|
[359] Eine halbe Stunde später hielt alles an verabredeter Stelle. Es waren Wagen und Fußgänger bunt durcheinander, was aber ihre Kameradschaft und ihr Zusammenbleiben nicht störte, da die Wege so schlecht und so steil waren, daß auch die Fuhrwerke nur im Schritt fahren konnten.
Ein Trupp Emmeroder, blutjunges Volk, auch einige Mädchen, eröffnete den Zug, und sie sangen, als sie zwischen den Bäumen hin die Schlucht hinaufzogen:
»Ich kann und mag nicht sitzen,
Mag auch nicht lustig sein,
Mein Herz ist mir betrübet,
Feinslieb von wegen dein...«
Und Hilde mußte des Abends gedenken, wo sie mit Martin das letzte Mal das Lied gesungen hatte. Das waren nun erst drei Jahre; aber ihr war, als läge ein Leben dazwischen.
Am Ilsenstein bog ihr Weg links ab, und man bewegte sich immer langsamer, weil es immer mehr und mehr zu dunkeln begann und überall die Baumwurzeln über den Weg gewachsen waren. An vielen Stellen lagen auch Steine querüber, auf die dann die Vorderen aufmerksam machten, wenn es nicht glücken wollte, sie beiseite zu schaffen. Und dann gab es freilich immer noch einen tüchtigen Stoß, aber die Wagen waren doch so fest gebaut – Achsen und Rad aus gutem Harzer Holze –, daß alles glücklich aus der Schlucht heraus und bis an das Hohensteiner Gasthaus kam, wo der Weg, von alter Zeit her, in zwei Richtungen ging und alles Osterodesche nach rechts und alles Emmerodesche nach links mußte.
Baltzer hielt hier und stieg ab, um einen Trunk zu nehmen; als er aber wahrnahm, daß Hilde bang und unruhig wurde und Gesellschaft haben wollte, fuhr er, eh er noch sein Krügel geleert, auf der großen Straße den Emmerodern nach, die schon[359] an tausend Schritte vorauf waren. Er sah denn auch bald das Blitzen ihrer Windlichter wieder, die sie von dem Hohensteiner Gasthaus her mitgenommen hatten, und war – indem er auf dem etwas besser gewordenen Wege die Pferde scharf antraben ließ – eben schon bis dicht an sie heran, als es einen heftigen Ruck gab und Hilde von der einen Seite des Wagens auf die andere geschleudert wurde. Das Rad war gebrochen, und nur mit Anstrengung hatte sie sich, ihr Kind im Arm, an der Lehne des Vordersitzes festgehalten.
Anfangs dachte man, ohne sondere Mühe Rat und Hülfe schaffen zu können; waren doch Hände genug am Platz und auch bereit; als sich aber herausstellte, daß kein Schraubenzieher da war und überhaupt nicht mehr und nicht weniger als alles fehlte, so kam man zu dem Entschlusse, daß der Heidereiter mit Frau und Kind den Rest des Weges zu Fuß machen, ein paar von den Emmeroder Burschen aber einen Baum und einen Strick aus einem abwärts gelegenen Kohlenmeiler herbeischaffen und über lang oder kurz mit dem notdürftig wieder instand gesetzten Gefährt auf der großen Straße nachkommen sollten.
Und so geschah's; und nicht lange, so brach man wieder auf und setzte fröhlich und guter Dinge den Heimweg weiter fort, Hilde mit unter den Vordersten, Bocholt aber im Nachtrab und in allerlei Gespräch mit dem Sägemüller.
Es war ein Gespräch, das ihn mehr als gewöhnlich in Anspruch nahm, und so kam es, daß er einer starken Biegung nicht achtete, die die Vordersten des Zuges inzwischen gemacht hatten. Aber nun endlich sah er's und fuhr zusammen und sagte: »Was soll das? Wohin gehen wir?«
»Upp Ellernklipp to. Is joa dat Nächst. Un groad för Ji, Heidereiter.«
Dem aber war es, als drehe sich ihm alles im Kopf herum, und nur mit Mühe hielt er sich an dem Gebüsche fest, das neben dem Wege hinlief. »Ist das ein Tag!« Und dann fing er an zu lachen und waffnete sich mit Trotz, vielleicht in einem Vorgefühl, daß er ihn brauchen werde.[360]
Das Gespräch war inzwischen wieder aufgenommen worden, aber er hörte nicht mehr; er starrte nur noch vorwärts in die zerklüftete Wald- und Bergesmasse hinein, und mitunter, wenn eine offene Stelle kam, war es ihm, als säh er hoch oben den Schattenriß der schrägliegenden Tanne. Ja, die Vordersten mußten schon daran vorüber sein, und er tappte sich langsam und vorsichtig ihnen nach. Und nun waren es keine zehn Schritte mehr, und er blieb stehen und horchte nach der Tiefe hin und sagte zu dem dicht neben ihm gehenden Alten: »Ich glaub, es ruft... Habt Ihr nichts gehört, Sägemüller?«
»Nei...«
Baltzer lächelte vor sich hin und wußte nun, was er wissen wollte, daß es eine Sinnestäuschung gewesen und daß es nicht unten in dem Elsbruch, sondern in ihm selber gerufen habe. Dennoch erschrak er bis in seine tiefste Seele hinein, als der Alte, der wieder hinabgehorcht hatte, mit einem Male sagte: »Awers nu, Heidereiter. Joa. Nu hür ick't... Et röppt.«
Und wirklich, es war, als riefe was. Und als der Heidereiter in eben diesem Augenblicke sich umsah, sah er, daß der Vollmond hinter dem Tannenwald auf stieg. Und er schrie laut auf und sagte, während er seine letzte Kraft zusammenraffte: »Geht nur. Geht immer vorauf. Ich muß sehen, was es gibt. Und sagt meiner Frau, daß ich nachkomme. Geht.«
Und der Sägemüller, dem es unheimlich geworden war, ließ ihn allein und ging in raschem Schritte den anderen nach, die schon, am Außenrande von Kunerts-Kamp hin, wieder abwärts stiegen.
Und an eben diesem Gelände hin zog auch der Vortrupp, die Burschen und Mädchen, die dicht hinter Ellernklipp ihre frühere Weise wieder aufgenommen hatten:
»Er nahm aus seiner Taschen
Ein Messer scharf und spitz...«
Und nun schwieg das Lied und brach ab, denn ein Schuß fiel und hallte durch die Berge wider. Aber es war ja Jagdzeit und[361] Besuch auf dem Schloß, und in einem weinerlichen Tone sangen sie gleichgültig weiter:
»Ach, reicher Gott vom Himmel,
Wie bitter ist mein Tod.«
Auch Hilde hatte den Schuß gehört, ohne sich viel darum zu kümmern, und sang nur leise mit und freute sich; denn das Kind auf ihrem Arme war eingeschlafen und atmete so still und ruhig, als ob es der erste Tag seiner Gesundheit wär. »Ach, wenn es leben bliebe!«
Und so stiegen sie gemeinschaftlich die Berglehne hinunter, und Hilde horchte noch dem Gesange nach, als sie sich vor des Heidereiters Hause von ihrer Begleitung getrennt hatte. Gleich danach aber kam Grissel und nahm das Kind und ließ sich erzählen und war wie gewöhnlich voll guter Lehren und wußte ganz genau, wie's hätte gemacht werden müssen. Auch das mit dem Jagdwagen. Aber mit dem Alten, da sei nichts mehr. Er sei zu eigensinnig und wolle immer mit dem Kopf durch die Wand.
Eine ganze Weile ging so das Geplauder, und beide waren eigentlich froh, den Heidereiter nicht mit dabei zu haben. Endlich aber wurde Hilde doch stutzig und wunderte sich, daß der Vater noch nicht da sei. Denn sie nannt ihn noch immer so. Grissel aber wollte von Angst und Sorge nichts wissen und sagte nur: »Er hat den Schuß gehört, und da versteht er keinen Spaß und sieht, was es ist. Es fängt ohnedies das Wildern wieder an, weil er's eine Weile hat gehen lassen. Und das verdrießt ihn. Und gib acht, er macht's ein Ende.«
Hilde ließ es gelten. Als aber wieder eine Zeit um war, sagte sie: »Wir müssen ihn suchen gehen. Und sage nicht nein. Und wenn niemand geht, so geh ich selber. So furchtsam ich bin.«
Und all das sagte sie so bestimmt, daß der Grissel auch der Gedanke kam, es könne was passiert sein. Und so ging sie zu Joost in den Stall, um ihn fortzuschicken.
Der machte sich auch auf den Weg, und der jungen Frau wurde wieder freier ums Herz, als sie sah, daß wenigstens etwas geschah. Aber sie hatte doch keine Ruh und ging hin und[362] her und sah den Weg und das Gebüsch hinauf, von wo der Vater jeden Augenblick kommen mußte. Und wenn nicht er, so doch Joost.
Und so war sie schon viele Male auf die Treppe hinausgetreten. Immer vergeblich. Aber jetzt klang es ihr wie Stimmen und war ihr, als ob sie dicht an der Stelle, wo die zwei Silberpappeln standen, einen Schatten und eine Bewegung sähe. Und wirklich, es war so, und über eine lichte Stelle weg, auf die gerade das Mondlicht fiel, erkannte sie vier oder fünf Gestalten. Und es war ihr, als trügen sie was. Und auf einen Schlag stand wieder der Tag vor ihrer Seele, wo sie den Maus-Bugisch auf eben diesem Wege herangeschleppt hatten, und eine furchtbare Angst befiel sie, daß sich ihr das Grauen jenes Tages erneuern könne.
Sie wollte Gewißheit haben, je früher, je besser, und schritt rasch und entschlossen die Stufen hinunter und dem Zug entgegen. Als aber Joost ihrer ansichtig wurde, ließ er halten und winkte, daß sie von der Straße weggehe und wieder ins Haus zurücktrete.
Vergebens! Sie blieb angewurzelt stehen und wartete, bis alles heran war.
Und nun nahm sie die Tannenzweige fort, die die Träger über das Antlitz des Toten gedeckt hatten.
Es war Baltzer Bocholt, der ihr – ein paar Blutstropfen in seinem grauen Bart – ernst und beinahe finster entgegenstarrte.
Ausgewählte Ausgaben von
Ellernklipp
|
Buchempfehlung
Die frivole Erzählung schildert die skandalösen Bekenntnisse der Damen am Hofe des gelangweilten Sultans Mangogul, der sie mit seinem Zauberring zur unfreiwilligen Preisgabe ihrer Liebesabenteuer nötigt.
180 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro