XIV

[551] Brüssel


Wir sind einige Tage nach einander ausgewesen, um die Stadt zu besehen. Sie ist sehr unregelmäßig gebauet: die Straßen laufen krumm, kreuz und queer durcheinander; viele sind indeß ziemlich breit, und fast durchgehends sieht man schöne oder wenigstens solide Häuser, die ein gutes Ansehen haben. Die meisten Privathäuser sind nach der Straße hin sehr schmal, und mit Giebeln, welche sich stufenweise zuspitzen,[551] versehen. Fast alles, die großen, massiven Gebäude ausgenommen, ist wie in den übrigen Brabantischen Städten, mit weißer Tünche überzogen. Die Gegend um den Park ist eine der schönsten, und würde in jeder großen Stadt dafür gelten. Massive, große Gebäude, von einfacher aber geschmackvoller Bauart zieren sie. Der Königsplatz, wo eine kolossalische Bildsäule des Prinzen Karl von Lothringen in Erz, vor der St. Jakobskirche, in einer Linie mit dem kühnen, leichten Spitzthurm des Rathhauses steht, ist mit eben solchen Gebäuden umringt. Der Gerichtshof von Brabant, oder das sogenannte Conseil, hält in einem neuen, von den Ständen errichteten Pallast, der nach dem Park hinsieht, seine Sitzungen. Die Hotels des Herzogs von Aremberg, des Vicomte von Walkiers, des englischen Gesandten, imgleichen das Wappenhaus u.a.m. stehen sämmtlich in dieser Gegend.

Seit sechzehn oder achtzehn Jahren hat Brüssel, zumal um den Park herum, eine neue Gestalt gewonnen. Die alten Gebäude, die man hier noch sieht, wie zum Beispiel die Reitbahn, stehen beinah unter der Erde; die neuen hingegen haben zwei oft drei Keller oder Souterrains über einander, indem man das Erdreich bis zu einer Höhe von dreißig Fuß und drüber aufgeschüttet hat, um die ehedem vorhandenen Unebenheiten auszufüllen. Der Park ist daher jetzt schon vollkommen geebnet, bis auf zwei Vertiefungen, welche noch vor kurzem Sümpfe waren, jetzt aber mit schönem, hohem Gebüsch bekleidet und mit festen Sandgängen ausgelegt sind. In einem dieser Gründe sahen wir eine Grotte mit einem Springbrunnen, der aber jetzt nicht floß. Das viereckte Becken von Stein unter der Nische, (worin eine lesende weibliche Figur von Marmor liegt) hat auf seinem Rande folgende merkwürdige Inschrift: Petrus Alexiowitz Czar Moscoviae Magnus Dux margini huius fontis insidens illius aquam nobilitavit libato vino hora post meridiem tertia die XVI. Aprilis anni 1717. Der große Stifter des russischen Kaiserthums hatte nämlich bei einem Gastmal, welches man ihm zu Ehren gab, ein wenig zu tief ins Glas gesehen. Indem er nun hieher spatzierte, um in der frischen Luft die Dünste des Weins verrauchen zu lassen, fiel er in das Wasserbecken, und es geschah, was die Inschrift sehr zierlich und fein mit dem libato vino ausdrückt.[552]

Der sogenannte große Markt ist wirklich nicht so groß, wie man ihn sich nach diesem Beinamen vorstellen möchte; allein das Rathhaus mit seinem hohen gothischen Thurme ziert diesen Platz und giebt ihm Ansehen. Das Einfache pflegt selten die stärkste Seite der gothischen Bauart auszumachen; bei diesem Thurme halten jedoch die vielen kleinen Spitzen und einzelnen Theile den Beobachter nicht ab, Einen großen Eindruck von kühn und leicht emporstrebender Höhe zu empfangen. Es wird immer den Gebäuden in diesem Geschmack zum Vorwurf gereichen, daß ihre Gestalten stachlicht und gleichsam zersplittert scheinen, zu scharfe, eckige, in die Länge gezerrte Verhältnisse und Formen darbieten und dem Auge keine Ruhe lassen. St. Michael steht nicht übel auf der Spitze dieses Thurms in kolossalischer Größe, die jedoch von unten immer noch klein genug erscheint, und mit dem besiegten Feinde zu seinen Füßen. Auf dem benachbarten Giebel des Brauerhauses steht des Prinzen Karl von Lothringen vergoldete Bildsäule zu Pferde lange nicht so schön, und gewiß nicht an ihrem Orte; allein die Brüsseler scheinen diesen Fürsten so lieb gehabt zu haben, daß sie ihn gern über ihren Köpfen reiten ließen.

Zu den Veränderungen in Brüssel muß man noch die seit der Aufhebung der Klöster angebauten Plätze rechnen, auf denen jetzt schon eine große Anzahl neuer Häuser stehen. Eins von diesen Klöstern, welches innerhalb der Stadt ansehnliche Gärten besaß, brachte durch seine Aufhebung zum erstenmal den Einwohnern und ihrem Handel einen wichtigen Vortheil, indem der Kaiser daselbst einen schönen, geräumigen Platz zum Kornmarkte einrichten ließ, auf welchem jeder Gattung von Getreide ihr besonderer Ort angewiesen ist; es stehen Pfähle errichtet, mit Brettern daran, worauf man »Bohnen, Buchweizen, Weizen, Roggen, Hafer, Gerste,« u.s.w. liest. In einer andern Gegend baute man nur noch im vorigen Jahre mehr als zwanzig neue Häuser auf den Schutthaufen eines Klosters. Diese Veränderungen und Verschönerungen einer Stadt, die, wenn man einzelne Gebäude ausnimmt, im Ganzen bereits an Schönheit mit Berlin verglichen werden darf, werden jetzt eine Zeitlang ins Stecken gerathen; wenigstens werden die noch übrigen Klöster vor der Hand wohl[553] mit dem Schicksal, das Joseph der Zweite ihnen drohete, verschont bleiben. Das fromme, katholische Volk von Brabant hängt mit ganzer Seele an seinem Herkommen in der Religion wie in der Politik, und wenn man es aufmerksam beobachtet, so begreift man nicht, wie es möglich und wirklich geworden ist, daß dieses Volk mit der Anstrengung eines Augenblicks seinen Oberherrn vertrieben hat.

Die große Masse des Volks in Brüssel ist, so viel ich nach dem Haufen urtheilen kann, der sich in den Straßen sehen läßt, nichts weniger als eine schöne Race. Sei es verderbte Lebensart, Eigenheit des hiesigen Bodens, oder Einwirkung der Verfassung und anderer zu wenig bekannter Umstände; aber gewiß ist es, daß das gemeine Volk eher unter, als über der mittleren Statur gerechnet werden muß. Besonders ist dies an dem andern Geschlechte auffallend sichtbar, das überdies noch im Verhältniß des Körpers kurze Arme und Beine hat. Ihre Gesichtszüge kann man nicht eigentlich häßlich nennen; allein bei einer ziemlich regelmäßigen Bildung ist etwas Schlaffes und Grobfleischiges zugleich bemerklich, welches das physiognostische Urtheil von gutmüthiger Schwäche und uninteressanter Leere nach sich zieht. Jene schönen vollwangigen Gesichter mit hoher Stirne und schöngebogener Nase, mit Feuer im großen Auge, starken Augenbraun und scharfgeschnittenem weitem Munde, die uns im Limburgischen und selbst noch in dem an Lüttich gränzenden Tirlemont gefielen, sahen wir hier nicht wieder. Es scheint, als hätte auf dem niederländischen Grunde der französische Firniß die Züge nur mehr verwischt, nicht charakteristischer ge macht. Dies kann vielleicht paradox, vielleicht gar unrichtig klingen; allein ich bin für mein Theil überzeugt, daß auch ohne wirkliche Vermischung der Racen, bloß durch das Allgemeinwerden einer andern als der Landessprache, durch die vermittelst derselben in Umlauf gekommenen Vorstellungsarten und Ideenverbindungen, endlich durch den Einfluß, den diese auf die Handlungen und auf die ganze Wirksamkeit der Menschen äußern, eine Modifikation der Organe bewirkt werden kann. Rechnen wir hinzu, daß von alten Zeiten her Ausländer über Brabant herrschten; daß Brüssel lange der Sitz einer großen, glänzenden Hofstatt war; daß auch mancher ausländische[554] Blutstropfe sich in die Volksmasse mischte; daß der Luxus und die Ausschweifungen, die von demselben unzertrennlich sind, hier in einem hohen Grade, unter einem reichen, üppigen und müßigen Volke seit mehreren Jahrhunderten im Schwange gingen: so kann die besondere Abspannung, die wir hier bemerken, sich gar wohl aus natürlichen Ursachen erklären lassen. Es ist indeß nicht der niedrige Pöbel allein, dessen Gestalt zu jener Skizze paßt; das ganze Corps der freiwilligen Bürger, das wir täglich auf dem Markte sehen, und dessen Glieder wenigstens bemittelt genug sind, um auf eigene Kosten alles, was zu ihrer Equipirung gehört, sich anzuschaffen, ja, unter denen viele ein reichliches Einkommen haben; dieses Corps, sage ich, so schön es gekleidet ist, so eine kriegerische Mine es macht, und so viel Standhaftigkeit und Edelmuth es wirklich beseelen mag, besteht gleichwohl durchgängig aus kleinen, schmächtigen Menschen, auf deren Wange selten einmal etwas von einer martialischen Farbe glüht.

Die Hauptkirche zu St. Gudula ist ein ungeheures, altes Gebäude von ehrwürdigem Ansehen, inwendig mit einer sehr großen Anzahl von Kapellen ausgeschmückt. Die vornehmste, des wunderthätigen Sakraments, bot uns den schönsten Rubens dar, den wir bis jetzt gesehen hatten, den schönsten, ich sage es dreist heraus, den ich von seiner Hand nicht übertroffen zu sehen erwarte. Das Süjet, welches er sich gewählt hat, ist Christus, indem er Petro die Himmelsschlüssel übergiebt. Es herrscht eine erhabene, göttliche Ruhe in dieser schönen Gruppe von Köpfen, deren Kraft und Glanz so frisch ist, als wären sie gestern gemalt. Die Farben haben einige Härte, die man über den Eindruck des Ganzen nicht merkt. Der Christuskopf ist schön und sanft, nur diesmal gar zu still und unbeseelt. Die Künstler scheinen mannichmal zu wähnen, daß die Sanftmuth des Dulders sich nicht zu innerem Feuer gesellen dürfe, durch welches sie doch erst ihren größten Werth erhalten muß; denn sanft sind ja auch die frommen Thiere, die einen hier, am unrechten Orte angebracht, um das allegorische: weide meine Schafe! anzudeuten, wirklich ärgern. Die linke Hand des Heilands ist von großer Schönheit, wie jene berühmte Hand von Carlo Dolce in Düsseldorf. Petrus, der sich über die rechte Hand seines Herrn beugt, ist ein Kopf voll[555] Hingebung, Vertrauen, Glauben und Festigkeit. Jakobus ist alt und ehrwürdig; die andern beiden Köpfe, von weniger Bedeutung, dienen jedoch zur Verschönerung der so groß gedachten Gruppe. Das Bild ist nur ein Kniestück. Von den vielen Gemälden von Crayer, Coxis, van Cleef, Champagne, Otto Venius und Andern, welche die zahlreichen Kapellen dieser Kirche zieren; von den Statüen der Heiligen, den kostbaren Altären, den gemalten Fenstern, und den Mausoleen kann ich nach dem Anblick eines solchen ächten Kunstwerks nicht sprechen. Das wahrhaft Vollendete der Kunst füllt die Seele so vollkommen, daß es für geringere Gegenstände keinen Platz darin läßt.

In der zum großen Beguinenhofe gehörigen Kirche sahen wir an dem Altar zur Rechten ein schönes Gemälde von Crayer; es war eine Kreuzigung Christi. Der Kopf des Erlösers war edel und sogar erhaben; Johannes nicht schön, aber von bewunderswürdigem Ausdruck. Den Blick auf den Gekreuzigten gerichtet, scheint er fast noch mehr als dieser zu leiden. Die Muttergottes ist nicht so glücklich gefaßt, aber dennoch von unverzüglicher Kraft, und schön drappirt, zumal um den Kopf. Die Magdalene zu den Füßen des Kreuzes ist ebenfalls ihres Platzes in diesem Stücke würdig, wiewohl sie mit dem Johannes nicht verglichen werden kann. Die Farbe des Stücks ist wahr, und der Ton in schöner Harmonie. Die Gruppe ist einfach und natürlich; kurz, so wenig es mir gegeben ist, mit Enthusiasmus und Liebe an einer der Kunst so heterogenen Wahl zu hangen, so unverkennbar ist Crayers Verdienst in der Behandlung. Unmöglich konnte man einen Gegenstand, der an sich das Gefühl so fürchterlich verletzt, wie die Marter des menschlichen Körpers, auf eine interessantere Weise darstellen, so daß man über den Geist und den Adel der Charaktere beinahe die Gräßlichkeit des körperlichen Leidens und der vom Henker verzerrten Gestalt vergißt.

Die St. Jakobskirche am Königsplatz, sonst auch die Kirche vom Kaudenberg genannt, überraschte uns nach so vielen theils gothischen, theils in einem barbarischen Geschmack mit Kleinigkeiten und Spielereien überladenen Kirchen, auf eine sehr angenehme Art. Ihre äußere Facciate ist edel und groß, und hat nur den Fehler, daß sie zu beiden Seiten zwischen[556] Häusern steckt, die zwar nicht übel gebaut, aber doch keinesweges an ihrem Platze sind, und den übrigen Bau der Kirche verstecken. Die Basreliefs im Fronton und über der Thüre sind unbedeutend; aber in der schönen korinthischen Architektur ist Reichthum mit Simplicität auf die glücklichste Art verbunden. Noch mehr gefiel mir der Anblick des Inneren von diesem höchst regelmäßigen Tempel. Die Proportionen der korinthischen Säulen sind untadelhaft, ihre Kapitäler schön geschnitzt, und die Dekorationen der Kuppel, der Bogen und der Soffiten von ausgesuchter Schönheit und Eleganz. Die ganze Form des Schiffs, und die Verhältnisse des Kreuzes entzücken das Auge, und diese durch keine kleinliche, unnütze Zierrathen verunstaltete, durch nichts Heterogenes gestörte Harmonie wird durch die weiße Farbe, womit die ganze Kirche überzogen ist, noch erhöhet. Hier ruhet das Auge und der Geist; hier fühlt man sich wie zu Hause, und glaubt an die Verwandtschaft des Bewohners mit unserm Geiste; hier ist nichts Finsteres, nichts Schauerlicherhabenes. Größe ist es, mit gefälliger Grazie, mit Schönheit und Liebe umflossen. Die Verschwendung der köstlichsten Marmorarten in den hiesigen Kirchen beklagten wir erst recht lebhaft, nachdem wir dieses schöne Gebäude betrachtet, und uns vorgestellt hatten, welch einen herrlichen Effekt es machen würde, wenn man sie hier angewendet und die Vollkommenheit der Form durch die Pracht und Vortreflichkeit des Stoffs erhöhet hätte. Aber, daß sich nur niemand in Zukunft auf den Geschmack der vermeinten Kunstkenner verlasse! Diese Kirche und Crayers Gemälde bei den Beguinen hatte man uns mit Achselzucken genannt. Dafür loben sie uns das Portal der Augustinerkirche und Landschaften von Breughel!

Der Abbé Mann, ein alter Engländer, verschaffte uns Gelegenheit, das Gemäldekabinet des hiesigen Banquiers, Herrn Danhot, zu sehen, und ich kann nicht zu früh von dieser vortreflichen Sammlung sprechen, die mich mitten in Brüssel so angenehm an italienische Kunst und ihre Vollkommenheit erinnerte. Ich sage Dir nichts von dem schönen Lukas van Leyden, dessen Verdienst in seinem Alterthum besteht; von den kleinen Stücken, worunter ein Miris befindlich ist, der dem Eigenthümer viertausend Gulden gekostet hat; von den meisterhaften[557] Landschaften des wackern van Goyen; von dem Salvator Rosa, dem Bassano, den Teniers groß und klein, fünf an der Zahl, so schön ich sie je gesehen habe; von dem S. Franziskus von Guido, und einer Jungfrau, angeblich von demselben Meister, die ich aber beide für Kopien halte; von den zwei Obst naschenden Knaben des Murillo, die, wie alles von diesem Künstler, aus der Natur leibhaft ergriffen sind; ich mag nicht von van Dyk's schönen Skizzen sprechen, worunter besonders die Abnehmung vom Kreuze so lieblich gedacht ist, daß man den Tod des Adonis zu sehen glaubte, wenn nicht ein Priester im Meßgewande vorn die Illusion zerstörte; nicht von Rembrandts zwey unnachahmlichen Porträten, dem Maler und dem Philosophen; nicht von dem vermeintlichen Raphael, der diesen Namen nicht verdient; nicht von Rubens Sabinerraub, von seiner Bürgerschaft von Antwerpen vor Karln dem Fünften; nicht einmal von seiner Rückkehr aus Ägypten, mit Figuren in Lebensgröße, wo Gott der Vater sehr gemächlich in den Wolken sitzt, der Christusknabe hingegen mit einem lieblichen Kopf, eine vorzügliche Leichtigkeit im Gange hat. Was konnte ich von diesem Reichthum noch sehen, nachdem ich eine Danaë von Tizian, und ein Porträt der Frau des Malers Joconde, von Leonardo da Vinci's Hand gesehen und verschlungen hatte? Die Danaë ist eine köstliche Figur; sie liegt da und lebt. Mehr wird kein Mensch zu ihrem Lobe sagen können. Farbe, Gestalt der Muskeln, Frische und Sammetweiche der Haut, sind wahr bis zum Angreifen, und in der Fülle der Reize. Es ist nur Schade, daß der große Meister diesem schönen Körper keine Seele schuf; der leere Kopf mit den geschlossenen Augen ist auszeichnend häßlich; man möchte ihn aus dem Bilde herausschneiden, damit er dessen Harmonie nicht störte. Frau Joconde erinnerte mich augenblicklich an mein Lieblingsbild in der Landgräflichen Galerie zu Cassel, wo dem Künstler genau dasselbe Gesicht zu einer himmlischen Madonna gedient haben muß. Das Kolorit des hiesigen Stücks hat indeß vor jenem einen entschiedenen Vorzug. Sie hält die eine Hand mit einer Aglaienblume ein wenig steif nach Art der älteren Maler empor; in der andern hat sie blühenden Jasmin, und im Schooße liegen noch einige Blumen. Ein wenig Härte und Trockenheit[558] mag immer der Pinsel beibehalten haben; es ist doch unmöglich eher daran zu denken, als bis man an den Wundern der Zeichnung geschwelgt hat, und einen Vorwand sucht, um endlich sich loszureißen. Umsonst! diese kleinen Unvollkommenheiten, die so innig in der Schönheit und dem Seelenadel des Weibes verwebt sind, werden bei ihr zu neuen Fesseln für unser Auge und für das Herz. Man überredet sich gern, daß etwas so Vortrefliches nicht anders, als wie es ist, vortreflich seyn könne, und liebt den Flecken um des Platzes willen, den man ihm beneidet. Die Natur hat die Talente nicht vereinigen können, nicht Tizian's Sinn für den zarten Hauch des Lebens, mit unseres Leonardo's leiser Ahndung des Seelenausdrucks! Sie gehen also wohl nicht beisammen, und wir begnügen uns, – begnügen? so vermessen dürften wir vom Genusse der edelsten Schöpfungen des Genius sprechen? – wir sind überglücklich, uns in den Gesichtspunkt eines jeden einzeln zu versetzen, und ihre Seele in einer Sprache von unaussprechlichen Ausdrücken mit der unsrigen in Gemeinschaft treten zu lassen. Ein jeder wähle, was ihm frommt! ich halte mich hier an den Zauberer, der Geister vor mir erscheinen läßt; wohlthätige Erscheinungen, die, einmal gesehen, ewig unvertilgbare Spuren ihres Daseyns im Innern des Schauenden hinterlassen. Ist das eines Malers Frau? dann werft eure Palletten weg, ihr anderen Maler, wenn ihr Madonnen und Engel, die seligen Bewohner des reinen Äthers, malen sollt. Sie hat in sich die Fülle alles dessen, was Andern Regel und Muster ist; ihr selbst unbewußt, denn sie kennt weder Regel noch Muster. Ihr Sinn ist Jungfräulichkeit, ihr Thun lauter, wie das Element, in dem eure Götter athmen; Sanftmuth und die äußerste Feinheit umschweben ihren wahren, zarten Mund; unbeschreiblich leise sinnt es nach in ihr, im Eindruck des Kopfs um die Gegend der Schläfe; heilig und rein ist das große niedergeschlagene Augenpaar, das die Welt in sich aufnimmt, und sie schöner wiedergiebt. Wer möchte nicht unsichtbar sie umschweben, in ihrer dunklen Grotte, deren Grund fast nicht zu erkennen ist, wo sie einsam und in stiller Ruhe die Natur der Blüthen ergründet, sie selbst die zarteste und schönste der Blüthen! Die Mauerraute wuchert in den Ritzen der feuchten Felsenwand, und die Ranken des Zimbelkrauts[559] hangen üppig daran herunter und wollen gedrückt seyn von Ihr! Alles ist vollendet, und bis auf die zartesten Merkzeichen ausgemalt, alles in seinen unbedeutendsten Umrissen wahr und bestimmt. O Carlo Dolce! wehe dem, der von einem solchen Meister wie Leonardo da Vinci nicht lernte, die Sorgfalt der Natur von der ekelhaften Pinselei der Manier unterscheiden![560]

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 2, Leipzig [1971], S. 551-561.
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