XIII

[544] Brüssel


Eine sehr bequeme Barke geht täglich um sieben Uhr Morgens von Löwen nach Mecheln ab. Wir bedienten uns dieser angenehmen Art zu reisen, schifften uns ein, und beschäftigten uns wechselweise mit Schreiben und Umherschauen. Der Kanal ist schön, und seine Ufer sind überall mit Bäumen bepflanzt. Die ganze Gegend ist eine mit Bäumen reichlich beschattete Ebene, wo man folglich nirgends eine Aussicht in die Ferne genießt, aber gleichwohl beständig in einem Lustwäldchen zu fahren glaubt. Die Barke hat hinten, nach dem Steuerruder[544] zu, ein Zimmer; in der Mitte ein zweites Gemach, wo eine kleine Küche nebst andern Bequemlichkeiten vorhanden ist, und vorn eine Stube mit einem sehr guten Kamin, worin man ein schönes Steinkohlenfeuer unterhielt. Die Kosten dieser Fahrt sind so mäßig, daß uns der ganze Transport von Löwen nach Mecheln, die Bagage mit einbegriffen, auf wenig mehr als einen halben Kronthaler zu stehen kam. Thee, Kaffee, Butter und Käse kann man auf diesen Barken jederzeit haben. Auf dem halbem Wege kommt eine Barke von Mecheln dieser entgegen; die Passagiere nebst ihren Sachen wandern aus der einen in die andere, und setzen hierauf ihre Reise nach ihrem jedesmaligen Bestimmungsorte fort. Es reiseten eine Anzahl Mönche mit uns. Einer, ein junger Mann von einer vortheilhaften Gesichtsbildung, ward aufmerksam, als er uns Englisch sprechen hörte, und fand sich bewogen, unsere Bekanntschaft zu suchen. Seine Sanftmuth und Bescheidenheit war mit vielen Kenntnissen gepaart. In Irland, seinem Vaterlande, waren ihm Cook's Reisen und die Namen seiner Gefährten nicht unbekannt geblieben. In seinen Zügen las man klösterliche Tugenden, unvermischt mit dem Zurückstoßenden der Mönchsnatur. Er war bestimmt, als katholischer Priester nach Irland zurückzukehren.

In fünftehalb Stunden erreichten wir Mecheln. Diese nicht gar große Stadt würde mit ihren geräumigen Straßen und ihren weißgetünchten Häusern einen weit besseren Eindruck auf die Fremden machen, wenn sie nicht so öde wäre und beinah eine Todtenstille darin herrschte. Ich will gern glauben, daß die sitzende Lebensart der Einwohner, die in den ansehnlichen Hutmanufakturen Beschäftigung finden, mit dazu beiträgt, das Phänomen der Stille hervorzubringen; allein es war wirklich zu auffallend, um nicht noch tieferliegende Ursachen zu haben. Schauerlich ist es, lange Straßen zu durchwandern, und weder einer menschlichen Seele noch einem Thiere zu begegnen, ja nicht einmal das mindeste Geräusch in den Häusern zu hören. Man glaubt sich in irgend eine bezauberte Stadt aus den morgenländischen Erzählungen versetzt, deren Einwohner alle ausgestorben oder verschwunden sind. Die hiesige Bauart ist die alte, wo die Giebel der Häuser gegen die Straße zugekehrt stehen und spitz in die Höhe laufen. Fast durchgehends[545] ist alles von außen weiß angestrichen, welches im Sommer bei hellem Sonnenschein den Augen sehr nachtheilig seyn muß.

Die große Kathedralkirche zu St. Romuald (Rombaut) hat einen Thurm von außerordentlicher Höhe, und inwendig ist sie eins der reichsten gothischen Gebäude. Im Schiff stehet an jeder Seite die Bildsäule eines Apostels und über derselben eine Reihe Termen, welche die Religion, den Glauben, die Liebe und mehrere allegorische Wesen vorstellen. An den Wänden und im Chor sieht man Gemälde von P. de Nery, Crokaert und Andern, die aber keiner Aufzeichnung werth sind. Hier standen wir, als der Kardinal Erzbischof von Mecheln hereintrat, und uns die Benediktion ertheilte. Er war in einen langen Scharlachrock und Mantel gekleidet, mit einem rothen Käppchen auf der Perücke; ein Mann von ziemlich ansehnlicher Statur und schon bei Jahren, mit einem weichen, schlaffen, sinnlichen Gesicht. Er kniete hinter dem großen Altar und betete, besah aber dabei seine Ringe, zupfte seine Manschetten hervor, und schielte von Zeit zu Zeit nach uns, die wir, in große Mäntel gehüllt, vielleicht ein verdächtiges Ansehen hatten.

In der Johanneskirche fanden wir am Hochaltar einige Stücke, angeblich von Rubens: einen Johannes, den Evangelisten, der sein Buch schreibt und auf die Eingebungen seines Adlers zu horchen scheint; auf der Rückseite dieser Füllung, den Märtyrertod dieses Apostels in siedendem Öl nach der Legende; gegenüber, die Enthauptung Johannis des Täufers und die Taufe Christi; in der Mitte endlich die Anbetung der Weisen, eine große, verwirrte, uninteressante Composition. Diese fünf Blätter nebst drei kleinen Skizzen, welche am Altar angebracht sind, gehören nicht zu den auszeichnenden Werken von Rubens, und sind auch schon sehr verblichen. Sie mißfallen überdies noch durch etwas Unvollendetes in den Umrissen, welches nicht ganz die Schuld der veränderten Farbe zu seyn scheint.

In der ehemaligen Jesuitenkirche, deren Portal mit vieler Ostentation, aber desto weniger Geschmack, am großen Markte prangt, hangen eine Anzahl Gemälde, welche auf die Geschichte der jesuitischen Ordensheiligen Beziehung haben,[546] von denen aber keines uns in Anspruch nahm. In der Kirche unsrer lieben Frauen von Hanswyk bewunderten wir die aus einem ungeheuren Baum geschnitzte Kanzel, die den Fall der ersten Eltern im Paradiese vorstellt und in der That, wenn man alles erwägt, ein Werk von erstaunlicher Anstrengung ist. Die Figuren sind zwar plump, aber sehr brav gearbeitet, und das Ganze hat sehr viel Effekt. In den unzähligen Kirchen und Klöstern von Mecheln befindet sich noch eine große Menge von berühmten Gemälden, worunter einige auch wohl Verdienst haben mögen; allein was wir gesehen hatten, reizte uns nicht, unsern Aufenthalt zu verlängern, um auf Gerathewohl nach Kunstabentheuern umherzuwandern. Die Einbildungskraft der Künstler hat sich in diesem so tief in Aberglauben versunkenen Lande mehrentheils mit Gegenständen aus der Legende beschäftigt, die selten an sich reich und anziehend genug sind, um die Mühe des Erzählens und Darstellens zu verdienen. Es herrscht durch alle diese Mythologien eine klägliche Dürftigkeit der Geisteskräfte, die wunderbar gegen den Ideenreichthum und die Eleganz der griechischen Dichterphantasie absticht. Ein Maler, der höhern Sinn für den Werth seiner Kunst hätte, müßte sich schämen, wenn man ihm auftrüge, den heiligen Bernhard zu malen, der sich die Milch der Muttergottes aus ihren Brüsten in den offenen Mund regnen läßt; gleichwohl hat van Thulden dieses Süjet für die hiesigen Bernhardinernonnen ausgeführt, und vielleicht wäre es gefährlich gewesen, dem Pfaffen, der es angab, über die Unschicklichkeit etwas merken zu lassen. Ist es aber zu verwundern, wenn ein solcher Gegenstand die ohnehin schwerfälligen Niederländer nicht begeistern konnte, wenn sie nichts anders, als ein gemeines Weib in einer unanständigen Handlung begriffen, und einen eben so gemeinen Mönch darstellen konnten, ohne auch nur zu versuchen, ob in diese Figuren, die in einem so ekelhaften Verhältnisse gegen einander stehen, ein anderes Interesse zu bringen sei? Das weit edlere Süjet von Cimon und seiner Tochter ist schon außerhalb der Gränzen der Malerei, wenigstens was den Zeitpunkt betrift, wo sie dem alten Vater ihre Brust zu trinken giebt. Zu geschweigen, daß die Handlung, so edel sie in sich wirklich ist, ihren ganzen Werth verliert, sobald man sie sich offenbar vor[547] aller Augen denkt, und daß es zum Beispiel empörend wäre, sie auf dem Theater wirklich vorgestellt zu sehen; so ist es doch unmöglich, der Figur des Vaters dabei das mindeste Interesse zu geben. Ein alter Mann, der eine Weiberbrust aussaugt, bleibt ein ekelhafter Anblick, und die ganze Stellung sowohl, als die Disposition der Gesichtsmuskeln zum Saugen, raubt ihm jeden andern als den bloß thierischen, erniedrigenden Ausdruck. Bei einem Gemälde, welches diesen Gegenstand vorstellte, könnte gleichwohl noch ein rührendes Interesse für die Tochter empfunden werden; man würde nicht umhin können, die kindliche Liebe zu bewundern, die einem alten, durch Hunger entkräfteten Manne das Leben rettet. Von dem allen aber kann schlechterdings in einer Vorstellung des eben erwähnten Zuges aus St. Bernhards Legende nichts ausgedrückt werden, weil die Erfindung gar zu abgeschmackt ist. Sobald man die weibliche Figur ins Auge faßt, verliert sie bei jedem Manne von Gefühl ihre Ansprüche auf Jungfräulichkeit und Weiblichkeit. So lächerlich es auch ist, wenn van Dyk in seinem Gemälde vom heiligen Antonius bei den hiesigen Barfüßermönchen, einen Esel vor der Hostie knieen läßt, so ist es doch immer noch erträglicher; man wird nicht indignirt, man lächelt nur, weil alles was zur innern Vortreflichkeit des Menschen gehört, unabänderlich bleibt, hingegen konventionelle Begriffe, die man mit gewissen Dingen verbindet, der Veränderung unterworfen sind. Wem indeß das größte Kompliment dabei gebührt, den Erfindern dieses plumpen Scherzes, oder dem Volke, das sich daran erbaut, ist nicht leicht ausgemacht. Unserer Logik klingt es absurd, wenn jemand behaupten will, der Gegenstand, vor welchem ein unvernünftiger Esel knieet, verdiene die Anbetung des vernünftigen Menschen; aber es hat einmal einen Grad von Einsicht gegeben und in Brabant existirt er noch, dem dieser Schluß die stärkste Beweiskraft zu haben scheint. Bündigere und anständigere Beweisarten für die Heiligkeit des Altarsakraments können für einen höheren Grad der Vernunft berechnet seyn; wiewohl keine Vernunft das Übernatürliche richten darf, und es folglich ein überflüßiges und widersinniges Bemühen ist, Dinge bei ihr rechtfertigen zu wollen, welche nur durch die Gabe des Glaubens erkannt werden können.[548]

Die ganze Volksmenge von Mecheln gab man uns auf zwanzigtausend Menschen an, und dieses auffallende Mißverhältniß der Bevölkerung zum Umfange der Stadt erklärte besser als alles andere, die ausgestorbene Leere, die wir überall bemerkten; denn nimmt man an, daß die Welt- und Ordensgeistlichen, die Nonnen und Beguinen, nach einer sehr gemäßigten Berechnung, zusammen den fünften Theil dieser Anzahl ausmachen, so begreift man leicht, wie nur so wenig Menschen übrig bleiben, die ihre Geschäfte zwingen, sich auf den Straßen sehen zu lassen. Wollte man fragen, wie es möglich ist, daß das berühmte, mächtige Mecheln so tief herabgesunken seyn könne; so würde ich auf eben diese ungeheure Anzahl von Geistlichen verweisen, die allmälig alle Bewegung gehemmt haben, und, indem sie sich auf Kosten der Einwohner erhielten, fast allein übrig geblieben sind. Außer den sechs Pfarrkirchen giebt es sechs Mannsklöster, zwölf Nonnenklöster und zwei Beguinenhöfe, in welchen letzteren allein nah an tausend Beguinen wohnen. Die Einkünfte dieser Geistlichkeit belaufen sich auf ungeheure Summen; die des Erzbischofs schlägt man auf hunderttausend Gulden an. Mich wunderte es daher nicht, daß auf unser wiederholtes Anfragen nach den Sehenswürdigkeiten von Mecheln, ein jeder uns an die Kirchen und Klöster verwies, und wir zuletzt bei dieser allgemeinen Armuth an Gegenständen, welche die Aufmerksamkeit des Reisenden verdienen, in eine Sägemühle an der Dyle geführt wurden. Nunmehr war es wirklich Zeit, unsern Schauplatz zu verändern. Wir eilten also in unser Quartier zurück, und nachdem wir noch zuvor in einigen Buchläden die fliegenden Blätter des Tages, deren jetzt eine ungeheure Menge ununterbrochen herauskommen, gekauft hatten, stiegen wir in einen Wagen und fuhren in starkem Trab auf dem schönsten Steindamm, durch Alleen von hohen Bäumen, die hier jedes Feld und jeden Rain begränzen, nach Brüssel.

Von Vilvoorden, einem kleinen, an dem Kanal zwischen Antwerpen und Brüssel gelegenen Städtchen, fuhren wir längs diesem Kanal in gerader Linie nach der Residenzstadt fort. Zu beiden Seiten erblickt man Landsitze mit prachtvollen Gebäuden, Gärten und dazu gehörigen Tempeln und Lusthäusern. Alles verkündigt die Annäherung zu einem reichen,[549] großen Orte, dem Wohnsitze eines zahlreichen, begüterten Adels und eines für den Genuß des Lebens empfänglichen Volks. Kurz vor der Stadt geht der Weg über den Kanal, durch eine Pflanzung von hohen Bäumen, die zugleich als öffentliche Promenade dienen kann. Die Gegend um Brüssel fängt wieder an, sich in kleinen Anhöhen angenehm zu erheben, deren einige sich den Mauern so sehr nähern, daß die zur Befestigung der Stadt nöthigen Außenwerke zum Theil darauf angelegt sind. Wir hätten gern gewünscht, diese Gegend in ihrem Sommerschmuck zu sehen, wo sie wahrscheinlich für den Freund des Schattens höchst anmuthig seyn muß. Um die Wälle läuft ein herrlicher Gang mit hohen Espen beschattet, und innerhalb der Thore öfnet sich dem Anblick eine Stadt, die den großen Residenzen Deutschlands, was Umfang, Volksmenge und, im Durchschnitt gerechnet, auch Pracht und Schönheit der Architektur betrift, vollkommen an die Seite gesetzt zu werden verdient. Wir fuhren lange durch breite und enge, reine und schmutzige Straßen, über große und kleine Plätze, bei stattlichen, öffentlichen Gebäuden und schönen Privathäusern vorbei, und kamen endlich über den großen Markt, wo das Rathhaus, eins der bewundernswürdigsten gothischen Gebäude steht, vor welchem wir die Freiwilligen von Brüssel und die neuerrichteten Dragoner sich eben versammlen sahen. Die brabantische Kokarde, die jedermann bis hinab auf die gemeinsten Tagelöhner aufgesteckt hatte, und dieses Militair, welches sich link genug bei seinen Waffenübungen benahm, nebst der Menge von Zuschauern, die uns zu erkennen gaben, daß dieses Schauspiel ihnen noch neu seyn müßte, waren die einzigen Kennzeichen, an denen sich die Revolution allenfalls errathen ließ.

Unser Gasthof war voll von Engländern; auch ging ziemlich allgemein die Sage, daß man im Begrif sei ein englisches Hülfskorps zu errichten, womit es jedoch wohl zu keiner Zeit Ernst gewesen seyn mag. Die Anwesenheit des Herzogs und der Herzogin von Devonshire schien auf die politische Lage von Brabant keine Beziehung zu haben. Wir hörten hie und dort, daß dies eine gewöhnliche englische Reise aufs feste Land sei, wodurch man Zeit zu ökonomisiren gewinnt; denn allzugroßer Aufwand erschöpft zuletzt auch die ungeheuersten Einkünfte.[550] Allein schwerlich konnte dieser Fall hier eintreten, weil der Herzog bei einer solchen Reise eben nicht spart. Diesen Zoll müssen indeß die Großen jederzeit von ihren disproportionirten Reichthümern und Besitzungen an das Publikum zahlen; ich meine, daß man, wegen der Höhe, die sie bestiegen haben, und von welcher sie auf das übrige Menschengeschlecht herabsehen, die Augen unaufhörlich auf sie gerichtet hält, ihre Bewegungen, eben weil sie sich nicht verbergen lassen, stets bewacht und ihnen allerlei Motive andichtet, von denen sie selbst sich oft nichts träumen ließen. Ein jeder allzureicher Privatmann, wird schon durch die Mittel zu wirken, die er in Händen hat, ein wichtiger Mensch im Staate, und in so fern muß er sich billig dem Urtheile seiner Mitbürger in dem Grade, wie die in öffentlichen Ämtern stehenden Personen, stellen und unterziehen. Die Natur verübt auch hierin die ihr eigene Gerechtigkeit. Das wahre, ächte, einzige Eigenthum ist in unserm Herzen und Verstande. Auf alle anderen erworbenen äußerlichen Güter behält der Nebenmensch immerfort einen natürlichen Anspruch, der, wenn man sich auch vermittelst des bürgerlichen Vertrags dessen begiebt, sich dennoch in der Freiheit und Unausbleiblichkeit des Urtheils über seine Anwendung immer wieder äußert. Je überwiegender der Einfluß ist, den ein Wesen in die Schicksale der Menschen hat, desto allgemeiner wird dieses Wesen für Alle ein Gegenstand des Nachdenkens, des Lobes und des Tadels. Daher giebt es nichts in der Welt, worüber täglich und stündlich so viele, und zugleich so schiefe Urtheile gefällt werden, als über die Sonne, die Natur und Gott.

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 2, Leipzig [1971], S. 544-551.
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