»Baron Schmule«

[214] Wenn man aus Barnow nach Süden fährt, in die Bukowina oder in die Moldau, so sieht man nach etwa drei Stunden, dort, wo die Straße bei Z. den Dniester überschreitet, auf einem Hügel ein stolzes Schloß liegen, mit hohen weißen Mauern und blinkenden Fenstern. Ein prächtiger Garten umgiebt es und zieht sich den Hügel hinab und weit in die Ebene hinein. Das ist vielleicht der schönste Herrensitz in Podolien und sicherlich der reichste. Er gehört dem »Baron Schmule«, wie er überall genannt wird, dem Manne, der einst Schmule Runnstein geheißen hat und jetzt der mächtige Freiherr Sigismund von Ronnicki ist.

Der Mann hat einen großen Weg gemacht, er ist wie ein Pfeil nach seinem Ziele geschossen. Das gelingt nur wenigen Menschen; denn die meisten sind wie ein Kreisel, sie bewegen sich viel, laut und rasch, aber sie drehen sich immer um sich selbst herum und kommen nicht von der Stelle. Der Pfeil macht nicht mehr, nicht lautere, nicht raschere Bewegung, aber er schießt immer auf sein Ziel los. So Baron Schmule. Er hat sein Ziel fest ins Auge gefaßt und ist sicher darauf zugeschritten, obwohl er nur – ein Auge hatte.[214]

Aber auch er war ursprünglich ein Kreisel und nur durch ein Ereignis ist er zum Pfeil geworden: durch einen Peitschenhieb. Es ist eine sonderbare Geschichte ... Vor mehr als fünfzig Jahren war's, da lebte in Z. eine blutarme Witwe, die sich und ihren Sohn durch ein Gewerbe ernährte, von dem zwei Menschen in einem so kleinen Städtchen schwerlich satt werden; sie war eine Zuckerbäckerin. Die Frau hieß Miriam Runnstein. Der Sohn half der Mutter, kaum daß er gehen und rechnen konnte: er war Verkäufer der Ware. Unermüdlich lief der kleine Schmule durch die Straßen und rief: »Kauft Fladen! Fladen und Zuckermandeln! Kauft! kauft!« Aber es giebt wenige Näscher in der »Gasse«, und Hochzeiten und Beschneidungen, wo man eine Zuckerbäckerin ins Haus nimmt, kommen auch nicht täglich vor. Die Kreuzer flossen nur sehr spärlich in die kleine Wirtschaft, und der Hunger thut weh; der arme Schmule weinte oft bittere Thränen über seinen süßen Kram.

Die beste Kundschaft, die er hatte, wohnte eine halbe Meile vom Städtchen, hoch oben auf dem Schlosse. Dieses Schloß gehörte damals dem Baron Wodnicki, Alfred Wodnicki, der überaus reich war und trotz seiner Verschwendung kaum mehr verbrauchen konnte, als das Erträgnis seiner ungeheuren Güter. Er lebte fast nie auf dem Schlosse, weil es ihm dort zu still und zu langweilig war, sondern entweder in Paris oder in Baden-Baden. Und zwar lebte er in Baden-Baden, wenn seine Frau in Paris war, und ging nach Paris, wenn seine Frau nach Baden-Baden[215] kam. Es war das eine friedliche Vereinbarung zwischen den Gatten und sie vertrugen sich im Übrigen ganz gut. Auch der einzige Sprößling aus dieser Ehe, der junge Baron Wladislaus, lebte nicht auf dem Schlosse, sondern wurde in einer Jesuitenschule bei Krakau erzogen. Es hauste also oben nur das Gesinde. Nun kennt man vielleicht das Sprichwort der Polen: »Er ist faul und genäschig wie ein Lakai.« Das traf auch diesmal zu. Der kleine Schmule fand immer seine Rechnung dabei, wenn er mit seinem Korbe hinaufgekeucht kam, und machte daher unverdrossen in Sonnenhitze und Winterkälte den weiten Weg. Freilich bekam er schier zu jedem Kreuzer auch einen Puff, aber daran wird ein jüdisch Kind in Podolien mit der Zeit gewöhnt. So war er allmählich dreizehn Jahre alt geworden und wer weiß, wie lange er noch mit den Fladen und den Zuckermandeln seiner Mutter herumhausiert hätte, wäre nicht jenes Ereignis eingetreten, welches ihn aus einem Kreisel zu einem Pfeil machte.

Das war im August, an einem sehr heißen Tage und gegen die Mittagsstunde. Schmule keuchte wieder einmal den steilen Weg zum Schlosse empor und lief fast trotz der großen Hitze. Denn diesmal hatte er es besonders eilig, es war Freitag und im Hause kein Kreuzer, den Sabbath zu rüsten, und wenn der Hunger an jedem Tage weh thut, am Sabbath thut er doppelt weh. Wie Schmule so hinauflief in seiner Herzensangst und berechnete, was noch in der letzten Stunde Alles zu kaufen sei, überhörte er es, daß Hufklang immer näher scholl, bis er sich endlich nur noch knapp durch[216] einen Sprung vor dem Reiter retten konnte, der im Galopp den steilen Weg heruntergesprengt kam. Es war ein blasser Jüngling mit einer Jagdbüchse auf der Schulter, der junge Baron Wladislaus Wodnicki, der eben zu den Ferien nach dem väterlichen Schlosse heimgekehrt war. Er lachte laut auf, als er den häßlichen Judenjungen gewahrte, der vor Schreck zitterte und in seiner Angst vergessen hatte, die Kappe zu ziehen. Dann wandte er sein Roß und ritt langsam auf Schmule zu, bis er dicht vor ihm hielt. Dieser drückte sich zitternd an die Bergwand.

»Warum hast Du nicht gegrüßt, Du Judenhund?« fragte der junge Baron und schwang die Reitpeitsche. – »Weil ich so er.. schrocken war,« stammelte Schmule. Der junge Mensch ließ die Reitpeitsche sinken und dachte einen Augenblick nach. Dann lachte er hell auf. »Also Du fürchtest Dich sehr vor dem Pferd?« fragte er. »Nun, so höre! Du stellst Dich hierher!« Er wies auf die Mitte des Weges. »Hierher!« wiederholte er zornig und der Junge stellte sich zitternd an den angewiesenen Platz. »Und von dieser Stelle rührst Du Dich nicht, bis ich es Dir erlaube, hörst Du? Weh' Dir, wenn Du einen Schritt thust« – er griff an seine Büchse – »bei allen Heiligen, ich schieße Dich nieder wie einen tollen Hund!«

Damit sprengte er den Berg empor, wendete dort sein Pferd und kam blitzschnell wieder den Weg herabgesprengt und gerade auf den Jungen zu. Zitternd, in Todesangst, sah dieser das Pferd herankommen – ein Nebel legte sich vor seine Augen – im nächsten Augenblick[217] sprang er bei Seite und – die Hufe des Pferdes trafen nur den Korb, den er umgehängt trug und zertrümmerten denselben, daß die Süßigkeiten im Staube umherrollten. Auch der Knabe stürzte nieder, aber nur von der Erschütterung. »Hundsblut! Du hast Dich doch gerührt!« rief der Baron und riß die Büchse von der Schulter. Dann besann er sich doch wieder und begnügte sich, mit der Reitpeitsche rasend auf den Jungen einzuhauen, der sich zu seinen Füßen wand. Bald schlug er mit der Gerte drein und bald mit dem Knopf. Da schrie Schmule entsetzlich auf, griff nach seinem rechten Auge und sank bewußtlos zusammen. Der junge Baron sprengte davon.

Eine Stunde später brachte ein barmherziger Bauer auf seinem Heuwagen den noch immer bewußtlosen Knaben mit einem furchtbar entstellten Antlitz in die Judenstadt und der Mutter ins Haus.

Der Arzt wurde geholt und brachte Schmule wieder zum Bewußtsein und wusch und verband seine Wunden. Auch gab er gute Hoffnung auf seine baldige Genesung. Aber das rechte Auge war verloren; es war ausgeronnen und unheimlich starrte Einem die leere Augenhöhle entgegen.

An dem Tage, als Schmule zuerst wieder außer Bette war, kam ein unerwarteter Besuch: der dicke Gregor, der Leiblakei des jungen Barons. Er brachte zwei Dukaten und erklärte, sein junger Herr sei bereit, aus Erbarmen auch den Arzt und Apotheker zu bezahlen, wenn Schmule von jeder Klage abstehen wolle.

»Geht!« schrie dieser – das war seine ganze Antwort, und sein einziges Auge funkelte dabei so[218] unheimlich, daß der dicke Mann schnellstens gehorchte und daheim rapportierte: »Halten zu Gnaden, Herr Baron, aber ich glaube, Sie haben diesem Juden nicht bloß das Auge herausgeprügelt, sondern auch den Verstand; der Kerl war wie ein Tier.«

Als Schmule ausgehen durfte, war sein erster Gang zum Gericht. Der Gemeindevorsteher erbot sich, mit ihm zu gehen, doch Schmule lehnte es ab. »Ich danke Euch,« sagte er, »aber ich bin kein Kind mehr, der Schlag hat mich plötzlich um zehn Jahr' älter gemacht. Auch will ich ja nur mein Recht suchen.« Er ging zum Richter und brachte seine Klage an. Sie wurde aufgenommen und der Prozeß begann und wurde geführt, wie – nun, wie damals der Prozeß eines armes Judenjungen gegen einen polnischen Baron in Podolien geführt zu werden pflegte. Aber das Urteil kam wenigstens rasch, schon nach einem Monat. Da wurde Schmule vor Gericht gerufen und der Herr Mandatar schrie ihn hart an: »Du hast gelogen, Jud'! Du bist dem gnädigsten Herrn Baron nicht ausgewichen und hast Dich dicht an das Pferd gedrängt, und da hat Dich die Peitsche unversehens getroffen. Sei froh, daß Dich der gnädigste junge Herr nicht wegen Verleumdung anklagt, sei ihm dankbar! Und jetzt – trolle Dich!«

Schmule ging heim. Als er zu seiner Mutter in die Stube trat, schrie diese entsetzt auf: »Kind, wie siehst Du aus? Ist Dir wieder ein Unglück geschehen?« – »Ja,« erwiderte er, »ein noch größeres Unglück, ich habe mein Recht nicht finden können.« Dann[219] murmelte er allerlei vor sich hin und sagte dann wieder laut: »Ich will thun, wie der Herr Richter von mir verlangt hat, ich will ihm dankbar sein ...«

»Sohn,« schrie die alte Frau in Todesangst, »ich sehe es an Deinem Gesicht, Du wirst Dich in das Schloß stehlen und wirst ihn im Schlafe ermorden ...«

»Nein,« erwiderte Schmule und lächelte. »Das wäre auch ganz gut, aber dann würden sie mich aufhängen, und wer soll dann Dich ernähren? Nein, ich muß es auf andere Art versuchen, ich muß ein reicher Mann werden.«

»Gott hat Deinen Verstand verwirrt,« klagte die Mutter und noch heftiger weinte sie, als Schmule ihr seinen Entschluß sagte, nach Barnow auszuwandern. Aber er blieb fest dabei. Er verkaufte das Einzige, was sein war und durch seinen Abgang in der Wirtschaft entbehrlich wurde, sein Bett und sein Bettzeug. Dafür bekam er fünf Gulden, weil er noch einige Gebetbücher darauf gab. »Ich werde meinen Verdienst ehrlich mit Dir teilen,« versprach er seiner Mutter beim Abschied. Mit den fünf Gulden ging er nach Barnow und kaufte sich dort einen kleinen Kram von Zündhölzchen, Seifen, Pomaden und Federn und hausierte damit in den Gasthäusern und auf den Gassen herum. Und weil er unermüdlich war und für sich selber fast gar nichts brauchte, so konnte er nicht nur seine Mutter unterstützen, sondern auch etwas zurücklegen.

Nach zwei Jahren war er so weit, daß er diesen Handel aufgeben und einen andern, einträglicheren beginnen konnte. Er wurde nämlich ein »Dorfgeher«, was ein furchtbar mühsames Gewerbe ist. Da wanderte[220] er, wie Nathan Bilkes, der Vater der Frau Christine, mit einem großen Pack auf dem Rücken, in dem sich Alles befand, was Bauern gebrauchen können, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt. Er wurde meist nicht in Geld gezahlt, sondern in Früchten und Fellen. Aber eben dadurch wurde ihm das Gewerbe einträglich. Nachdem er drei Jahre Dorfgeher gewesen, kehrte er zur Stadt zurück und eröffnete in einer Nische am Marktplatz einen Laden von tausend Kleinigkeiten. Auch dieses Geschäft gedieh und er konnte bald ein ordentliches Gewölbe mieten und seine Mutter reichlicher unterstützen. Aber er selbst lebte nach wie vor fast nur von trockenem Brod und gönnte sich höchstens am Sabbath ein Stücklein Fleisch.

Als er dreiundzwanzig Jahre alt war, zehn Jahre, nachdem er von Z. gegangen, starb seine Mutter. Sie starb in seinen Armen. Als er sie begraben hatte und die achttägige Trauerzeit vorüber war, übersiedelte er in eine größere Stadt, nach Czernowitz. Der Zufall fügte es, daß bei der Ausfahrt aus dem Städtchen der Baron Wladislaus Wodnicki in glänzendem Phaëton an ihm vorübersauste. Er hatte damals gerade die Verwaltung seiner Güter übernommen. »Es ist gut, daß er mir gerade jetzt begegnet,« sagte Schmule zu seinem Reisegenossen, »der Schmerz hätte mich sonst eine Zeit lang lässig gemacht.«

Nun stand Schmule allein in der Welt, aber er arbeitete fieberhaft fort, als müßte er eine große Familie ernähren, und ward so allmählich ein wohlhabender Mann. Und weil er dabei tüchtig und ordentlich[221] war, so gelang es ihm trotz seiner Einäugigkeit, eine der reichsten Erbinnen von Czernowitz zur Frau zu bekommen. Nun gründete er ein großes Geschäft mit ausgedehnten Niederlagen und mit einer glänzenden Firmentafel: »Gemischte Warenhandlung von Samuel Runnstein«. Und als ob er sich damit noch nicht genug Arbeit geschafft hätte, begann er daneben noch einen großen Weinhandel. Jetzt erst zeigte Schmule so recht, welche ungeheure Arbeitskraft und Entschlossenheit in ihm steckte. Er durchreiste Deutschland und Frankreich, dann Rußland und die Moldau, und schuf sich überall neue Ankaufs- und Absatzquellen. Nach zehn Jahren galt er als einer der reichsten Kaufleute der Gegend.

Da starb seine Frau, nachdem sie ihm ein Töchterchen geboren hatte. Nun brachte Schmule einen neuen Plan zur Ausführung; er verkaufte seine beiden Geschäfte mit großem Nutzen und wurde Getreidehändler. In Podolien, Bessarabien und der Moldau kaufte er ein und nach dem Westen verkaufte er. Nur bei einem Grundbesitzer kaufte er nie, bei dem Baron Wladislaus Wodnicki, obwohl ihm der Verwalter desselben häufig ein günstiges Angebot machte. Der arme Mann war nämlich in beständiger Verlegenheit, wie er die gewaltigen Summen, die sein Herr brauchte, zusammenscharren sollte. Denn was dem alten Baron trotz seiner Verschwendung kaum gelungen war, das brachte Wladislaus glänzend zu Stande: er verspielte in jedem Monat so viel, wie er im Jahre einnahm. Seine Gattin, eine Dame aus französischer Familie, that gleichfalls redlich das Ihrige, den ungeheuren Reichtum[222] des Hauses zu untergraben. Und so war der Verwalter in Nöten und Schmule wäre ihm sehr gelegen gewesen. Aber dieser lehnte ab und erwiderte mit sonderbarem Lächeln: »Ich hab' mir einmal vor fünfundzwanzig Jahren das Wort gegeben, daß ich mit Ihrem Herrn nur ein Geschäft auf Erden abschließen will. Und das Geschäft ist noch nicht reif ...«

Die Zeit verging, Schmule ward immer reicher und heiratete wieder eine Frau, die ihm eine große Mitgift zubrachte. Dann kam das Jahr 1848 heran, und in diesem wilden Jahre ward aus dem reichen Manne ein Millionär. Herr Sigismund Runnstein, wie man ihn nun, wo er so reich war, allmählich respektvoll zu nennen begann, hatte die Verproviantierung der Russen in Ungarn übernommen und dabei ein höchst vorteilhaftes Geschäft gemacht. Von da ab setzte er sich zur Ruhe und erwiderte immer, wenn man ihn zu einer neuen Unternehmung einlud: »Ich warte!«

Er hatte nicht lange zu harren. Man kann auch mit einem riesigen Vermögen fertig werden, wenn man ein riesiger Verschwender ist. Zwei Jahre noch, und Baron Wladislaus samt Gemahlin konnten nicht mehr in Paris leben, und auch in Z., wohin sie sich zurückgezogen, hatte das seine Schwierigkeit. Denn von all' ihren Gütern gehörte in Wahrheit kein Grashalm mehr ihnen, und von allen Seiten drängten die Gläubiger auf sie ein. Die Baronin kehrte zu ihrer Familie nach Frankreich zurück und der Baron, der wohl oder übel zurückbleiben mußte, suchte seinen Trost im Champagner und dann in der Schnapsflasche.[223]

Da konnte er plötzlich freier aufatmen, das Drängen der Gläubiger hörte mit einem Schlage auf: Schmule hatte alle Wechsel und Forderungen an sich gebracht und seine Millionen darangesetzt. »Das ist das erste schlechte Geschäft, das Schmule Runnstein in seinem Leben gemacht hat,« sagten die Leute, und noch größer war die Verwunderung, als Schmule anscheinend gar keinen Schritt that, seine Forderungen hereinzubringen. Aber er war nicht unthätig geblieben. Er hatte ein Majestätsgesuch an den Kaiser gerichtet und um die Gnade gebeten, Güter ankaufen zu dürfen, denn damals durften die Juden in Galizien keinen Grundbesitz erwerben. Er war selbst nach Wien gereist, sein Gesuch zu unterstützen. Aber es war vergeblich. »Hätt' ich einen Mord begangen,« sagte Schmule, als er zurückkam, »ich hätte mich vielleicht frei machen können. Aber dieses Eine ist nicht zu erreichen.«

Dann ging er lange Tage brütend umher, er kämpfte einen schweren Kampf. Endlich war sein Entschluß gefaßt; er trat sein Weib hin, welches er sehr liebte, und sagte zu ihr: »Ich bin entschlossen, mich taufen zu lassen und Christ zu werden. Erschrick nicht, weine nicht, höre mich ruhig an. Ich muß es thun. Mein ganzes Leben wäre sonst eine Lüge, eine Narrheit. Ich muß die Güter des Wodnicki erwerben. Ich habe entbehrt und gearbeitet, wie vielleicht noch nie ein Mensch auf dieser Erde. Aber ich will nicht meinen Lohn dafür, ich will nur mein Recht. Also, es ist keine Frage, daß ich es thun muß. Aber Dir stelle ich es frei. Wie sehr Du mir lieb bist, brauche[224] ich Dir nicht zu sagen; aber dennoch erkläre ich Dir – ich füge mich, wie Du es entscheidest ...«

Auch sie liebte ihn sehr, aber sie konnte den Glaubenswechsel nicht übers Herz bringen. Sie schieden. Schmule trat zur katholischen Kirche über und nahm den Namen Sigismund Ronnicki an. Auch seine eben herangeblühte Tochter aus erster Ehe ließ sich mit dem Vater taufen und erhielt den Namen Maria. Welches ungeheure Aufsehen dieses Ereignis im ganzen Lande erweckte, läßt sich nicht beschreiben.

Am Tage nach der Taufe machte Schmule alle seine Forderungen gegen Wladislaus geltend. Die Güter kamen zur Feilbietung und Schmule erstand sie. Der Baron verschwand – man wußte nicht, wohin er sich gewendet hatte. Schmule zog auf das Schloß bei Z. und lebte dort mit seiner Tochter Maria. Im Jahre 1854, als der Staat rüstete und sehr viel Geld brauchte, kaufte sich Schmule um eine große Summe den Freiherrntitel. »Aber noch,« sagte er häufig, »habe ich nicht mein ganzes Recht; es fehlt noch Etwas.« Auch dieses sollte der seltsame Mann erlangen. Man erfuhr eines Tages durch die polnischen Zeitungen, daß der unverbesserliche Vagabund und Trunkenbold Baron Wladislaus Wodnicki durch einen edlen Wohlthäter für Lebenszeit versorgt worden sei.

So war es auch. Der »edle Wohlthäter« war der Baron Sigismund Ronnicki. Er hatte den Vagabunden, der sich zuletzt in und bei Barnow herumgetrieben, im buchstäblichen Sinne des Worts von der Straße aufgelesen und gab ihm auf seinem Schlosse[225] eine Zufluchtsstatt. Der Vagabund bekam Alles, was er wollte, nur keinen Schnaps. Und warum? »Wenn er Schnaps trinkt,« sagte Schmule, »so denkt er nicht nach. Und er soll nachdenken. Ich will mein Recht haben.«

Aber der Trunkenbold that dem neuen Herrn seines Schlosses nicht lang den Gefallen. Im Hochsommer des nächsten Jahres war auf dem Schloß ein großes Fest. Baron Ronnicki verheiratete seine Tochter mit einem magyarischen Adeligen, einem Husaren-Rittmeister. An dem festlichen Abend gelang es Wodnicki, Schnaps zu bekommen. Er trank sehr viel und taumelte dann zum Thore hinaus und den Weg hinab, auf dem er einst, vor fünfzig Jahren, dem Judenjungen begegnet. Er ist nie wieder ins Schloß zurückgekommen. Am nächsten Morgen fand man ihn unten, am Fuße der Bergwand, zerschmettert liegen. Ob er in seiner Trunkenheit den steilen Abhang hinabgefallen, ob er sich selbst hinabgestürzt, das bleibt für immer unentschieden.

Seh't – auch solche Geschichten geschehen zuweilen auf Erden.[226]

Quelle:
Karl Emil Franzos: Die Juden von Barnow. Geschichten. Stuttgart und Berlin 71905, S. 214-227.
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