Neunundzwanzigstes Kapitel

[283] Sender ließ sich eine Schlafkammer anweisen und in der Wirtsstube ein Mittagessen auftragen. Gottlob, der Kellner kannte ihn nicht und fragte daher nicht auch nach seinen Löckchen, wohl aber, ob er abends das Theater besuchen wolle, und als Sender bejahte, griff er in die Tasche und legte eine Karte vor ihn hin. »Sperrsitz ersten Ranges, vierzig Kreuzer. Nummer sechs. Erste Bank. Von dem Platz sieht man am besten!«

»Habt Ihr keinen billigeren?« fragte Sender.

»Ein Herr wie Ihr!« rief der Kellner, »ein ›Deutsch‹, der keine Löckchen mehr trägt und einen kurzen Rock. Der zweite Rang kostet dreißig Kreuzer – oder zwanzig – ich weiß wirklich nicht genau, denn mit Leuten, die dorthin gehen, hab' ich nichts zu tun. Aber auf diesem Platz ist vorgestern der Herr Kreishauptmann gesessen und gestern der Herr Oberst. Auch sieht man vom zweiten Rang nichts.«

Das gab den Ausschlag. Sender zählte ihm die vierzig Kreuzer zu. »Habt Ihr keinen Zettel?« fragte er.

»Nein. Aber am Tor klebt einer. Es werden täglich nur sechs gemalt, weil wir ja hier noch sehr zurück sind. Gibt es denn in Zalefzczyki eine Druckerei? Aber halt – an der Kasse hängt ein Zettel, den bring' ich Euch.«

Er stürzte ab und brachte dienstfertig den Zettel herbeigeschleppt. Es war ein Riesenblatt, aus mehreren Bogen roten Papiers zusammengeklebt und mit einem Pinsel bemalt. Ein dicker Strich schied ihn in zwei Hälften. Die linke wies hebräische, die rechte lateinische Lettern. Beide Texte waren hochdeutsch und besagten ungefähr dasselbe, aber nur eben ungefähr.

Der Zettel lautete:


29. Kapitel

Bis Sender den Riesenzettel in seinen beiden Hälften zu Ende gelesen, war ihm der Braten kalt geworden, und dann konnte er vor Ärger kaum essen; Moskal konnte sich über seinen Anteil nicht[285] beklagen. »Diese Gauner«, murmelte er in sich hinein, »allen wollen sie es recht machen und lügen das Blaue vom Himmel herunter. Und das sind auch Künstler. Habt ihr solche Zettel beim Herrn Nadler gelernt, ihr Halunken?« Fast am meisten ärgerte es ihn, daß sie dessen Namen zu mißbrauchen wagten. »Na, wartet, das wird er euch legen!«

Vieles an dem Zettel war ihm rätselhaft und reizte seine Neugierde, aber er mochte gar nicht wieder hinsehen. »Gesindel, eure Vorstellung will ich mir ansehen – wird auch was Schönes sein! Aber sonst seid ihr keinen Gedanken von mir wert!« Er zahlte und ging, sich die Stadt zu besehen, die er noch nie bei Tage gesehen; er hatte als Fuhrknecht da immer nur übernachtet.

Als er aus dem Tore trat, hörte er plötzlich rufen: »Pojaz – du hier?« Es war der Wirt, bei dem er damals zu übernachten pflegte. »Und bist nicht zu mir gekommen? Aber wo sind deine –?«

»Meine Löckchen geblieben?« rief Sender wütend. »Der Teufel hat sie zuerst geholt, nun kommt er über die Eurigen!« und er ließ den verblüfften Mann stehen und rannte davon.

»Recht war's nicht«, dachte er dann. »Aber dies viele Fragen macht einen ganz wild. Das muß aufhören. Ob ich mich hier ganz zum ›Deutsch‹ mache oder erst in Czernowitz, ist ja gleichgültig. Dann erkennt mich keiner mehr!«

Er trat in eine Barbierstube und ließ sich das Haar stutzen, den Schnurr- und Backenbart abrasieren. Der Barbier, ein Jude tat es unter Kopfschütteln. »Wie ein Schauspieler«, sagte er, »das hat noch kein jüdisch Kind von mir verlangt. Zuerst die Löckchen –«

Sender warf sein Geld hin und schoß zur Tür hinaus. Unweit davon war ein Kleiderladen. Der Besitzer, gleichfalls ein Jude, sah ihn groß an, als er ihn fragte, ob er ihm für seinen Mantel und Kaftan sowie eine Draufgabe in Barem einen deutschen Anzug und einen modern geschnittenen Mantel eintauschen wolle. »Es kommt auf die Draufgabe an«, sagte er endlich langgedehnt und brachte seine Ware herbei. Sender mußte lange probieren, bis sich etwas Passendes fand, und dann noch länger feilschen, der Händler forderte einen unverschämten Preis. »Der Kaftan ist ja nichts nütz«, sagte er, »den hat kein Schneider abgeschnitten.« Erst als Sender davonging, lief er ihm nach und gab sich mit zwanzig Gulden zufrieden. Nachdem der junge Mann im Hintergrund des Ladens die Kleider angezogen, trat er vor den Spiegel. Er kam sich in der ungewohnten Tracht recht seltsam vor, auch der Hund bellte plötzlich auf, als ob er ihn nicht erkenne, oder doch um seine Verwunderung auszudrücken.

Seufzend zahlte Sender die zwanzig Gulden auf den Tisch, nun blieben ihm noch dreizehn. »Ihr seid ein rechter Räuber«, sagte er, »es sind ja keine neuen Kleider.«

»Aber von einem Grafen abgelegt«, erwiderte der Händler. »Übrigens[286] – ich will nicht lügen. Daß Ihr's nur wißt, jeder Christ hätt's billiger bekommen. Aber einem zum Abfall verhelfen, ist eine Sünde, dafür will ich bezahlt sein. Wie lang mag's her sein, daß Ihr Eure Löckchen –«

»Schweigt!« donnerte Sender und lief davon. »Aber nun wenigstens hat's ein Ende!« dachte er.

In der Tat, im nächsten Laden, beim Hutmacher, wurde er bereits mit »Herr« angesprochen, also wohl gar nicht mehr als Jude erkannt. Noch mehr, unaufgefordert reichte ihm der Handwerker einen riesigen, weichen Filzhut hin. »So einen hat mir auch der Herr v. Hoheneichen abgekauft«, sagte er. Sender sah also sogar schon wie ein Schauspieler aus. Aber sein Stolz darüber minderte sich, als der Hutmacher, während er vor den Spiegel neben der Tür trat, sich vor dieselbe hinstellte und sogar ängstlich die Hand auf die Klinke legte. Moskal ließ wieder sein Bellen hören, aber Sender fand, daß ihm der Hut ausgezeichnet stehe, und kaufte ihn nach längerem Feilschen um drei Gulden, die Bauernmütze gab er drauf. Beim Anblick des Geldes erhellte sich das Antlitz des Meisters. »Wenn Sie vielleicht«, bat er, »Ihren Herrn Kollegen, den Herrn v. Hoheneichen, auch erinnern wollten ...«

»Ich kenn' ihn nicht«, erwiderte Sender stolz. »Ich bin freilich auch Schauspieler, aber nicht bei der hiesigen Schmiere, sondern Mitglied des Stadttheaters in Czernowitz. Unter der echten Direktion Nadler ...«

»Das hätt' ich mir denken können«, sagte der Hutmacher ebenso devot wie traurig. »Die Hiesigen zahlen nie ...« Er riß respektvoll die Tür auf, und Sender schritt erhobenen Hauptes auf die Straße.

Die Dämmerung war eingebrochen, aber die Wärme gegen den Vormittag nur noch gestiegen, von allen Dächern triefte es nieder, durch die durchgeweichten Straßen flossen Bäche; aller Schnee schien auf einmal wegzuschmelzen. Der Westwind war stärker, aber auch noch schwüler geworden; fast erschlaffend legte sich sein Hauch um die Glieder, daß Sender kaum den Mantel ertrug, obwohl er viel leichter war als der alte, solide, der ihn so lange treu vor Wind und Wetter geschützt. Es war unbehaglich auf der kotigen Straße, er wollte eben in seinen Gasthof zurückkehren, als plötzlich die Worte an sein Ohr schlugen: »Das Wasser steigt! Nun kracht's auch schon im Eis!«

Ein Herr hatte es dem anderen zugerufen, beide eilten nun zum Dniester hinab. »Das wäre eine schöne Bescherung«, dachte Sender erschreckt und folgte ihnen. »Zehn Gulden hab' ich noch, das reicht knapp zur Zehrung und Reise bis Sonntag abend. Ich werd' ohnehin fast ohne Heller in Czernowitz ankommen. Geht mir nun die Schiffbrücke vor der Nase weg –«

Aber so bedrohlich sah es am Dniester noch nicht aus. Die Brücke unten war nun mit Fackeln beleuchtet, die Bastion voll von[287] Menschen, die sich neugierig das ungewohnte Schauspiel besahen, Angst schien niemand zu empfinden. Das Wasser war gestiegen, aber man hatte auch die Ketten höher gewunden, so daß die Bohlen wieder über der Flut lagen; der Verkehr über die Brücke währte fort und wurde nur zeitweilig unterbrochen, wenn es die Arbeit der Pioniere erforderte; hatten sich Baumstämme und sonstiges Trümmerwerk an der Brücke angesammelt, so hoben sie es mit Spießen und Stangen aus der Flut, schleiften es über die Brücke und warfen es auf der anderen Seite wieder in die Strömung. Unheimlich war nur das Krachen im Eis, ein seltsamer Ton, dumpf einsetzend, dann immer heller und durchdringender anschwellend, als schnitte eine Riesenfaust eine ungeheure Glastafel entzwei, dann in einer Art Glucksen verhallend, dem Geräusch des Wassers, das in den Riß eindrang und ihn erweiterte.

Inmitten einer andächtigen Schar von Zuhörern stand ein dicker, alter Herr und perorierte heftig. »Nur keine Angst«, rief er, »vom Oberlauf ist noch kein Telegramm da. Ihr seht, ich habe noch nicht einmal den Mörser aufstellen lassen. Vor dem Montag kommt der Eisstoß nicht. Geht heim – ich wache!«

Ein jüdischer Greis in seidenem Kaftan – es mußte ein Vornehmer sein – drängte sich durch die Reihen. »Herr Bürgermeister«, rief er atemlos, »da hab' ich ein Telegramm bekommen –«

»Woher?«

»Aus Barnow!«

»Haha!« rief der Bürgermeister. »Seit wann liegt Barnow am Dniester?« Auch die Umstehenden lachten.

»Aber es ist wichtig!« erwiderte der Jude und sprach flüsternd auf den Bürgermeister ein. Aber der hörte ihn kaum an. »Ein andermal, Herr Silberstein. Jetzt hab' ich keine Zeit für Eure jüdischen Sachen.«

»Was mag das sein?« dachte Sender mehr neugierig als besorgt. Ihn konnte es doch unmöglich betreffen, er war ja kein Dieb, den man telegraphisch verfolgen konnte. Und für sein Fortkommen am Sonntag brauchte ihm nun auch nicht bange zu sein.

Er ging in den Gasthof zurück. Im Torweg stand die dicke Wirtin und hielt ihn an, als er vorbei wollte. »Wohin wünschen der Herr?«

»Nummer neun«, erwiderte er kurz.

Da riß sie die Augen weit auf und schlug die Hände zusammen. »Ihr seid es! Also ein Spieler wollt Ihr – wollen Sie werden?«

Ähnlich empfing ihn der Kellner in der Wirtsstube, Sender fühlte sich sehr gehoben – kein Zweifel, wie ein Schauspieler sah er nun wirklich aus. Aber auch hier bekam er sofort die Kehrseite der Medaille zu sehen. Als ihm der Kellner das bestellte Fläschchen Moldauer brachte, blieb er am Tische stehen und sagte: »Verzeihen der Herr – hier wird gleich bezahlt.«

Lächelnd zog Sender seine Brieftasche und holte, ohne hinzusehen,[288] die Zehnguldennote hervor. Das machte sich großartig und war doch kein Kunststück, sonst war nichts mehr drin.

Der Kellner wechselte. »Entschuldigen der Herr«, stotterte er, »die hiesigen Schauspieler ...«

»Glaub ich gern«, sagte Sender herablassend. »Wir vom Czernowitzer Stadttheater kennen diese Leute auch.«[289]

Quelle:
Karl Emil Franzos: Der Pojaz. Königstein/Ts. 1979, S. 283,290.
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