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[239] Des Knaben Versteck im Waisenhause war ebenso nach der Muhme Sinn, als mein Plan, ihn persönlich dahin zu spedieren, demselben widerstrebte. Sie spürte plötzlich ein unbezwingliches Verlangen, ihre Gegend einmal wiederzusehen, und welchen Grund hätte ich gehabt, ihre Reisebegleitung abzulehnen?
Der Tag unseres Eintreffens war den Eltern bereits angekündigt, als ein heftiger »Zufall« der Gräfin einen Aufschub veranlaßte. Die zähe Natur hielt stand, wie schon so oft vorher und oft nachher. Die bewährte Leibpflegerin aber konnte nicht umhin, mit dem Rüstzeug ihrer Instrumente den verhängnisvollen Posten zu hüten und ihr Erbfräulein zwölf Meilen weit ohne Beistand den Tücken des unverwüstlichen Schellenunters preiszugeben. Der Ehre jedoch, in Reckenburgs goldener Kutsche seiner fernerweitigen Reisegelegenheit entgegengeschaukelt zu werden, wußte sie den kleinen Plebejer zu entziehen. Sie karrte ihn bei Nacht und Nebel in einem Handwägelchen bis zu der Station, nachdem sie ihm, wie ich stark vermute, ein Mohnsäftchen einfiltriert hatte. Ihr letztes Wort, als sie den Schlafenden neben mich in den Einspänner hob, war die Warnung, mich beileibe nicht mit dem Kinde der Heimlichkeit vertraulich einzulassen.
Wie nun der kleine Waldmensch beim Erwachen in dem engen Gehäuse ungebärdig tobte, das werden Euch August Müllers beigeheftete Erinnerungen anschaulich vorführen. Auch gegen die bändigen Prozeduren soll kein Widerspruch erhoben werden. Jedenfalls wählte er für uns beide das[239] bequemste Teil, indem er die langweilige Fahrt fast ohne Unterbrechung verschlief.
Der letzte Brief seines künftigen Pflegevaters datierte von einem thüringischen Gebirgsdorfe, in welchem er der Einführung seines Sohnes in dessen erstes Pfarramt beigewohnt und gleichzeitig die Freude gehabt hatte, dem betrübten Liebhaber, unserem Taube, eine heitere Lebensstellung auszumitteln. Ein Lehrer-und Organistenamt in einer kleinen, wohlgesitteten Gemeinde, Haus und Gärtchen durch den Gutsgarten anheimelnd eingerichtet, und die Kinder dieses Patrons ihm zur Pflege in der »göttlichen Musika« unterstellt, alles das in romantischer Berg- und Waldeinsamkeit; welch ein besseres Los hätte er sich wünschen können oder wir für ihn?
Da ich den Propst die seltene Reiseerholung so lange wie möglich wollte genießen lassen, hatte ich ihm unser verspätetes Eintreffen post restante nach Jena gemeldet, glaubte ihn daher frühestens gestern heimgekehrt, und war erstaunt, ihn in meinem gewohnten Leipziger Nachtquartier, der goldenen Laute, vorzufinden. Ich fragte ihn lachend, welch fernerweitige Einführung ihn so eilig wieder in entgegengesetzter Richtung auf die Füße gebracht habe?
»Die Einführung dieses Knaben in seine neue Heimat,« antwortete er ernst, indem er den Schlafenden von seinen Armen auf das Bett in meinem Zimmer niederließ.
Ich witterte so etwas von einer Anwandlung Muhme Justines in dem geistlichen Herrn, entgegnete daher verstimmt, daß ich auch ohne sein Bemühen den kleinen Mönch im Kloster Laurentii glücklich abgeliefert haben würde.[240]
Er schwieg; doch konnte mir eine gewisse bängliche Unruhe an dem gelassenen Manne nicht entgehen, und als er auf meine Frage: ob er etwas auf dem Herzen habe? seufzend den Kopf senkte, rief ich: »Ich bitte: keine Vorbereitungen, Freund; meine Eltern – –«
»Sind gesund und wohlgemut in Erwartung der geliebten Tochter,« antwortete er.
»Und Dorothee?« drängte ich weiter, da mir die Bekümmernis auffiel, mit welcher sein Blick auf dem Knaben ruhte. »Ist Dorothee krank?«
»Nicht krank, nur –«
»Nur?«
»Verheiratet, oder so gut wie verheiratet.«
»Mit Christlieb Taube, also doch!«
»Nicht mit Christlieb Taube, aber mit –«
»Mit –?«
»Mit Siegmund Faber!«
Mit Siegmund Faber! Das war denn nun freilich eine Neuigkeit, die mir das Blut im Herzen stocken machte. Ich hatte ja niemals weder an seinem Leben noch an seiner Heimkehr gezweifelt; aber so unvorbereitet, so rasch am Ziel – ich fiel wie vernichtet in einen Stuhl.
»Sahen Sie ihn?« fragte ich nach einer langen Pause.
»Nicht ihn selbst,« versetzte er.
»So sahen Sie Dorothee?«
»Auch nicht.«
»Von wem erfuhren Sie denn aber – –«
»Von Ihrem Herrn Vater, Fräulein Hardine.«
»Wann, wann, wann – –«
»Gestern nachmittag, als ich kaum von der Reise heimgekehrt war.«[241]
»Und wissen Sie, glauben Sie, daß Dorothee ihm die Wahrheit bekannte?«
»Ich weiß es nicht. Aber Sie, meine junge Freundin, die Sie sie besser kennen als ich – glauben Sies?«
»Nein!« sagte ich entschieden, und auch er schüttelte den Kopf. »Und dennoch verheiratet, wirklich verheiratet?« fragte ich.
»Das letzte Aufgebot sollte heute, Sonntag, stattfinden. Wenn die Trauung vielleicht bis morgen verschoben worden ist, so geschah es in Erwartung Ihres Eintreffens, Fräulein Hardine.«
»Heute morgen erst, und Sie erfuhren es gestern, Mann!« schrie ich auf, indem ich entrüstet seinen Arm schüttelte. »Sie hatten Zeit, warum schritten Sie nicht ein?«
»Weil dieses Einschreiten nicht begehrt worden ist,« antwortete er ruhig, »und weil es, unbegehrt, in so später Stunde zwecklos oder gefahrvoll gewesen sein würde.«
»Es wird, so Gott will, noch zu dieser Stunde nicht zwecklos sein und die höchste Gefahr abwenden, nicht herbeiführen,« sagte ich und stürzte aus der Tür.
Nachdem ich den Wirt beauftragt hatte, mir augenblicklich Extrapost zu bestellen, kehrte ich zu dem Propst zurück, der nachdenklich neben dem schlafenden Knaben saß und dessen Hand in der seinen hielt. Ich rannte ungeduldig im Zimmer auf und nieder. Nie im Leben hatte ich mich in ähnlicher Aufregung gefühlt. Jede Minute des Wartens deuchte mir eine Ewigkeit, ich hätte mir Flügel anheften und von dannen fliegen mögen.
»Beruhigen Sie sich, liebes Kind,« mahnte endlich der Freund. »Sie erreichen Ihr Haus noch in dieser Nacht.[242] Einige Minuten früher oder später – allemal früh genug oder zu spät.«
»So erzählen Sie,« rief ich, und der alte Herr hob mit absichtlicher Breite also an:
»Da ich Ihren Brief in Jena vorgefunden, verweilte ich dort noch ein paar Tage in heiterster Stimmung, unter literarischen Anregungen, mit deren Schilderei ich Sie heute verschone, Fräulein Hardine. Erst gestern bei grauendem Tage trat ich die Postfahrt nach meiner Anstalt an. Mein gutes Glück gewährte mir einen wissenschaftlich und weltmännisch gebildeten Reisebegleiter, der sich mir, wenn auch nicht dem Namen nach, als eine ärztliche Notabilität Berlins dokumentierte.
Das Gespräch, wie das heuzutage kaum anders mehr möglich ist, sprang von unseren beiderseitigen friedlichen Neigungen bald genug hinüber auf das wildbewegte Zeitwesen, auf die phänomenalen Entwickelungen, welche dasselbe gleichsam aus dem Staube in die Höhe wirbelt, um sie ebenso jach wieder in Staub und Kot zurückzuschleudern; und wie hätte da der jugendliche Feldherrngenius unerwähnt bleiben sollen, der sich, zur Stunde kaum noch geheimnisvoll, zu einem Zuge rüstet, um über Meer und Land den letzten unbezwungenen Feind des republikanischen Frankreich in der Grundfeste seiner weltgebietenden Macht zu erschüttern.
›Ich habe‹, so erzählte im Verlaufe der preußische Herr, ›über den General Bonaparte die interessantesten Aufschlüsse erhalten durch einen Augenzeugen seiner vorjährigen italienischen Gloria. Dieser Augenzeuge, mit dem ich kürzlich meine kleine Erholungsreise antrat, ist ein Mann meines Fachs, der seit etlichen Wochen unser nach[243] Kuriositäten so lüsternes Berliner Völkchen in ein wahrhaftes Fieber versetzt, und, wennschon mir ein gefährlicher Rival, in der Tat verdient, als merkwürdiges Beispiel aufgeführt zu werden, wie eine superiore Natur das rohe, blutige Treiben der Gegenwart als Bildungsstoff für einen eng begrenzten, friedfertigen Beruf mit Geschick und Glück zu verwerten vermag.
›Denken Sie sich, mein Herr, einen blutjungen sächsischen Barbier, lediglich als Autodidakt in einer mühsam aufgesuchten Praxis geschult, der in Preußens kriegerischen Rüstungen einen günstigen Spielraum für sein Streben ahnt und durch die glücklichsten Begegnungen findet. Die heillosen Feldzüge von 92 und 93 geben Gelegenheit, sein Talent und seinen Eifer in ein helles Licht zu setzen. Er, der keiner Fakultät immatrikuliert gewesen ist, kein Examen absolviert hat, geht aus den verpesteten Lazaretten jener Tage als Regimentsarzt hervor; hochgestellte Herren verdanken ihm Hilfe und Heilung, man eröffnet ihm weittragende Aussichten auch in friedlichen Zeiten. Während des Angriffs auf das Lager von Neuhornbach, wo er im Gefolge des verwegen vordringenden Königs sich allzu weit vorgewagt und über dem Verbande eines feindlichen Schwerverwundeten aufgehalten hat, gerät er in französische Hand. Er wird nach Paris gebracht, sein guter Stern will, daß es eine einem Konventsmitgliede verwandte einflußreiche Persönlichkeit ist, die ihm das Leben verdankt; sie erwirkt ihm die Freiheit, sich in Instituten und Spitälern umzutun. Die große, wildbewegte Hauptstadt, die zahlreichen Opfer der Schlachtfelder, ja nicht zum geringsten die der Henkerbühne werden eine Vorlage für den energischen Trieb. Selber inmitten[244] dieser tumultuarischen Welt fällt hin und wieder ein beachtender Blick auf den rastlos forschenden Fremden.
›Der Friede von Basel führte die ausgewechselten Gefangenen in ihr Vaterland zurück. Auch unser Doktor hatte die Freiheit, zu gehen. Aber er blieb. ›Was wollen Sie,‹ sagte er mir, ›der Arzt, als solcher, unterscheidet nicht Heimische und Fremde, nicht Freund und Feind. Er unterscheidet nur Gesunde und Kranke, Gebrechliche und Heile als Material und sucht, solange er lernt, das günstigste Terrain für seine Kunst und Pflicht.‹ Freiwillig begleitete er die italienische Armee nach Italien; der junge deutsche Doktor tritt in den Horizont des Helden von Lodi und Arcole. Ein Jahr lang verweilt er, geteilt zwischen Leistung und Studium, in dem dem Arzte hochwichtigen Bologna, beobachtet an Kranken und Verwundeten den steigernden oder mildernden Einfluß eines südlichen Himmels, und kehrt, nachdem der Friede von Campo Formio den Kontinent zur Not beruhigt hat, nach allen Seiten bereichert, aus dem republikanisierten Italien nach Paris zurück.
›Hier wurden ihm glänzende Anerbietungen gemacht, der rätselhaften Meeresfahrt seine Dienste zu leihen, in welcher wir gegenwärtig den verwegenen Korsen mit der gegen England bestimmten Armee befangen sehen. ›Aber‹, so sagte jetzt unser Mann, ›ich war kein Abenteurer. Ich hatte mir in der Fremde angeeignet, was meiner Heimat dienen konnte und, ich fürchte, nur allzubald, in schwerer Stunde dienen wird. Ich durfte zurückkehren.‹ So erscheint er vor etwa Monatsfrist in unserem ihm völlig fremden Berlin. Ein Cäsar der Messer und Zangen, kommt er, sieht und siegt. Das Gerücht, rasch und geheimnisvoll wie[245] der Wind, schnellt ihn zu einem Wundermann in die Höhe. Kriegerische Kameraden, aus den Rheinfeldzügen zu Dank und Anerkennung verpflichtet, bewillkommen ihn mit festlichen Ehren; die friedlichen Kollegen spitzen die Ohren bei der Mär von dem Champion ihrer Kunst, der, um Studien zu machen, freiwillig seinen Kopf in des Löwen Rachen gesteckt hat; der junge König, sich seiner aufopfernden Bemühungen während der Seuchenzeit nach dem Feldzuge in der Kampagne erinnernd, empfängt ihn und wünscht seine Erfahrungen an der neubegründeten Pepiniere verwertet zu sehen; die Menge drängt sich um den Zeugen der revolutionären Greuel und Verwogenheiten, mit deren Schilderei zur Zeit Ehren-Haude und Spener ihre Haare sträuben gemacht hat. Kaum zu Atem gekommen, ist er in aller Munde; die Fachgenossen lauschen seinen genialen Aphorismen; die Laien, bevor sie erprobt, was der Mann kann, begnügen sich mit dem, was er erlebt; bis die Neugierde verflogen, ist die Klientel begründet. Kurz und gut, niemals hat ein junger, ehrgeiziger Praktikant seine Bahn unter günstigeren Auspizien angetreten. Wir Alten werden die Segel streichen müssen, denn freilich unsere Kathederweisheit sieht sich von seiner kühnen Methode himmelweit überflügelt.‹
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Fräulein Hardine,« fuhr der Propst nach kurzer Pause fort, »wessen Bild während der Erzählung handgreiflich vor mir aufgestiegen, und daß es eine müßige Frage war, die ich nach dem Namen ihres Helden stellte. In der Antwort: ›Doktor, neuerdings Geheimrat Faber,‹ überraschte mich höchstens der Titel.
Wir hatten uns der Stelle genähert, bei welcher der Weg nach der Anstalt abzweigt. ›Verstand ich Sie recht,[246] mein Herr,‹ fragte ich, nachdem ich Abschied genommen, den Fremden, ›verstand ich Sie recht, so hat Doktor Faber Sie kürzlich auf der Reise in diese Gegend begleitet? Sie werden meine Neugier entschuldigen, wenn ich Ihnen sage, daß ich einem lange Verschollenen in seiner Heimat zu begegnen hoffe.‹ – ›Ihre Hoffnung dürfte sich erfüllen, Verehrtester,‹ antwortete der Begleiter. ›Wir reisten bis Halle miteinander; dort verweilte ich, während er ohne Aufenthalt auf der Merseburger Straße weiterfuhr. In Familienangelegenheiten, wie er sagte.‹ – ›Und wann geschah das?‹ fragte ich noch einmal. ›Gestern, Freitag, vor acht Tagen,‹ versetzte der Fremde und der Postwagen rollte von dannen.
An dem nämlichen Tage hatte ich meine Fahrt nach Thüringen angetreten; seit länger als einer Woche konnte demnach die Entscheidung unter Ihrem heimischen Dache, Fräulein Hardine, gefallen sein. Durfte ich hoffen, daß diese Entscheidung meinem erwarteten Pflegling einen Vater gegeben habe? Mußte ich fürchten, daß sie ihm auch noch die Mutter geraubt? In der lebhaftesten Spannung legte ich den Weg zur Anstalt zurück.
Kaum dort angekommen, berichtete meine alte, Sie wissen, kurzsichtige Haushälterin, daß am Tage nach meiner Abreise, bei kaum grauendem Morgen, ein verhülltes, städtisch gekleidetes Frauenzimmer nach mir gefragt und, als es meine Entfernung vernommen, gebeten habe, ihr Anliegen schriftlich hinterlassen zu dürfen. Ich fand das Blatt ohne Unterschrift, aber versiegelt, auf meinem Schreibtische und las die wenigen Worte: ›Sobald Sie zurückkehren, Hochwürden, bitte, lassen Sie mich es wissen. Aber um Gottes willen! kommen Sie nicht zu mir, auch nicht[247] zu der gnädigen Herrschaft, bevor Sie mich benachrichtigt haben.‹
Sie wünschte demnach eine Unterredung, ohne Zweifel, um ihres Kindes Zukunft festzustellen, und sie fürchtete eine absichtliche oder zufällige Enthüllung. Ich wußte jetzt, wie die Entscheidung gefallen war.«
»Sie wußten es!« so unterbrach ich zum erstenmal den Erzähler, »und Sie eilten nicht, gegen ein drohendes Unheil einzuschreiten?«
Der Freund erwiderte: »Ich war, trotz des Verbots, eben im Begriffe, an Ort und Stelle die Lage der Dinge einzusehen, als ein Besuch Ihres Herrn Vaters, Fräulein Hardine, mich dieser Erkundigung überhob. Er hoffte, eine Nachricht aus Reckenburg, die Ihr verspätetes Eintreffen erklärte, bei mir vorzufinden, und da ich ihm diese Aufklärung geben konnte, bat ich ihn, nicht in Sorgen zu sein, wenn das ersehnte Wiedersehen sich noch um etliche Tage verzögern sollte.
›Ich komme auch keineswegs aus Sorge, im Gegenteil, in heller Freude, Freund,‹ versetzte der gütige Herr. ›Ich möchte meine Dine nur gern bei einem – Familienfeste darf ich wohl sagen – unter uns sehen, als Brautjungfer unserer kleinen Dorl und des – – raten Sie, Propst, und des – –‹
›Und des Geheimrat Faber,‹ ergänzte ich, erzählte in der Kürze, auf welche Weise ich von des Mannes Heimkehr unterrichtet worden war, und bat um eine Darstellung des Eindrucks, den die so lange getrennten Verlobten aufeinander gemacht haben, und wie die Sache so rasch zum letzten Abschlusse geführt werden konnte.
Ich werde mir nun erlauben, diese Darstellung möglichst[248] exakt mit Ihres Herrn Vaters eigenen Worten zu geben, die Schlußfolgerung aber Ihnen selbst überlassen, Fräulein Hardine.
– Am Freitagabend sitzen wir still beieinander. Meine Frau spinnt, ich rauche. Da hören wir das Haustor unter einem kurzen, knackenden Druck sich öffnen und wieder schließen, hören einen raschen, elastischen Schritt im Flur, drei klopfende Schläge wie mit einem Hämmerchen an der Stubentür. Der Druck, der Schritt, das Klopfen sind uns alte Bekannte. Mir entfällt die Pfeife, Adelheid der Faden; ›Faber!‹ rufen wir aus einem Munde, und mit dem Namen steht auch schon der Mann uns gegenüber. Nicht mehr der Feldscher von Anno 90, auch nicht mehr bloß der Doktor aus den Schanzen vor Mainz; ein kapitaler Mann, ein gemachter Mann auf den ersten Blick: aber auf den ersten Blick auch noch leibhaftig der alte Mosjö Per-sé. –
– Er schüttelte mir die Hand und küßte die meiner Frau mit dem Air eines jener armen Marquis, deren Köpfe er zu Dutzenden hat rollen sehen. Denken Sie, Propst, der Sohn und Gehilfe meines alten Barbiers! Aber das Gute muß ja freilich der Anblick jenes Plebsregiments hervorbringen, daß ein honetter Mensch sich zu guten Manieren bequemen lernt.
– ›Ich komme als Hochzeiter, mein Herr Major,‹ sagte er, indem er auf den väterlichen Trauring an seinem Finger wies. ›Ein wenig spät, werden Sie sagen, – aber der Mann hat Farbe gehalten!‹
– ›Oho!‹ versetzte ich lachend, ›das Kindchen erst recht!‹
– Meine Frau hat sich unterdessen von ihrem Staunen erholt und in Positur gesetzt. ›Zunächst,‹ hob sie an,[249] ›Herr – Doktor, nicht wahr?‹ Er antwortete lächelnd mit einer Verbeugung: ›Für meine ältesten Freunde Siegmund Faber, wie ehedem, Mosjö Per-sé, wie es Ihnen beliebt. Im übrigen: Geheimrat Faber, praktischer Arzt in Berlin.‹ –
– ›Zunächst also, Herr Geheimrat,‹ sagte Adelheid, indem sie sich gleicherweise verneigte, ›die Versicherung, daß Demoiselle Müller in ungestörtem Wohlbefinden und in geduldiger Treue unter unseren Augen Ihrer Heimkehr gewartet hat.‹
– ›Wie eine Nonne auf den himmlischen Bräutigam,‹ fiel ich ein. Adelheid räusperte sich, und Sie wissen schon, Propst, wenn Adelheid sich räuspert, das heißt allemal: Mal apropos, Eberhard! ›Indessen möchte es doch gut sein,‹ fuhr sie fort, ›das liebe Kind auf Ihr überraschendes Erscheinen vorzubereiten.‹
– Sie wollte sich entfernen. Da erwiesen sich aber der Herr Geheimrat wieder einmal recht gründlich als der alte Per-sé. Nach dieser hochbeglückenden Versicherung, meinte er, erbitte er sich die Gunst, die gnädige Frau begleiten und in einem unmittelbaren Eindrucke die Entscheidung über seine Herzenswünsche empfangen zu dürfen. Er zündete während dieser Rede ohne Umstände den Wachsstock, der auf dem Tische stand, an und setzte es auf diese Weise durch, als Vorleuchter zuerst das Zimmer seiner Braut zu betreten. –
– Die arme, kleine Dorl saß wie jeden Abend einsam bei ihrer Spielerei. Sie hatte kleine Kinderköpfe ausgeschnitten und war vor Langerweile eingenickt. Die Arme lagen ausgestreckt über dem Tische und der Kopf war auf sie herabgesunken. Als die Tür jetzt rasch geöffnet wurde,[250] hob sie ihn, wie aus einem Traume erwachend, in die Höhe. ›Ich kann dir,‹ sagte Adelheid, denn ich war natürlich unten zurückgeblieben, ›ich kann dir das Entzücken nicht beschreiben, Eberhard, das sich bei diesem Bilde in Fabers Augen malte. Die zierliche Einrichtung seines alten Zimmers, der Kleinen unveränderte Schönheit, ihre kindlich stille Beschäftigung und den goldenen Reif am Ringfinger, alles das hatte er mit einem einzigen Blicke erfaßt. Es bedurfte keines Wortes, er wußte, was er zu wissen brauchte.‹
– Jetzt hatte aber auch Dorothee ihn bemerkt. Sie schrie auf wie ein Kind, das eine Biene gestochen hat, wurde kreideweiß und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. –
– ›Ich habe Sie erschreckt, meine teure Dorothee,‹ sagte Faber, indem er auf sie zueilte, ihre linke Hand von den Augen zog und einen Kuß gegen den Ringfinger drückte. – ›Aber dieser Augenblick der Überraschung ist mir Ersatz für die langen Jahre des Entsagens. Mein ganzes Leben wird ein Dank sein für das Glück, daß Sie ihn mir gewährten.‹ –
– Indessen dies zweite Experiment, – Sie wissen, Propst, er nannte schon seine Verlobung ein Experiment, – nun, diese Überrumpelung erwies sich denn doch schier zu stark für unsere arme, kleine Dorl. Es überlief sie ein Schauder, ihre Glieder flogen, Fieberglut verjagte die tödliche Blässe auf ihrem Gesicht. ›Sie sind unwohl, Dorothee!‹ rief Faber ängstlich, führte sie auf das Kanapee, setzte sich auf einen Stuhl an ihrer Seite und faßte ihre Hand, nicht wie ein Liebhaber, sagte Adelheid, sondern wie der Arzt, welcher die Pulsschläge zählt. Sie schüttelte das[251] Köpfchen, raffte sich zusammen, erholte sich allmählich, und als Faber nach einer Weile fragte, ob sie sich kräftig genug fühle, seine Gegenwart zu ertragen, antwortete sie mit einem Nicken. –
– ›Das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, ist erreicht,‹ sagte Faber darauf, ›später als ich gehofft, aber sicher und ehrenvoll. Eine ausfüllende Tätigkeit wartet meiner in Berlin, eine sorglose Häuslichkeit steht mir, – Ihnen, liebe Dorothee, – dort bereitet. Freilich ist meine Zeit gemessen. Aber was bedürfen wir auch noch der Zeit? In einer Woche, denke ich, werden wir vereint der neuen Heimat entgegenziehen.‹
– Da sie alles so glücklich im Gange sah, hielt Adelheid, die bisher unbemerkt im Hintergrunde gestanden hatte, es an der Zeit, sich zu entfernen. Erst bei dieser Bewegung wurde die Kleine ihrer ansichtig. Sie fuhr in die Höhe, stürzte auf meine Frau zu mit einem, wie diese behauptet, geradezu irrsinnigen Blick und den Worten, den ersten, die sie sprach: ›Hardine, Hardine! wann kommt Fräulein Hardine?‹ – ›Wir erwarten sie bis Mitte nächster Woche, liebe Dorothee,‹ – beruhigte sie Adelheid und ließ die Brautleute allein.
– Unten angekommen, sagte sie zu mir: ›Das arme Mädchen ist über die Maßen bestürzt, Eberhard. Mehr als ein Kopfnicken und Schütteln wird ihr auch im Tete-a-tete nicht abzuschmeicheln sein. Was Wunder aber auch? Der Mann ist ihr in acht Jahren ein Fremder geworden; ja, als Mann betrachtet, ihr auch vorher nur ein Fremder gewesen. Nun über Hals und Kopf: Wiedersehen, Hochzeit, Abreise, eine gänzlich neue Welt, und alles das ohne die getreue Beraterin, unsere Tochter Hardine.‹[252]
– Ich bin der Ansicht, Propst: nichts hilft einem Menschen gemütlicher über eine verlegene Situation hinweg, als im Kreise guter Freunde eine heitere Tafelei, und Adelheid und ich waren daher auch auf der Stelle einig, das Beste, was Küche und Keller boten, eilig zu einem Bewillkommungsschmause aufzutischen. Kaum daß ein Stündchen vergangen war, stieg ich die Treppe hinauf, die Gäste zu unserem Extempore einzuladen. Ich machte der Braut, die noch immer die Sprache nicht wiedergefunden zu haben schien, meine Gratulation und dem glückstrahlenden Bräutigam noch einmal mein Kompliment. Bald saßen wir alle vier behaglich um den Tisch; das erste Fläschchen wurde entkorkt, und niemals habe ich ein freudigeres Lebehoch als das auf unsere beiden Getreuen erschallen lassen.
– Nun mußte aber auch endlich unser Gast mit der Sprache herausrücken und die Fahrten und Fährnisse zum besten geben, unter welchen der Gefangene von Pirmasens sich so glücklich bis zum Königlich Preußischen Geheimen Medizinalrat durchgewunden hat. Propst, der Mann versteht zu erzählen; simpel, anschaulich, mit Bescheidenheit, und doch nicht ohne das geziemende Selbstgefühl.
– Da gab es denn einen kuriosen Wechsel von Bewunderung und Grauen, wenn man den einsamen Fremdling mit seinen Messern und Zangen so gelassen dahinschreiten sah, heute unter den Blitzen des Fallbeils, morgen unter dem Donner der Kanonen; vorbei an Menschen, die gestern Gold waren und heute Staub sind, und an solchen, die gestern als Staub übersehen und morgen als Gold vergöttert werden. Was solch eine[253] Revolution zu sagen hat, das ist mir wahrlich erst durch meinen Mosjö Per-sé recht klar geworden, Propst! Die Nacht hindurch würden Adelheid und ich mit gespanntem Ohr gelauscht haben.
– Aber freilich, ein anderes sind ein paar im Grunde doch fremde alte Leute, und ein anderes eine junge, bängliche Braut. Die arme kleine Dorl saß stumm und blaß, Hände und Blicke im Schoß, und berührte keinen Bissen noch Tropfen. Eigentlich kam es mir vor, als hätte sie von all den Mordgeschichten und Geschäften nicht ein Sterbenswort gehört und an ganz was anderes dabei gedacht. Der Erzähler aber dankte ihr dieses angstvolle Erstarren im Rückblick auf die Gefahren, die er fern von ihr durchlebt hatte. Er drückte ihr die Hand und schwenkte geschickt in ein Gebiet, in welchem das schwächlichste Frauenzimmer sich allezeit erholt. Die revolutionären Damenmoden wurden aufs Tapet gebracht; das gesellige Treiben, erst in Paris, dann in Berlin; Namen wurden genannt, als die von Gönnern und Freunden, bei deren Klange dem vormaligen Schenkjüngferchen wohl das Herz im Leibe lachen konnte; und als endlich gar der eigene Hausstand an die Reihe kam, als einer Beletage Unter den Linden, der Bedienten, Wagen und Pferde wie selbstverständlicher Dinge Erwähnung geschah, Freund, da hätten Sie sehen sollen, wie unser Bräutchen auftaute! Wie die Ohrchen sich spitzten, die Äugelchen blitzten, die blassen Wangen immer rosiger sich färbten. Die kleine Dorl sah sich schon als Frau Geheimrätin, wohl gar als gnädige Frau, in Tituskopf und Tunika, wiegte sich auf seidenen Polstern zwischen Pendülen und Vasen, während draußen Generale und Grafen antichambrierten in Erwartung[254] des gefeierten Herrn Gemahls. Jetzt wagte sie es, die Augen zu ihm aufzuschlagen; sie nickte ihm lächelnd zu und ließ die bisher so widerwillige Hand ohne Sträuben in der seinen. Ja, Weiberchen, Weiberchen, Evas Töchter, die ihr alle seid!
– ›Das Herdfeuer lodert in Erwartung der Haus frau‹ – so schloß der geschickte Mann seine Schilderei, – ›und auch die Hausfrau wird ja, wills Gott, nur auf Tage noch dem freundlichen Heimwesen fehlen. Wir sind beide verwaist, auch Sie, liebe Dorothee, majorenn; die erforderlichen Zeugnisse können im Orte bezogen werden. Übermorgen darf das erste Aufgebot stattfinden, und zweifle ich nicht, daß uns alle weiteren Observanzen erlassen werden, wenn ich in Leipzig, wo ich morgen einige alte Freunde und Gönner aufzusuchen gedenke, mich beim Konsistorium darum bemühe. Jedenfalls wird bis zum übernächsten Sonntag alles erledigt und dann auch die Zeugin unserer Verlobung gegenwärtig sein, Fräulein Hardine, die ich so gern auch als Zeugin unserer stillen Hochzeitsfeier begrüßen möchte.‹
– Adelheid hat recht, Propst; es ist merkwürdig, wie die kleine Dorl an unserer Dine hängt. Ein anderer als Mosjö Per-sé würde sich solch ein Freundschaftsregiment verbitten! Aber der: Schürzenangelegenheiten – bah! Ja wärs ein Mann, der ihm ins Gehege käme, dann gnade Gott!
– Die Kleine hatte seinem Plane mit aller Gelassenheit zugehört; bei dem Namen Hardine aber fuhr sie erschrocken in die Höhe; weiß Gott, sie zitterte und wurde jählings wieder blaß wie eine Wand. ›Hardine!‹ flüsterte sie. ›Wann kommt Fräulein Hardine?‹ – ›Sie soll zur[255] Hochzeit nicht fehlen, Herzenskind,‹ rief ich ihr ermunternd zu. – ›Morgen schreibe ich ihr, und in spätestens acht Tagen ist sie da.‹
– Dorothee saß auf ihrem Stuhle zurückgesunken und regte sich nicht. Der Bräutigam leerte das letzte Glas auf das Wohl unserer guten Tochter. Auch die Braut mußte anstoßen und nippen, aber sie tat es mit einem Schütteln, als ob ihr der Tod übers Grab gelaufen sei. Wir alle sahen, wie sehr das liebe Kind der Ruhe bedürfe. Meine Frau hob die Tafel auf; der Gast empfahl sich, um im Gasthof ein Nachtquartier zu suchen. Unser Fest war zu Ende.
– ›Lieber Herr Major,‹ sagte die gutmütige Dorl, als ich sie die Treppe hinaufführte, ›bitte, schreiben Sie Fräulein Hardine nicht. Es möchte ihr ungelegen sein. Sie kommt ja ohnedies. Oder wir warten, bis sie kommt.‹
– Nun, ich habe auch nicht geschrieben, da am andern Morgen ein Brief ihre Ankunft bis spätestens Donnerstag meldete. Und nun ist sie doch nicht gekommen und kommt am Ende auch gar nicht mehr zu rechter Zeit.
Ihr Herr Vater, Fräulein Hardine, hatte sich bei den letzten Worten erhoben, um den Heimweg anzutreten. Ich begleitete ihn und bat, daß er seine Mitteilung fortsetzen möge.
– ›Was soll ich weiter berichten‹, sagte er. ›Es ist alles gekommen, wie unser Doktor es ausgeklügelt hatte. Am Sonntag sind sie zum erstenmal von der Kanzel gefallen. Morgen geschiehts zum zweiten- und drittenmal vereinigt. Am Nachmittag, oder spätestens Montag früh, eine stille Trauung auf dem Lande, als Zeugen nur Adelheid, ich und, wenn sie noch eintrifft, versteht sich, unsere[256] Tochter. Daß sie nur käme! Die Kleine verzehrt sich buchstäblich über dieser fixen Idee. Bei jedem Wagen, der die Straße heraufrollt, stürzt sie ans Fenster und schaut hinaus. ›Hardine, Fräulein Hardine!‹ sind fast die einzigen Worte, die ihre Lippen berühren. Vorgestern, wo wir sie mit Bestimmtheit erwarteten, habe ich selber mich über die kleine Torheit geärgert. Sie ist in diesen acht Tagen abgemagert zum Skelett; der Verlobungsring, der ihr so drall am Finger saß, rollt bei der geringsten Hantierung in ihren Schoß. Sogar an den Brautputz denkt sie nicht. ›Es wird doch nichts daraus!‹ murmelte sie, als Adelheid neulich davon anfing. Hysterie, Propst, nennt man ja wohl diese Launen bei dem Frauenvolk? Gottlob, unsere Dine hat von dem Unwesen keine Spur.
›Und zeigt der Bräutigam keine Art von Beunruhigung über diesen jedenfalls verwunderlichen Herzenszustand?‹ wagte ich zu äußern; ein Zweifel, welchen der ritterliche Herr Major aber nahezu als eine Ehrenkränkung zurückwies. – ›Wie meinen Sie das, Propst?‹ rief er unwillig. ›Hat der Mann nicht Adelheids und mein eigenes Zeugnis für des Mädchens untadeliges Verhalten? Würde ohne dasselbe unsere Tochter ihre Freundin sein? Rühmt nicht die ganze Stadt ihre geradezu scheue Zurückhaltung seit jenem heillosen Donnerstagabend, an dessen Ausgelassenheit das arme Kind wahrlich geringere Schuld als wir anderen samt und sonders getragen hat? Daß sie bis jetzt keine übermäßige Passion für den Herrn Bräutigam empfindet, darüber wird er selber am besten im reinen sein, er ist kein Apollo, unser Mosjö Per-sé! Aber nur erst unter die Haube und an den eigenen Herd.[257] Einer, wie der Faber, fühlt sich Mannes genug, um ein Frauenherzchen in Beschlag zu nehmen. Klug wie er ist, schont er die bängliche Laune einer kurzen Übergangszeit; zeigt sich der Kleinen nur in flüchtigen Besuchen, liebreich, ohne Zärtlichkeit, mit offener Hand und im Nimbus eines gefeierten Namens. Alles drängt sich um den merkwürdigen Heimatsfreund. Die Kunde seiner Rückkehr hat sich wie ein Lauffeuer in der Gegend verbreitet. Meilenweit ziehen sie einher, alte und neue Schäden von dem Wunderdoktor heilen zu lassen. Im Fluge sind etliche schwere Operationen absolviert worden. Nun soll aber auch den alten Bekanntschaften ein Gruß und Lebewohl gebracht werden, bis zum Schinder herab, den er seinen ersten Professor nennt. Kurz und gut: ein Tourbillon hat sich um den Mann erhoben, und er bewegt sich nach allen Seiten mit Takt und comme il faut. Nicht zum geringsten auch gegen uns. Das alte väterliche Haus, ›seine Treuburg‹, wie er es nennt, bleibt unserer Verfügung, der Mietzins Fräulein Hardine zu Armenzwecken überlassen. Kein Stück wird in Dörtchens bräutlichem Zimmer verrückt, kein Gepäck mit auf die Reise genommen. In ihren Hochzeitskleidern, leicht wie Sommervögel, fliegen sie in das bereitete Nest, wo dann alles neu und nie gesehen das junge Weibchen umfängt und erfrischt. –
Wir hatten während dieser letzten Rede die Stadt und Ihre Wohnung, Fräulein Hardine, erreicht. Die Frau Mutter saß am Spinnrad vor der Tür. – ›Die Post von Leipzig ist herein, und wieder ohne unsere Tochter, Eberhard!‹ sagte sie. – ›Die Gräfin ist krank geworden,‹ versetzte der Gemahl, ›der Propst hat Nachricht. Aber was[258] sagt unsere Dorl, Adelheid?‹ – ›Nun, da so ziemlich die letzte Hoffnung geschwunden ist, scheint sie sich ihre kindische Sehnsucht aus dem Sinn schlagen zu wollen. Sieh dich um, Eberhard; an allen Fenstern und Türen ein gaffendes Gesicht. Eben ist Dorothee am Arme ihres Bräutigams um die Ecke gebogen, zum erstenmal, daß sie seit seiner Heimkehr das Haus verläßt. Sie wollen den Gräbern der Eltern Lebewohl sagen. Eine noble, delikate Natur, dieser Faber; Sie hätten ihn kennen lernen sollen, Herr Propst. Auch meiner Tochter hätte ich sein Wiedersehen gewünscht. Doch mag ich der morgenden Trauung nicht länger widersprechen. Dorothee kommt ohne Abschied leichter zur Ruhe, und langte Hardine morgen abend noch an, was könnte ihr an der bloßen Brautführerrolle gelegen sein?‹«
Der Propst schwieg; seine Erzählung schien zu Ende. »Und warteten Sie«, fragte ich heftig, »Dorotheens Rückkunft und ihren Entschluß nicht ab?«
»Nein,« antwortete er mit Ruhe. »Ich bat Ihre Frau Mutter, ihr meine Heimkehr von der Reise mitzuteilen, und ging in meine Anstalt zurück. Als nach dem Morgengottesdienst, wie ich kaum anders erwartet hatte, eine Botschaft an mich nicht ergangen war, benutzte ich die Post nach Leipzig, um meinen Schützling in Empfang zu nehmen.«
Die Postchaise fuhr in diesem Augenblicke vor. Ich hatte meine Reisekleider gar nicht abgelegt und das Gepäck bereits wieder hinunterschaffen lassen. Als ich jetzt den Knaben wecken und mit ihm voraneilen wollte, trat mir der Propst entgegen. »Ich halte es für besser,« sagte er, »mit dem Kleinen hier zu übernachten und erst morgen –«[259]
»Der Junge wird im Wagen so gut wie hier im Bette schlafen,« unterbrach ich ihn gereizt. »Rasch voran!« Er sann einen Moment und folgte mir dann, den schlummernden Knaben auf dem Arme.
Des Freundes mitteilsame Breite hatte meine Aufregung nur gesteigert. Sicherlich nicht ohne seine Absicht; die Gärung sollte vor den aktuellen Eindrücken verbrausen. Zum ersten und gottlob einzigen Male im Leben fühlte ich mich in einem Zustande von – dreist heraus! –, in einem Zustande von Wut; von Wut zunächst gegen mich selbst. Ich hätte mir das Haar ausraufen oder die Wagenfenster zerschlagen, ich hätte schreien oder wie ein wildes Roß mir die Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieses strafwürdige Ereignis verschuldet; ich die Sünde gedeckt, die Untreue verheimlicht; getäuscht die arglosen Eltern, auf deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in seinem Allerheiligsten betrogen war, voraussichtlich zur Stunde schon. Ich, ich hatte die stolze Zuversicht der eigenen Seele für alle Zeit zerstört.
In solcher Stimmung gibt es keine größere Erleichterung, als einen Teil seiner Last auf einen anderen abzuwälzen, und so wendete ich mich denn, sobald das Gefährt auf die weniger holpernde Landstraße eingelenkt hatte, gegen den Begleiter, dessen milde Gelassenheit mich empörte.
»Wenn wir zu spät kommen, Propst,« sagte ich, »wenn die Trauung vollzogen ist, so haben Sie eine schwere Verantwortung auf sich geladen. Sie, der Sie den Frevel hindern konnten und in bequemer Scheu vor der Anklage es unterließen.«[260]
»Darf der Beichtstuhl zur Anklagebank werden, Fräulein Hardine?« entgegnete er, »und war ich nicht in der Lage des Beichtigers, der ein anvertrautes Geheimnis zu bewahren hatte?«
»Sie hatten das Geheimnis nicht von einem Beichtkinde, nicht zuerst wenigstens von einem Beichtkinde empfangen. Übrigens sprechen Sie mit dieser Auffassung sich selbst das Urteil. Dem Manne, dem Freunde mochte Zartgefühl die Zunge binden; dem Seelsorger war es Pflicht, ein Verbrechen seines Beichtkindes zu verhüten.«
»Und was tun, Fräulein Hardine?«
»Raten, warnen, bedräuen; für die erste christliche und menschliche Tugend, die Wahrhaftigkeit, das matte Gewissen zum Leben rütteln.«
»Und haben Sie, meine mutige junge Freundin, nicht geraten, nicht gewarnt, nicht das Gewissen zur Wahrhaftigkeit aufgerüttelt, Sie, die vor allen Menschen die stärkste Macht über dieses Kind geübt haben, und in der Zeit von dessen Gleichgültigkeit, ja mehr als solcher, gegen den Mann, dem es Wahrheit schuldete? Und mit welchem Erfolg? Heute aber in der letzten Stunde, am Vorabend der Trauung, wo alles Sinnen und Trachten des beweglichen Herzens nur gegen die Gefahr eines Widerspruchs gerichtet ist –«
»Hätten Sie im äußersten Falle das äußerste Mittel nicht scheuen dürfen.«
Der Freund faßte nach einer kleinen Stille sanft meine Hand und sprach: »Fordern Sie, mein liebes Kind, von einem alten Manne nicht eine Tat, die das Maß seiner Anlagen überschreitet und für die er, mißrät sie, sich und anderen kein Heilmittel zu bieten hat. Und wenn das[261] Äußerste nun zum Äußersten geführt hätte? Wenn das schwache Geschöpf – eben weil es schwach ist, Fräulein Hardine – gebrandmarkt vor der Welt und vor dem Manne, den im Augenblick all sein Begehren gefangen nimmt, in tödliche Krankheit, in Wahnsinn verfallen wäre? Wenn es verzweifelnd Hand an sich gelegt –«
»Nun wohlan!« rief ich leidenschaftlich, »ich, ist es noch Zeit, werde diesen Gefahren trotzen, werde, und wäre es vor dem Altar, den Einspruch der Wahrheit vernehmen lassen. Ich bin aus den Schranken meiner natürlichen Anlagen, meiner Erziehung, der Denkweise meiner Väter, der Gesetzmäßigkeit meines Charakters herausgetreten, indem ich die Unehre duldete und das Unrecht beschönigte. In Recht und Ehren, um jeden Preis, werde ich diese Irrung zu sühnen wissen.«
»Sie werden es, meine Freundin,« entgegnete der geistliche Herr mit Bedeutung. »Sie werden jene Irrung sühnen, früh oder spät, wenn auch mit anderen Faktoren als denen, die heute Ihr Gemüt beherrschen. Also irren heißt leben, und in den heimlichen Trieben, die unsere Menschenlogik höhnen, keimt unsere Entwickelung. Der Regenguß, der unsere Saaten niederschlägt, durchsickert die harte Bodenschicht und sammelt sich zum Quell, welcher das Wurzelland befruchtet. Das ist die Logik der Natur. Und darum lassen Sie mir den Glauben, daß das, was heute Ihr Gewissen niederschlägt, dereinst als ein Jungbrunnen Ihr Gemüt erquicken wird. Ich bin ein alter Mann. Meine Aufgabe ist, diesem Kinde, das zur Stunde vielleicht auch die Mutter verloren hat, so weit meine Kraft noch reicht, den Vater zu ersetzen.«
Der alte Mann schwieg. Wenn Ihr aber glaubt, daß[262] sein Gleichnis vom Wasserborn – Feuer und Flamme wie ich war – meinen Zorn gelöscht haben sollte, nun, so irrt Ihr Euch. Öl hatte es in den Brand gegossen. Ich kehrte dem gefühlvollen Schwächling den Rücken, der, ohne sich zu rühren, das Haus seines Nachbars einäschern sieht und derweile gemütlich die Bausteine für eine Hütte der Zukunft zusammenträgt.
Wir sprachen bis zur Zwischenstation kein weiteres Wort. Der Propst saß mir still gegenüber, den Kopf des schlafenden Knaben auf seinem Schoß. In mir jagten sich die Gedanken. Was geschehen sollte, kam ich noch zur rechten Zeit, was aus mir werden, kam ich zu spät – ich wußte es nicht.
Aus diesem Tumult weckte mich eine Bewegung meines Begleiters, der während des Pferdewechsels sich zum Aussteigen rüstete, um den Seitenweg nach seiner Anstalt mit dem Knaben einzuschlagen. Ich merkte die Absicht und sagte höhnend: »Sie schlucken Elefanten und seihen Mücken, guter Freund!« Worauf er lächelnd antwortete: »Wohl mir, wenn ich den giftigen Stich einer Mücke von Ihnen abwehren könnte, Fräulein Hardine.«
Die Reizung fehlte mir nur noch. »Ich denke, Herr Propst,« brauste ich auf, »Name und Ruf des Fräulein von Reckenburg – –«
»Der beste Name und Ruf,« unterbrach er mich, »der Frieden des edelsten Menschen können getrübt werden, wenn eine Kette von Zufälligkeiten sich törichter oder böslicher Auffassung in die Hände spielt. Zwingt ihre Ehe Dorothee Müller, diesen Knaben zu verleugnen, so hat er erweislich weder Vater noch Mutter. Er ist in Reckenburg unter den Augen Ihrer vertrauten Dienerin aufgewachsen,[263] durch Sie der Erziehung eines alten Freundes übergeben worden. Ihre Person wird es sein, an welche seine Erinnerungen, vielleicht seine Erwartungen sich heften, zumal wenn eines Tages ein Umschlag in Ihren äußeren Verhältnissen die Blicke eines größeren Kreises auf Sie lenken sollte. Ihre einzigen rechtfertigenden Zeugen, Justine und ich, sind Greise; die Kirchenregister vernichtet und die Verwickelungen des Schicksals unberechenbar. Ich muß es daher als eine Fügung der Vorsehung betrachten, daß mindestens ein unumstößliches Dokument über August Müllers Abstammung gerettet worden ist. Kurz vor meinem Abgange von Reckenburg und dem Brande der Kirche nahm ich eine Abschrift des Taufzeugnisses, um es, ohne die Aufmerksamkeit eines Dritten zu erregen, der Mutter des Knaben zu gelegentlicher Verwendung anheimzugeben. Gedankenlosigkeit verzögerte den ursprünglichen Zweck, und so lege ich es jetzt, statt in die der Mutter, in Ihre Hand, Fräulein Hardine. Weisen Sie es nicht zurück; verwahren Sie es aus Rücksicht für einen treuen Freund, so viel derselbe heute in Ihrer Schätzung verloren haben mag.«
Um weitere verdrießliche Erörterungen abzuschneiden, nahm ich das Attest; bei ruhigerem Blute sah ich in seiner Erhaltung eine Pflicht, wenn nicht für mich selbst, so doch für den verwaisten Knaben, und ich erwähnte bereits, daß Ihr es dieser Handschrift beigefügt finden werdet.
Nach diesem Zugeständnisse mußte nun aber der geistliche Herr sich darein ergeben, von mir nach seiner Anstalt geleitet zu werden. Die Klosterglocke schlug Mitternacht, als ich ihn, seinen Pflegling im Arm, hinter der Pforte verschwinden sah.[264]
Eine halbe Stunde später schmetterte das Posthorn vor der alten Baderei. Das Haus, das ganze Städtchen lagen im Dunkel; alles schlief, und es währte mir eine Ewigkeit, bis die Torfahrt geöffnet ward und mein Vater in Schlafrock und Nachtmütze unter ihr erschien. »Dorothee!« schrie ich ihm entgegen, indem ich mich mit beiden Händen an seine Schultern klammerte.
»Du kommst post festum, arme Dine,« antwortete der Papa mit kleinlautem Scherz, »die Frau Geheimrätin lassen sich gehorsamst empfehlen!«
Und nun fragt mich nicht, wie ich an das Bett meiner Mutter und über den ersten Austausch hinweggekommen bin. Auch nicht, wie lange ich ihr gegenübersaß und in halber Betäubung die Schlußszene unseres häuslichen Dramas gleich einem Nebelbilde an mir vorübergleiten sah. Erst bei öfterer Wiederholung in den nächsten Tagen prägte sie sich mir ein mit der Schärfe eines persönlichen Erlebnisses.
Die Verlobten waren von ihrem abendlichen Abschiedsgange heimgekehrt mit dem Beschluß, die Trauung am anderen Mittag in der verabredeten Weise stattfinden zu lassen. Vater und Mutter hatten nicht widersprochen. Den Gruß ihres alten Freundes im Kloster empfing die Braut mit einem Tränenstrom, der sie zu erleichtern schien.
Als am Sonntagmorgen der Gottesdienst sich seinem Ende näherte, stieg die Mutter in Dorothees Stube hinauf, ihr kleines Angebinde zu überreichen. Es war eine Silhouette und Locke ihrer Tochter, die sie einem perlenumrahmten Medaillon hatte einfügen lassen.
Sie fand die Braut fertig gekleidet in ihrem Abendmahlsanzuge, Brust und Arme mit einer Garnierung weißer Klosterspitzen, einem Geschenke Fabers, umschlossen. Das[265] dunkle Bild am schwarzen Bande als einziger Schmuck hob das Trauerartige der Erscheinung noch mehr hervor. In diesem düsteren Rahmen aber, in der Blütenweiße des Angesichts, die Augen gesenkt, die Hände wie zu demütigem Flehen über der Brust gefaltet und die Morgensonne die weiche Lockenwelle übergoldend: die Mutter gestand, daß sie unter dem Rosenschimmer des Kindes niemals diese ideale Schönheit geahnt, und daß sie, gebannt im Anschauen, einen Augenblick auf der Schwelle geweilt habe.
Aber nur einen Augenblick. Im nächsten durchflog ein Schrecken die Glieder der armen Hochzeitsmutter und ein entsetztes »Herrgott!« entschlüpfte ihren Lippen. Eine Braut, Siegmund Fabers Braut, der Schützling einer Reckenburg – und ohne jungfräulichen Kranz! Keiner hatte für das unerläßliche Symbol gesorgt, das bis zum letzten von der Hand der Brautführerin erwartet worden war. Und wie nun in dieser Übereile, bei sonntägig geschlossenen Läden, es beschaffen?
Dorothee hatte den Aufschrei vernommen, sie sieht die mütterliche Unruhe. Gleichzeitig hört sie das Rollen eines Wagens immer näher und näher die Straße herauf. Jetzt hält er vor der Tür. »Hardine!« kreischt sie, »Barmherzigkeit, Hardine!« und stürzt auf ihre Knie.
Aber es ist nicht die ersehnte Kranzjungfer, es sind die Hochzeitskutschen, welche vor dem Hause vorfahren. Rasche Tritte eilen die Treppe herauf. Bräutigam und Hochzeitsvater treten ein, eben als die zitternde Braut sich vom Boden erhebt.
Allein der Kranz, der Kranz! Alles blickt bestürzt – alle, mit Ausnahme der totenstarren Braut. Der glückliche Hochzeiter ist der erste, sich zu fassen. »Es muß ja[266] nicht eben Myrte sein,« sagte er lächelnd. »Im ganzen Süden wählt man beliebige weiße Blüten, gemischt mit irgendeinem anderen zarten Grün.« Er überblickt das Zimmer, das gestern noch einem Garten geglichen hatte. Sämtliche Töpfe jedoch sind heute in der Frühe hinaus zum Schmucke der elterlichen Gräber getragen worden; nur in einem Wasserglase sieht er ein paar Zweige, die er achtlos ergreift und der Geliebten reicht. Die Mutter unterdrückt einen Schauder; mit einem herzzerreißenden Lächeln flicht sich Dorothee dieselben in ihr goldenes Haar: es ist ein Strauß Rosmarin, auf eben jenen Gräbern gestern zum Andenken von der Tochter Hand gepflückt.
In dem nämlichen Augenblick aber bringt triumphierend der gute Papa, der in seinem Eifer in den Garten gelaufen ist, eine Handvoll weißer Tausendschön, an denen noch der Morgentau perlt. Sie werden zwischen die Zweige gewunden, und so mit Frühlingsblumen und Grabesgrün ist der bräutliche Schmuck vollendet. Siegmund Faber legt einen kostbaren türkischen Schal um die Schultern seiner Verlobten, er führt sie zum Wagen, die Eltern folgen in einem zweiten. Unter den Grüßen und Winken ihrer Mitbürger, die eben dem Gotteshause entströmen, fährt das schönste Kind der Stadt aus seiner dunklen Heimat in den blendenden Glanz der Welt.
Nach einer Stunde hielten die Wagen vor einer Kirche seitab des ersten Dorfes auf der Straße nach Berlin. Die Bewohner saßen beim Mittagessen, niemand außer dem Pfarrer und Küster harrte in dem kleinen, öden Gotteshause. Faber hatte aus Schonung für seine Braut um eine kurze, stille Feier gebeten, und so beschränkte sich dieselbe nahezu auf die alte strenge lutherische Formel[267] und den Segensspruch. Ohne Sang und Orgelklang waren die Verlobten binnen weniger Minuten Mann und Weib. Als die Ringe von neuem gewechselt wurden, die sie acht Jahre lang getragen hatten, glitt der der Braut von der schlaff herabhängenden Hand. Faber fing ihn auf und steckte ihn an ihren Finger, den er von da ab fest zwischen den seinigen gepreßt hielt. Sein Ja schallte laut und freudig durch den Raum. Dorothees Lippen bewegten sich nicht.
Schweigend führte Siegmund Faber seine junge Frau bis an die Kirchhofspforte, winkte den Wagen herbei und eilte zu geschäftlichen Abmachungen in die Sakristei zurück. Die Eltern nahmen Abschied von dem Kinde, das sie neben dem eigenen von der Wiege ab gehegt hatten.
»Gottes Segen über Sie, teure Dorothee, auch im Namen unserer guten, fernen Hardine,« sagte der Vater, nachdem er seinen Liebling umarmt hatte, und ging dann rasch dem glücklichen Gatten nach, um seine Tränen zu verbergen.
Bei dem Namen Hardine war es wie eine Sinnestäuschung, wie ein Wahn, der das junge Weib berückte. Unter konvulsivischem Zucken stürzte sie zu Boden und umklammerte der Mutter Knie.
»Barmherzigkeit, Hardine!« schrie sie, »Barmherzigkeit! Ich wollte ja nicht – aber ich mußte! Ich wollte ja reden – aber ich konnte nicht. – Das Kind, das arme Waisenkind! Barmherzigkeit, Hardine – Barmherzigkeit – um des Toten willen.«
Die letzten Worte wurden kaum noch verständlich gelallt. Sie taumelte mit gebrochenen Augen rückwärts über ein frisch geschaufeltes Grab. Faber stürzte herbei und trug die Bewußtlose in den Wagen. Eine Minute später rollten sie auf der Straße zur neuen Heimat voran.[268]
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