Dreißigstes Kapitel

[290] Der Kellner schlich hinaus. Offenbar gab er draußen seine Erfahrung zum besten: die Wirtin erschien und fragte, ob er nicht ein besseres Zimmer befehle. Sender lehnte dankend ab. Und kaum daß sie gegangen, trat der schlanke Blonde ein, den Sender bei der Ankunft gesehen, und eilte mit erhobenen Armen auf Sender zu, als ob er ihn umhalsen wollte. Aber Moskal richtete sich drohend auf und knurrte ihn grimmig an. So konnte er nur aus einiger Entfernung rufen: »Ein Kollege! ... Auf Durchreise? ... Welche Freude!«

»Kusch dich, Moskal«, befahl Sender dem Hund. »Ja«, erwiderte er sehr kühl, »Schauspieler bin ich allerdings« – »Aber nicht dein Kollege«, fügte er in Gedanken hinzu.

Der Blonde kam heran, nun mit gesenkten Armen. »Hermann Dagobert v. Hoheneichen«, sagte er mit leichter Verbeugung. »Erster Liebhaber, Held, Charakterspieler, Bonvivant.«

Sender erhob sich halb vom Stuhl. »Alexander Kurländer.« »Was soll ich noch sagen«, dachte er. »Mir scheint, ich werd' Charakterspieler, aber das muß ja erst Nadler bestimmen.« So sagte er denn gar nichts.

»Kurländer?!« rief Hermann Dagobert v. Hoheneichen. »Wirklich? – Alexander? – der berühmte Kurländer? O welche Freude!« Er ergriff Senders Hand. »Wie oft hab' ich schon von Ihnen gehört! Sie sind ja ein Pfeiler, ein Stolz der deutschen Kunst. Kurländer in Zaleszcyki!« Er fuhr sich an die Stirne, als mache ihn die Freude fast verrückt. »Welch glücklicher Zufall!«

Sender war einen Augenblick verblüfft. »Sollte es wirklich einen berühmten Kurländer geben?« dachte er. Als aber der andere ungestüm rief: »Die Freude muß ich begießen! Heda, Wirtshaus –« da wußte er Bescheid.

»Sie irren,« sagte er. »Ich bin durchaus nicht berühmt. Ich –«

»Welche Bescheidenheit!« rief Hoheneichen und nahm am Tische Platz. »Ja, so ist die echte Größe! Ich – ich kann mich ja mit Ihnen nicht messen, aber bescheiden bin ich auch. Nur muß alles seine Grenzen haben! Sie nicht berühmt? Wer wäre es dann? Man hat Sie ja wiederholt den zweiten Dawison genannt! Wer war's nur? Saphir – richtig – Saphir! Er, der sonst jeden verreißt – das[290] heißt, mich hat er auch gelobt, wiederholt und sehr, Kollege – Sie also hat er in den Himmel gehoben.« Das strömte wie ein Sturzbach, er sprach einen hohen, heiseren Tenor und stieß etwas mit der Zunge an. »Und war ich denn nicht selbst dabei, als Sie das ganze Haus zu Beifallsstürmen hinrissen? Auch ich applaudierte wie besessen. Wo war es nur? In Wien? In Berlin? Aber das ist ja gleichgültig. Wirtshaus – wo steckt der Kerl!«

Der Kellner stürzte herbei. »Auch mir so eine Flasche.«, befahl Hoheneichen.

Der Kellner blickte Sender fragend an. Dieser schüttelte den Kopf.

»Sie irren«, wiederholte er nachdrücklich. »Ich bin ja noch niemals aufgetreten. Gesehen haben wir uns freilich schon, aber daran werden Sie sich nicht erinnern.« Der Sprachfehler des Künstlers hatte ihn auf die richtige Spur gebracht. »Vor zwei Jahren in Czernowitz, nach der Vorstellung des ›Kaufmann von Venedig‹. Sie waren der Antonio. Sie sind damals mit am Tische des Herrn Nadler gesessen und haben sich vor Lachen über mich ausschütten wollen. Ich hab' dem Herrn Direktor erzählt, wie mir die Vorstellung gefallen hat.«

»Das waren Sie!« rief Hoheneichen, ergriff Senders Hand und schwang sie wie einen Pumpenschwengel hin und her. »Der junge, blasse Student waren Sie? Und nun haben Sie es schon so weit gebracht? Es ist erstaunlich! Aber nein, es ist nicht erstaunlich. Es bestätigt nur, was ich immer sage. ›Kinder‹, sag' ich, ›paßt auf die akademische Bildung!‹ Ja, das ist kein leerer Wahn! Wir alten Studenten kommen auch beim Theater am raschesten vorwärts und nicht die Schneider und Barbiere! Prosit! – Vivat academia! ... Kellner, wo bleibt mein Wein?«

Der Kellner rührte sich nicht. Auch Sender blieb hart. »Schon wieder ein Irrtum«, sagte er, »ich war ja damals nicht Student, sondern Fuhrknecht ...«

»Was waren Sie?« Einen Augenblick stockte der Sturzbach, aber auch nur einen. »Oh, auch ein schöner Beruf. ›Wenn die Peitsche knallt ...‹ Und umso ehrenvoller, daß Sie sich so rasch emporgearbeitet haben!«

»Nun, das muß sich ja erst zeigen. Aber ich vertraue auf den Herrn Nadler. Er ist ein braver Mann und versteht seine Sache.«

»Das ist er«, rief Hoheneichen. »Bei Gott ja! Ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle! Das heißt, Fehler hat er auch, wie jeder Mensch. Kollege, Sie sind jung, unerfahren, gestatten Sie mir ein offenes Wort. Nadler ist gegen den Anfänger wohlwollend, gegen den fertigen Künstler hart, da regt sich sein Neid. Je talentvoller ein Mitglied ist, umso seltener beschäftigt er es. Ich weiß ein Lied davon zu singen. Was bekam ich, der in Wien, in München, in Berlin ein Liebling des Publikums war, zuletzt zu spielen? Darum bin[291] ich von ihm gegangen, das heißt darum allein nicht. Er ist ja auch ein Schwindler, der Gagen verspricht und keinen Heller zahlt. Er ist uns ja im vorigen Jahr durchgebrannt und hat uns sitzen lassen. Lassen Sie sich das erzählen, Kollege, es wird Ihnen sehr interessant, sehr nützlich sein. Sehr!« Er hob den Finger. »Es ist meine Pflicht, Sie vor diesem Schurken zu warnen. Aber mit trockener Kehle kann ich es nicht, lassen Sie uns eine Flasche trinken – es ist ja unter Kollegen gleichgültig, wer sie bezahlt!«

»Unter Kollegen – mag sein!« erwiderte Sender. »Aber wer auf Nadler schimpft und so lügt, ist nicht mein Kollege. Sie sind ihm durchgebrannt, weil Sie der Stickler aufgestachelt hat, und haben sich dadurch, wie es scheint, nicht gerade gut gebettet. Und statt sich selbst anzuklagen, verleumden Sie Nadler?«

Der Schauspieler fuhr empor, ebenso Sender. »Das wird eine Szene geben«, dachte er. »Gleichviel, ich war es Nadler schuldig.« Wohl streckte der Künstler die Hand gegen Sender, aber nur, um sie gerührt auf seine Schulter zu legen.

»Sie haben recht, Kollege«, sagte er, »in allem! Ich weiß es zu schätzen, wie mannhaft Sie da für Ihren Direktor eingetreten sind. Auch ich bin ja ein Charakter, nicht bloß ein Talent. Zum Glück ist zwischen unseren Ansichten kein gar so großer Unterschied; wir können einander entgegenkommen, ohne uns selbst etwas zu vergeben. ›Ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle –‹ so war mein Urteil über Nadler; ich bitte Sie, dem zuzustimmen! Dafür bin ich bereit, Ihnen zuzugeben, daß es töricht von mir war, den Einflüsterungen dieses elenden Sticklers zu folgen und das Engagement einseitig zu lösen. Und recht haben Sie auch, daß ich es zu bereuen habe.« Er fiel schlaff auf den Stuhl nieder. »Das ist ja ein Hundeleben! Ein Mann von uraltem Adel, ein Hoheneichen! Wissen Sie, was das heißt? Gegen uns sind die Habsburger Parvenüs. Ein Hoheneichen war im dritten Jahrhundert deutscher Kaiser!«

»Entschuldigen Sie zur Güte«, unterbrach ihn Sender. »Das ist schon wieder ein Irrtum. Ich hab' die ganze Weltgeschichte durchgelesen. Aber daß Sie es hier nicht gut haben, glaub' ich gern.«

»So stimmen wir also in allen Hauptsachen überein«, rief Hoheneichen begeistert und reichte ihm über den Tisch die Hand hin. »Wir müssen Freunde werden, lieber Kurländer, die Natur selbst hat uns zu Freunden bestimmt. Wie Sie in meiner Seele lesen! Ja, ein Hundeleben! Wenn nicht die Begeisterung für die Kunst wäre, man müßte zusammenbrechen. Welche Umgebung für einen Künstler, den Seidelmann ausgebildet, Laroche gefördert, Devrient anerkannt, Döring beneidet, Dawison verfolgt hat! Der versoffene Stickler, der verkommene Birk, der elende Können, dazu die drei Weibsen. Hahaha! Ich könnte über mich lachen, wenn ich nicht weinen müßte. Man jauchzt mir zu, aber was ist für einen, den der Beifall aller Weltstädte umtobt hat, das Jauchzen der Chorostkower[292] und Zaleszczyker?! Wissen Sie, weshalb ich auf dem rechten Ohr nicht ganz gut höre? Weil mir der tosende Jubel der Wiener über meinen Franz Moor das Trommelfell gesprengt hat.«

»Da haben Sie wohl zum Glück«, fragte Sender, »im linken Ohr zufällig Watte gehabt?«

»So war es«, erwiderte Hoheneichen. »Es ging ja durch alle Zeitungen ... Aber nun gar der Abstand in der Gage! Nicht die Hauptsache für einen Künstler, aber doch nennenswert. Damals hundert Gulden täglich und heute?«

Er machte eine Pause. »Ich kann's Ihnen nicht sagen, lieber Kurländer«, fuhr er mit zitternder Stimme fort, »denn Sie haben ein Herz für mich. Ihr Herz wird bluten.«

Wieder hielt er inne und blickte Sender erwartungsvoll an. Da aber dieser keine Miene verzog, winkte er den Kellner herbei.

»Ruben«, hauchte er, »sagen Sie diesem berühmten Künstler, in welcher Lage sein Kollege ist.«

»Es geht Ihnen wirklich schlecht«, sagte der Kellner. »Zwanzig Kreuzer täglich und freie Station. Allen Leuten sind sie was schuldig. Jetzt« – er blickte auf die Uhr, sie wies auf halb sieben – »sind Sie wahrscheinlich sehr hungrig, denn um zwölf bekommen Sie Ihr Mittagessen. Das Nachtmahl ist erst nach der Vorstellung.«

»Halten Sie ein«, murmelte Hoheneichen, nachdem er geschlossen, »mich tötet die Scham ...«

»Geben Sie dem Herrn ein Butterbrot und ein Fläschchen Moldauer«, sagte Sender. Denn dem Kellner glaubte er, und dieser Abkömmling eines deutschen Kaisers war zwar nicht sein »Kollege«, aber doch immerhin ein Mann der Zunft, zu der nun auch er für immer gehörte.

»Bruder«, jauchzte Hoheneichen, »das vergess' ich dir nie! Denn wir wollen uns duzen – nicht wahr?«

»Später«, sagte Sender. »Warum bleiben Sie hier?« fragte er dann. »Sie waren doch schon an einer besseren Bühne.«

»Der Stolz des Wiener Burgtheaters. Aber so ohne Heller kann ich doch nicht fort, da verhungere ich ja! Und dann – dir will ich's vertrauen, Bruderherz – mich fesselt die Liebe! Die Schönau ist meine Braut. Und das elende Leben hat ja auch Lichtblicke«, fuhr er fort und biß gierig in das Butterbrot. »Ich bleibe, meinem elenden Todfeind zum Trotz! O dieser Können! Alles will mir der Verruchte rauben, die Braut, die Rollen. Um ein Haar hätte er es neulich durchgesetzt, daß er den Franz Moor spielt. In der Regel spiele natürlich ich den Karl und Franz – und wie! Amadeus Können als Franz Moor – hahaha! Aber er heißt gar nicht so, sondern Aaron Kohn und war Schreiber in einer Tarnower Advokatur.«

»Und ich gar in einer Barnower Kollektur«, erwiderte Sender. »Deshalb könnt' er doch ein anständiger Mensch sein.«

»Du!« rief Hoheneichen, »du hättest Mist schaufeln können, dich hat der Schenius auf die Stirne geküßt! Aber dieser Können –«[293]

»Pst!« warnte Ruben.

Zur Tür herein schob sich ein kleiner, hagerer Mensch in dürftiger Kleidung, so recht der Typus eines armseligen gedrückten Juden. Den Kopf gesenkt, schlich er trübselig auf seinen kurzen Beinen dem Tisch in der Ecke zu, einen Kleistertopf in der Rechten, eine Riesenrolle roten Papiers in der Linken.

Mißmutig hob Ruben auf seine leise Bitte das Tuch vom Tisch. Der Mann breitete die Rolle darauf aus und begann die Bogen aneinander zu kleben.

»Die Zettel für morgen sind schon fertig«, sagte der Kellner. »Wozu kleben Sie mir wieder den Tisch voll.«

»Es sind die Zettel für den Montag, die erste Vorstellung in Borszczow«, erwiderte der Mann demütig. »Der Herr Direktor hat's mir befohlen, sie fertig mitzunehmen, weil wir am Sonntag unterwegs sind, und Montag muß ich die Bühne aufschlagen helfen.«

»Wird morgen noch hier gespielt?« fragte Sender erstaunt sein Gegenüber.

»Freilich«, erwiderte Hoheneichen. »Ausverkauftes Haus. Kein Platz mehr zu haben. Benefiz meiner Braut. Du nimmst ihr doch ein Billett ab?«

»Aber auf den heutigen Zetteln steht ja, daß es ganz gewiß das letzte Mal ist.«

Hoheneichen lachte auf.

»Das mußt du den Schwindler dort fragen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Der schmiert all die Lügen zusammen ... Aber verzeih', Bruderherz, die Kröte vergiftet mir die Luft. Auch muß ich meine Rolle nochmals lesen.«

Er erhob sich, »Auf Wiedersehen, Bruderherz. Hier, nach der Vorstellung, nicht wahr?«

Er ging. Auch der Kellner verließ das Zimmer. Sender war nun mit dem Männchen allein, das emsig in seiner Hantierung fortfuhr, aber zuweilen verstohlen zu ihm herüberblickte. Auch Sender mußte dasselbe tun: es war doch ein ganz merkwürdig häßliches Gesicht. Unter der niedrigen, zurückfliegenden Stirne, in die sich krauses, pechschwarzes Haar drängte, saßen zwei kleine, melancholische Äuglein, zwischen ihnen sprang eine Riesennase kühn hervor, als wollte sie einen Fuß lang werden, zog sich dann aber, wie über ihr eigenes, tolles Vorhaben entsetzt, in jäher Krümmung zu den dünnen Lippen nieder; dafür sprang aber das Kinn wieder kräftig hervor. »Wenn Franz Moor ein Jud' wär«, dachte Sender, »diese Maske würd' ich mir für ihn nehmen.«

Das Männchen blickte immer häufiger herüber. »Nun wird er mich ansprechen«, dachte Sender mit Unbehagen. Hoheneichen hatte ihm gründlich mißfallen, mit dem Verfasser dieser Zettel wollte er vollends nichts zu tun haben. Aber als nun der Kleine wirklich, nachdem er sichtlich mit dem Entschluß gekämpft, auf[294] ihn zugeschlichen kam, konnte er doch nicht gut Reißaus nehmen. Er begnügte sich, eine möglichst abwehrende Miene zu machen.

Der andere merkte es und blieb auf halbem Wege stehen.

»Entschuldigen Sie zur Güte«, sagte er dann demütig, und schob sich noch langsamer vorwärts, »ich wollt' Sie nur was fragen. Ich heiße Können, bin hier bei der Truppe. Sie sind doch der Barnower, von dem Nadler so viel hält? Ich hab' in seinem Auftrag die Bücher gekauft, die er Ihnen im vorigen Januar geschickt hat.«

»Ja, ich bin derselbe.«

»Und, entschuldigen Sie, hat Sie Nadler jetzt ausdrücklich zu sich berufen oder tun Sie es auf eigene Faust?«

»Das geht Sie zwar gar nichts an«, erwiderte Sender, »aber er hat mich berufen.«

»Dann ist es gut«, sagte Können und nickte. »Sehr gut! ... Verzeihen Sie!«

Und er ging an seine Arbeit zurück.

Sender sah ihm verblüfft nach. »Warum haben Sie gefragt?« rief er nach einer Weile hinüber.

Der Kleine kam wieder heran. »Warum? Sie haben recht, es geht mich nichts an. Aber wenn Sie zusehen, wie ein Mensch, der nicht schwimmen kann, ins reißende Wasser springen will, so werden Sie ihn auch fragen: ›Hast du ein Seil, woran du dich halten kannst?‹ Und wenn er ›nein‹ sagt, so werden Sie ihn warnen. Sie haben gottlob ein Seil, da ist nichts mehr zu sagen. Was Adolf Nadler ihm rät, soll ein Mensch tun.«

»Hat er Ihnen geraten, ihm durchzubrennen?« fragte Sender.

»Ich?« rief der Kleine erschreckt. »Die anderen sind ihm durchgebrannt, mich hat er selbst fortgeschickt. Im April – drei Jahre hat er mich damals schon mit sich geschleppt, nur so aus Mitleid und weil ich als Sekretär zu brauchen war – da also sagt er mir: ›Kohn‹, sagt er, denn das ist mein wirklicher Name und er hat mich immer so genannt, ›Sie schreiben eine schöne Hand, Sie sind ein geschickter Mensch, ein anständiger Mensch‹« – der Kleine richtete den gebeugten Nacken empor – »ja, so hat der Herr Nadler zu mir gesagt, ›aber zum Schauspieler haben Sie weder das Talent, noch die Gestalt. Gehen Sie wieder zu einem Advokaten oder werden Sie Kaufmann, Sie werden überall besser fortkommen als beim Theater.‹ Aber noch aus einem anderen Grund hat der Herr Nadler so zu mir gesprochen ...«

Das Männchen errötete. »Nun ich hab's eingesehen, bin beim Herrn Doktor Max Salmenfeld als Sollizitator eingetreten, und er und sein Sohn, der junge Herr Doktor Bernhard waren sehr gut mit mir zufrieden. Auch ich hab' nicht zu klagen gehabt und doch war ich sehr unglücklich, denn das Theater – wen es einmal hat –« Er seufzte tief auf. »Und da kommt also Anfang Mai der Stickler zu mir. ›Komm' mit, Können, als erster Charakterspieler und Theatersekretär.[295] Den Franz Moor wirst du machen‹, sagte er, ›und den Wurm und den Martinelli und den Shylock und den Mephisto‹ – und noch ein Lockmittel hat er für mich gehabt« – wieder errötete er – »und das war das stärkste, und so bin ich mitgegangen ... Entschuldigen Sie, daß ich Sie damit belästigt habe, aber weil Sie vom Durchbrennen gesprochen haben – ich wäre bei meinem Herrn Nadler gern geblieben bis zu meiner letzten Stunde.«

Und er machte wieder kehrt.

Sender fühlte sich seltsam angemutet, weniger durch die Worte, als durch ihren traurigen Ton. Das war doch ein ganz anderer Mann, als er gedacht.

»Wenn Ihre Arbeit nicht drängt«, sagte er, »so nehmen Sie einen Augenblick bei mir Platz.«

»Leider drängt sie«, war die Antwort. »Ich muß die Blätter bis zur Vorstellung geklebt haben, damit sie trocknen können und ich sie heut' nacht und morgen früh bemalen kann. Aber wenn Sie sich zu mir setzen wollen, wird es mir die größte Ehre sein.«

Sender tat es, obwohl ihn der Hinweis auf die Zettel wieder kühler stimmte.

»Wie lang sind Sie beim Theater?« fragte er.

»Sechs Jahre«, war die Antwort. »Ich bin spät dazu gekommen, mit fünfundzwanzig.«

Sender machte unwillkürlich eine Bewegung des Erstaunens.

»Weil ich so viel älter ausseh'?« frage das Männchen mit traurigem Lächeln. »Hoch in den Vierzigen hätten Sie mich gewiß geschätzt. Aber, lieber Herr, was ist das für ein Leben!«

»Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen?«

»Nur durch den eigenen Willen«, war die Antwort, »mein Herz hat darnach getrachtet von Kindheit auf. Ich bin, man sieht mir's freilich nicht an, aus einer feinen, reichen Familie, mein Vater Schlome Kohn, war der größte Weinhändler in Tarnow und dabei der frömmste ›Chassid‹. Mein älterer Bruder sollte das Geschäft erben und ich Rabbiner werden. Seit meinem fünften Jahr hat man Talmud und Thora in mich hineingestopft, soviel Platz war. Aber ich weiß nicht« – er deutete auf die Stirne – »da war überhaupt nicht viel Platz, oder wenigstens nicht für solche Sachen, es ist nicht recht gegangen. Nur eines habe ich gern getan und darum leicht: Gedichte lernen, natürlich hebräische. Mit acht Jahren habe ich den halben Jehuda-ha-Levy auswendig gekonnt. Meine größte Freude waren aber die Spiele zu ›Purim‹ (Fastnacht) und ›Chanuka‹ (Makkabäerfest); monatelang im voraus habe ich von nichts anderem geträumt, aber mitgetan habe ich nicht; ich war zu schüchtern. Und wie ich's versuchen wollte, haben mich die anderen Knaben nicht zugelassen, weil ich zu häßlich war und zu klein, und wie ich mir's endlich durchgesetzt habe, bin ich stecken geblieben. Mit dreizehn Jahren aber, lieber Herr, ist mein Unglück fertig gewesen. Da war ich bei Verwandten auf Besuch in Krakau,[296] und sie haben mich einigemal ins Theater mitgenommen, und davon bin ich verrückt geworden. Nichts anderes habe ich gedacht bei Tage und nichts anderes geträumt bei Nacht, auch wie ich wieder in Tarnow war. Und eines Tages, wie ich wieder früh in meine ›Jeschiva‹ (Lehranstalt für Talmudunterricht) gehe, kommt's mir:

›Du mußt nach Krakau ins Theater.‹ Und wie ich geh' und steh', dreizehn Jahre alt und mit zwei Kreuzern in der Tasche, bin ich fortgelaufen und hab' mich bis Krakau durchgebettelt und Nachmittags ins Theater hineingeschlichen, wie es gerade gelüftet worden ist, und mich auf der Galerie versteckt. Die Vorstellung habe ich gesehen, aber dann haben sie mich hinausgeworfen und in der Nacht bin ich vor Hunger auf der Straße ohnmächtig geworden. Da hat mich die Polizei aufgefunden und nach Tarnow zurückgebracht. Und da bin ich furchtbar geprügelt worden, aber daß es nichts genützt hat, können Sie sich denken.«

Sender nickte.

»Ich hab' dran festgehalten«, fuhr das Männchen fort, »Jahre und Jahre. Nur vernünftig hab' ich's nun anfangen wollen. Man muß Deutsch können – das habe ich, weil mein Bruder als künftiger Geschäftsmann einen deutschen Lehrer gehabt hat, heimlich mitgelernt. Und Geld muß man haben, und da habe ich« – er atmete schwer – »meinem Vater hundert Gulden gestohlen und bin nach Lemberg gefahren. Siebzehn Jahre war ich alt. In Lemberg gehe ich zum Direktor und frage ihn, ob er mich als Schauspieler annehmen will. Er lacht sich halb tot und wirft mich hinaus. Ich laufe zu den Schauspielern. Die einen verhöhnen mich und die anderen suchen mir's auszureden. Und wie ich so verzweifelt herumgeh', begegnet mir ein glattrasierter Mensch. ›Sie sind auch Schauspieler?‹ frage ich. – ›Direktor Thalheim‹, antwortet er. Er hat eben eine Schmiere zusammengestellt, für meine neunzig Gulden hat er mich bis Stryj mitgenommen und dort einen Bedienten spielen lassen, der zu sagen hat: ›Die Frau Gräfin läßt bitten.‹ Wie ich auf die Bühne komme, lachen die Leute wie besessen, geredet habe ich nichts. Da jagt mich der Lump gleich weg und gibt mir ›aus Erbarmen‹ einen Gulden zurück. In dieser Nacht« – seine Stimme zitterte – »habe ich mich in den Stryj gestürzt, aber Flößer haben mich gerettet. Ich bin ins Spital gekommen, dann hat mich mein Vater abholen lassen.«

»Schrecklich!« murmelte Sender.

Der Kleine nickte.

»Aber das Schrecklichste ist, daß mich mein Wahnsinn trotzdem nicht losgelassen hat. Unser Hausarzt war ein verständiger Mann. ›Der Bursch ist ein Phantast‹, sagte er, ›ein Schauspieler kann nicht aus ihm werden, aber vielleicht ein Schriftsteller.‹ Auf seinen Rat hat mich mein Vater, so schwer es ihm seiner Frömmigkeit wegen gefallen ist, ins Gymnasium gegeben. Ich habe leicht gelernt, aber ungern – wozu braucht ein Schauspieler Latein und Griechisch?[297] Da hat mich mein Vater nach drei Jahren aus der Schule genommen, zu einem Advokaten gegeben, damit ich mit der Zeit die Winkelschreiberei erlerne, und gleichzeitig zwangsweise verheiratet. Es war eine schreckliche Ehe, ich habe meine Frau vom ersten Tag an gehaßt als Hindernis meiner Pläne und sie mich allmählich noch mehr; zum Unglück kam auch noch ein Kind, ein armseliger Wurm wie ich. Da stirbt nach vier Jahren mein Vater, kurz darauf mein Knabe. Ich lasse mich von meiner Frau scheiden und gebe ihr dafür mein halbes Erbe. Mit der anderen Hälfte gehe ich nach Wien und nehme dramatischen Unterricht. Alle raten ab, ich bleibe dabei, nur daß ich jetzt durch die Praxis lernen will. Ich stelle eine Schmiere zusammen und ziehe mit ihr durch Mähren und Schlesien nach Galizien, und bringe in zwei Jahren meine achttausend Gulden an. Warum? Weil ich überall die Hauptrolle spielen will, und da laufen die Leute davon. Wie ich am Bettelstab bin, nimmt sich Nadler meiner an und – das andere wissen Sie.«

Er seufzte tief und strich gesenkten Hauptes mit dem Kleisterpinsel übers Papier.

»Aber wenn Sie dies alles so klar erkennen –« begann Sender.

»Warum ich nicht gehe? Weil ich wahnsinnig bin!« rief der Kleine verzweiflungsvoll. »Weil der Teufel in mir steckt. Jetzt habe ich nur die eine fixe Idee: ich muß wieder den Franz Moor ...«

Die Uhr schlug acht.

»Um Gotteswillen«, rief er bestürzt und breitete die Blätter hastig zum Trocknen aus. »Und ich komme schon im ersten Akt ... Und ich hab' mir für heut' eine Maske ausgedacht, eine feine Maske – aber sie braucht Zeit ...«

Und er stürzte ab.[298]

Quelle:
Karl Emil Franzos: Der Pojaz. Königstein/Ts. 1979, S. 290-299.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Pojaz
Der Pojaz: Eine Geschichte aus dem Osten (Hardback)(German) - Common
Der Pojaz: Eine Geschichte aus dem Osten
Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.

138 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon