücklichster Weise verteilt waren. Alles war entzückt, der alte Stechlin, Frommels Tischnachbar, am meisten. Beide Herren hatten sich schon vorher angefreundet, und als nach Erledigung des offiziellen Toastes das Tischgespräch ganz allgemein wieder in Konversation mit dem Nachbar überging, sahen sich Frommel und der alte Stechlin in Anknüpfung einer intimeren Privatunterhaltung nicht weiter behindert.
»Ihr Herr Sohn«, sagte Frommel, »wovon ich mich persönlich überzeugen konnte, wohnt sehr hübsch. Darf ich daraus schließen, daß Sie sich bei ihm einlogiert haben?«
»Nein, Herr Hofprediger. So bei Kindern wohnen ist immer mißlich. Und mein Sohn weiß das auch; er kennt den Geschmack[311] oder meinetwegen auch bloß die Schrullenhaftigkeit seines Vaters, und so hat er mich, was immer das Beste bleibt, in einem Hotel untergebracht.«
»Und Sie sind da zufrieden?«
»Im höchsten Maße, wiewohl es ein bißchen über mich hinausgeht. Ich bin noch aus der Zeit von Hotel de Brandebourg, an dem mich immer nur die Französierung ärgerte – sonst alles vorzüglich. Aber solche Gasthäuser sind eben, seit wir Kaiser und Reich sind, mehr oder weniger altmodisch geworden, und so bin ich denn durch meinen Sohn im Hotel Bristol untergebracht worden. Alles ersten Ranges, kein Zweifel, wozu noch kommt, daß mich der bloße Name schon erheitert, der neuerdings jeden Mitbewerb so gut wie ausschließt. Als ich noch Leutnant war, freilich lange her, mußten alle Witze von Glaßbrenner oder von Beckmann sein. Beckmann war erster Komiker, und wenn man in Gesellschaft sagte: ›Da hat ja wieder der Beckmann ...‹, so war man mit seiner Geschichte so gut wie raus. Und wie damals mit den Witzen, so heute mit den Hotels. Alle müssen ›Bristol‹ heißen. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie gerade Bristol dazu kommt. Bristol ist doch am Ende nur ein Ort zweiten Ranges, aber Hotel Bristol ist immer prima. Ob es hier wohl Menschen gibt, die Bristol je gesehn haben? Viele gewiß nicht, denn Schiffskapitäne, die zwischen Bristol und New York fahren, sind in unserm guten Berlin immer noch Raritäten. Übrigens darf ich bei allem Respekt vor meinem berühmten Hotel sagen, unberühmte sind meist interessanter. So zum Beispiel bayrische Wirtshäuser im Gebirge, wo man eine dicke Wirtin hat, von der es heißt, sie sei mal schön gewesen und ein Kaiser oder König habe ihr den Hof gemacht. Und dazu dann Forellen und ein Landjäger, der eben einen Wilderer oder Haberfeldtreiber über den stillen See bringt. An solchen Stellen ist es am schönsten. Und ist der See aufgeregt, so ist es noch schöner. Das alles würde mir unser Baron Berchtesgaden, der da drüben sitzt, gewiß gern bestätigen, und Sie, Herr Hofprediger, bestätigen es mir schließlich auch. Denn mir fällt eben ein, Sie waren ja mit unserm guten Kaiser Wilhelm,[312] dem letzten Menschen, der noch ein wirklicher Mensch war, immer in Gastein zusammen und viel an seiner Seite. Jetzt hat man statt des wirklichen Menschen den sogenannten Übermenschen etabliert; eigentlich gibt es aber bloß noch Untermenschen, und mitunter sind es gerade die, die man durchaus zu einem ›Über‹ machen will. Ich habe von solchen Leuten gelesen und auch welche gesehn. Ein Glück, daß es, nach meiner Wahrnehmung, immer entschieden komische Figuren sind, sonst könnte man verzweifeln. Und daneben unser alter Wilhelm! Wie war er denn so, wenn er so still seine Sommertage verbrachte? Können Sie mir was von ihm erzählen? So was, woran man ihn so recht eigentlich erkennt.«
»Ich darf sagen ›ja‹, Herr von Stechlin. Habe so was mit ihm erlebt. Eine ganz kleine Geschichte; aber das sind gerade die besten. Da hatten wir mal einen schweren Regentag in Gastein, so daß der alte Herr nicht ins Freie kam und, statt draußen in den Bergen, in seinem großen Wohnzimmer seinen gewohnten Spaziergang machen mußte, so gut es eben ging. Unter ihm aber (was er wußte) lag ein Schwerkranker. Und nun denken Sie sich, als ich bei dem guten alten Kaiser eintrete, seh ich ihn, wie er da lange Läufer und Teppiche zusammenschleppt und übereinanderpackt, und als er mein Erstaunen sieht, sagt er mit einem unbeschreiblichen und mir unvergeßlichen Lächeln: ›Ja, lieber Frommel, da unter mir liegt ein Kranker; ich mag nicht, daß er die Empfindung hat, ich trample ihm da so über den Kopf hin...‹ Sehn Sie, Herr von Stechlin, da haben Sie den alten Kaiser.«
Dubslav schwieg und nickte. »Wie beneid ich Sie, so was erlebt zu haben«, hob er nach einer Weile an. »Ich kannt ihn auch ganz gut, das heißt in Tagen, wo er noch Prinz Wilhelm war, und dann oberflächlich auch später noch. Aber seine eigentliche Zeit ist doch seine Kaiserzeit.«
»Gewiß, Herr von Stechlin. Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.«
»Richtig, richtig«, sagte Dubslav, »das schwebte mir auch vor; ich konnt es bloß nicht gleich finden. Ja, so war er, und so einen[313] kriegen wir nicht wieder. Übrigens sag ich das in aller Reverenz. Denn ich bin kein Frondeur. Fronde mir gräßlich und paßt nicht für uns. Bloß mitunter, da paßt sie doch vielleicht.«
Inzwischen war die siebente Stunde herangekommen, und um halb acht ging der Zug, mit dem das junge Paar noch bis Dresden wollte, dieser herkömmlich ersten Etappe für jede Hochzeitsreise nach dem Süden. Man erhob sich von der Tafel, und während die Gäste, bunte Reihe machend, untereinander zu plaudern begannen, zogen sich Woldemar und Armgard unbemerkt zurück. Ihr Reisegepäck war seit einer Stunde schon voraus, und nun hielt auch der viersitzige Wagen vor dem Barbyschen Hause. Die Baronin und Melusine hatten sich zur Begleitung des jungen Paares miteinander verabredet und nahmen jetzt, ohne daß Woldemar und Armgard es hindern konnten, die beiden Rücksitze des Wagens ein. Das ergab aber, besonders zwischen den zwei Schwestern, eine vollkommene Rang- und Höflichkeitsstreiterei. »Ja, wenn es jetzt in die Kirche ginge«, sagte Armgard, »so hättest du recht. Aber unser Wagen ist ja schon wieder ein ganz einfacher Landauer geworden, und Woldemar und ich sind, vier Stunden nach der Trauung, schon wieder wie zwei gewöhnliche Menschen. Und sich dessen bewußt zu werden, damit kann man nicht früh genug anfangen.«
»Armgard, du wirst mir zu gescheit«, sagte Melusine.
Man einigte sich zuletzt, und als der Wagen am Anhalter Bahnhof eintraf, waren Rex und Czako bereits da – beide mit Riesensträußen –, zogen sich aber unmittelbar nach Überreichung ihrer Bouquets wieder zurück. Nur die Baronin und Melusine blieben noch auf dem Bahnsteig und warteten unter lebhafter Plauderei bis zum Abgange des Zuges. In dem von dem jungen Paare gewählten Coupé befanden sich noch zwei Reisende; der eine, blond und artig und mit goldener Brille, konnte nur ein Sachse sein, der andre dagegen, mit Pelz und Juchtenkoffer, war augenscheinlich ein »Internationaler« aus dem Osten oder selbst aus dem Südosten Europas.[314]
Nun aber hörte man das Signal, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Die Baronin und Melusine grüßten noch mit ihren Tüchern. Dann bestiegen sie wieder den draußen haltenden Wagen. Es war ein herrliches Wetter, einer jener Vorfrühlingstage, wie sie sich gelegentlich schon im Februar einstellen.
»Es ist so schön«, sagte Melusine, »Benutzen wir's. Ich denke, liebe Baronin, wir fahren hier zunächst am Kanal hin in den Tiergarten hinein und dann an den Zelten vorbei bis in Ihre Wohnung.«
Eine Weile schwiegen beide Damen; im Augenblick aber, wo sie von dem holprigen Pflaster in den stillen Asphaltweg einbogen, sagte die Baronin: »Ich begreife Stechlin nicht, daß er nicht ein Coupé apartgenommen.«
Melusine wiegte den Kopf.
»Den mit der goldenen Brille«, fuhr die Baronin fort, »den nehm ich nicht schwer. Ein Sachse tut keinem was und ist auch kaum eine Störung. Aber der andre mit dem Juchtenkoffer. Er schien ein Russe, wenn nicht gar ein Rumäne. Die arme Armgard. Nun hat sie ihren Woldemar und hat ihn auch wieder nicht.«
»Wohl ihr.«
»Aber Gräfin...«
»Sie sind verwundert, liebe Baronin, mich das sagen zu hören. Und doch hat's damit nur zu sehr seine Richtigkeit: gebranntes Kind scheut das Feuer.«
»Aber Gräfin...«
»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort –, auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«[315]
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«
Rex und Czako hatten sich unmittelbar nach Überreichung ihrer Bouquets vom Bahnhof her in die Königgrätzer Straße zurückgezogen, und hier angekommen, sagte Czako: »Wenn es Ihnen recht ist, Rex, so gehen wir bis in das Restaurant Bellevue.«
»Tasse Kaffee?«
»Nein; ich möchte gern was Ordentliches essen. Drei Löffel Suppe, 'ne Forelle en miniature und ein Poulardenflügel – das ist zuwenig für meine Verhältnisse. Rundheraus, ich habe Hunger.«
»Sie werden sich zu gut unterhalten haben.«
»Nein, auch das nicht. Unterhaltung sättigt außerdem, wenigstens Menschen, die, wie ich, wenn Sie auch drüber lachen, aufs Geistige gestellt sind. Ein bißchen mag ich übrigens an meinem elenden Zustande selbst schuld sein. Ich habe nämlich immer nur die Gräfin angesehn und begreife nach wie vor unsren Stechlin nicht. Nimmt da die Schwester! Er hatte doch am Ende die Wahl. Der kleine Finger der Gräfin (und ihr kleiner Zeh nun schon ganz gewiß) ist mir lieber als die ganze Comtesse.«
»Czako, Sie werden wieder frivol.«
Ausgewählte Ausgaben von
Der Stechlin
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