Noch bevor das Korn geschnitten worden, war der kleine Mus auch von Vaterseite eine Waise; und hatte der Hutmann Frey des Gerechten sanftes Schlummerkissen auch leider verwirkt, so ist es – Gott sei heute noch Dank dafür! – doch kein Sünderende, das er etwa im Taumel oder in der Verzweiflung genommen hat. Er starb im Gegenteil einen Opfertod, wennschon unbewußt und ohne daß einer von denen, welchen er schweres Unheil abgewendet, es ihm gedankt hätte.
Ein wildes Gebaren ging dem Sterben voran; keiner in der Gemeinde hatte Ähnliches erlebt, daher denn auch in ihr der alte heidnische Erbfeind, Kobold geheißen, seit der Kriegsdrangsal nicht dermaßen seinen Spuk getrieben. Selber der aufgeklärte Kantor Beyfuß konnte nicht leugnen, daß er, spät am Abend von einem Besuch in der Weidenmühle heimkehrend, einen bärengroßen schwarzen Kater mit Gluhaugen, gleich illuminierten Fensterscheiben, das Hirtenhaus habe umschleichen sehen. Der noch aufgeklärtere Amtmann Mehlborn lachte freilich seinen Freund Beyfuß aus und nannte des Klausen Zustand schlechtweg Säuferrappel; der Kreisphysikus, den Pastor Blümel zu Hilfe rufen ließ, nannte ihn dahingegen Wasserscheu. Der verdächtige Wirtshund, welchen er in der Geburtsstunde seines Sohnes erdrosselt, hatte den Klaus in die Hand gebissen. Wer achtete darauf? Der Klaus am wenigsten. Es war ein Tollhundsbiß.
Da seit dem Siebenschläfer keine Leiche im Dorfe bestattet worden war, fand Klaus Frey sein Reihengrab an der Seite seiner Frau. Pastor Blümel sprach den Segen darüber, und im Frühling sproßte der Rasen auf dem Hügel des lästerlichen Mannes so grün wie auf dem des tugendlichen Weibes; aber nur auf letzterem lag Jahr für Jahr ein Johanniskranz.[113]
Die Waisen, welche seit der Mutter Tode ein Vagabondenleben geführt hatten, wurden nunmehr in die Welt verstreut. Zweien von ihnen erwirkte der Pfarrer ein Unterkommen in provinziellen Versorgungsanstalten; dem dritten, durch seines Patrons Vermittlung, sogar eine Stelle im königlichen Militärwaisenhause. Die älteren Brüder wurden auf Bauernhöfen zu Knechten herangezogen; keiner jedoch in der heimischen Gemeinde, wo seit des Vaters nach wie vor nicht geheuerem Ende der Widerwille gegen die Hirtenbrut ein unüberwindlicher geworden war und die Ehre, welche dem jüngsten Sproß als Pastorziehkind angetan ward, das böse Blut obendrein ätzte.
Die gute Amtmannsfrau hätte wohl gern das Beispiel in der Pfarre nachgeahmt und den kleinen blondlockigen Hannes als Sohn in ihr Haus genommen. Aber welchen Kampf mit ihrem Amtmann würde das gekostet haben! Und die gute Amtmannsfrau fühlte sich von Tage zu Tage weniger eine Kämpferin. Ihre Kräfte gingen auf die Neige; bald, so getröstete sie sich, würde sie mit ihrem rechten Hannes im rechten Vaterhause vereinigt sein. Sie begnügte sich daher, in die Hand ihrer Pfarrfreundin eine kleine Summe niederzulegen, die für das Kostgeld zweier der Waisen, solange sie zum Dienen noch nicht herangewachsen waren, eben zureichte. Darüber hinaus klapperte sie aber auch oftmals – den Ohren beider Freundinnen recht tröstlich und wohlgefällig – mit dem Inhalt einer Sparbüchse, die sie die Gevatterbüchse nannte und in die sie wohl jeden Tag ein Münzstück für ihre Zwillingspaten steckte.
So stand das Hirtenhaus denn leer; der Rest seines Gerätes, Bett und Lumpen, waren der Tollwut halber verbrannt worden; das Schindeldach blieb unausgebessert,[114] denn lange Zeit fand sich – gottlob! – in der Gemeinde keine Familie, die arm genug gewesen wäre, zwischen den kahlen Lehmwänden ein Obdach zu suchen.
Die nächsten Jahre brachten böse Seuchen über das Land; bei uns die alten Blattern, weiterwärts die neue Cholera. Die Hälfte des jungen Freyschen Enaksgeschlechtes war dahingerafft, bevor der jüngste des selben ahnete, was Brudersein heißt. Man hat ihm späterhin seine Abstammung nicht verheimlicht; er kannte aber keine Familie außer der, welche ihn aus dem kalten Mutterleibe warm an ihr Herz und fest an ihre Hand genommen hatte; und fürwahr, er würde denen seines Blutes nicht mit gleicher Innigkeit angehangen haben, denn das zärtliche Neigen des Kindes stützte die tiefe Dankbarkeit der Waise.
In der töchterreichen Pfarre aber wurde das fremde, männliche kleine Anwesen von keinem als Überlast oder unnützer Brotesser angeschaut, sondern wie der Zugehörigste gehätschelt und gehegt. Alle Welt hatte ihre Freude, wenn sie den Mus und die Ma nebeneinander auf der Mutter Schoße sitzen oder späterhin sie Hand in Hand laufen und spielen sah. Sie waren unzertrennlich wie Zwillingskinder, dabei aber so verschieden geartet, wie leibliche Geschwister es selten sind. Ma: zart, zierlich, behende, ein schwarzlockiges Strudelköpfchen, zu Lust und Verdruß nervös erregt. Mus schon dazumal, wie er lebenslang geblieben ist: groß, stämmig, weiß und rot, niemals krank und niemals ungebärdig. Blinkende Sternchen nannten die Schwestern die Augen der kleinen Ma; die des Bruders Mus hätten sie Vollmondsaugen nennen müssen, so groß und rund waren sie, so hell und still. Aber nicht wie der liebe Mond, oder hinter ihrem dichten Wimperschleier die Sternchen der Ma, blickten sie stetig hinunter zu den Käferchen und Blümchen[115] im Grunde, sondern unverwendet und ungeblendet aufwärts zu den Himmelslichtern, wenn sie durch die Scheiben oder durch die Laubenblätter drangen.
»Das Mädchen sieht, wie sie kriechen, der Junge, wie sie fliegen,« sagte Kantor Beyfuß; mit welchem Sprichwort er freilich dem einstigen Verwalter ein bedenkliches Prognostikon stellte. Die Mutter aber verteidigte ihren Mus; erklärte, daß er die Augen nicht von dem Schwesterchen verwende, sooft sie ihn allein mit ihr in der Kinderstube oder auf dem Rasenplatze lasse; daß er den Quirlequitsch hüte wie einen anvertrauten Schatz und ihr den Ärger mit einer Kindsmagd erspare.
Überhaupt wußte die Mutter sich etwas mit ihrem Mus; und zwar nicht etwa, wie es mancher anderen Mutter beigekommen sein würde, um der Wohltat willen, die sie ihm erwies, sondern, was schwerlich einer anderen beigekommen sein würde, um eines geheimnisvollen Segens willen, der mit dem Mus unter ihrem Dache eingezogen sei. Frau Hanna Blümel war gegen gute wie böse zauberische Einbildungen in der Gemeinde ihrem Konstantin bisher eine rüstige Hilfsstreiterin gewesen; nun mußte sie sich um ihres Johannisglaubens willen manchmal von ihm strafen lassen.
So glatt und gleich, so ohne jegliche Krankheitsnot und Fährlichkeit war es noch nie in ihrer Kinderstube abgelaufen. Auch in der Wirtschaft glückte alles; alles gedieh; die Familie breitete sich aus über Hoffen und Erflehen. Seitdem am doppelten Tauffeste aus dem Gevatterküßchen ein Verlobungskuß geworden war, hörten die Bräute in der Pfarre von Werben nicht auf. Sooft nach dem Hochzeitsschmaus der Brautkranz ausgetanzt wurde, spielte das blinde Glück der nächstfolgenden Schwester das ahnungsvolle Symbol auf das Haupt, und kaum ein Jahr verging,[116] daß aus der Krone nicht eine Haube geworden wäre. Es zählte kein Nabob und kein Pair zu der Freierschar; aber wer in der Pfarre von Werben hatte sich auch Rechnung auf einen Nabob oder Pair gemacht? Das junge Paar baute seinen Herd, und das Elternpaar sah ihn bauen auf seinem eignen bescheidenen Grund; das junge Paar zog aus, und das Elternpaar sah es ziehen oftmals in weite Ferne; wenn aber die Wehmutstränen gegen die Freudentränen hätten abgezählt werden sollen, würden die letzteren überwogen haben. An dem Tage, wo Balsamine – das Minchen des Hauses – mit einem amerikanischen Schulmanne, vielleicht auf Nimmerwiederkehr, zu Schiffe ging, da sagte Pastor Blümel zu der bewegten Mutter, indem er dem Liebling zu seinen Füßen die dunklen Löckchen streichelte:
»Erkennst du jetzt, Hanna, die väterliche Liebe, die uns statt des ersehnten Benjamin dieses Röschen gab? Denn ein Haus ohne Töchter kommt mir vor wie ein Garten ohne seinen holdesten Schmuck, die Blumen.«
»Und einen Baum, der unserem Alter Frucht und Schatten geben soll, hat eine gütige Hand ja auch zwischen die Blumenkinder eingepflanzt,« versetzte Frau Hanna und sah ihren Dezem mit echten Mutteraugen an.
Aber das ist weit vorgegriffen. Als bei der jüngsten Pfarrhochzeit, in Ermangelung anderweitiger Bewerber, Schwester Rosen der Brautkranz und Bruder Dezimus der Bräutigamsstrauß gereicht wurden, da feierten Rose und Dezimus ihren dreizehnten Johannistag. Zurzeit jedoch stehen sie erst im Beginn ihres zweiten Stufenjahres, das heißt, sie sind vom Mus und der Ma zum Dezem und Röschen vorgeschritten und traben selbander in Kantor Beyfußens Schulstube.
Und da muß denn leider bekannt werden, daß im flüssigen[117] Lesen und zierlichen Schreiben der große Dezem von dem kleinen Röschen auf eine für den Helden einer Geschichte bedenkliche Weise überholt worden ist; ja, wäre zwischen menschlichen Hirnschalen nicht eine unsichtbare Zahlenwelt aufgetaucht – nach dem Sprachlaut vielleicht das erste Mysterium, welches den urwilden Jäger von dem urwilden Jagdtier unterschied –, da müßte dem Biographen für seines Helden Schülerehre bange werden. Die Arithmetik rettet sie. Schwester Röschen hat es im Leben nicht über das dritte der Spezies hinausgebracht; aber mit Addieren und Multiplizieren hat das klügste Frauenköpfchen ja auch für seine Lebenszeit mehr als genug getan, während, wenn möglich, noch ein Dutzend weitere Spezies erfunden werden müßte, um diesem oder jenem männlichen Schädel sein Gnügen zu tun. Und hinreichend dick für derlei Speziesappetit war Held Dezems Schädel schon in seinem ersten Stufenjahr. Kantor Beyfuß, der sich als einen zweiten Adam Riese schätzte, erklärte den Pfarrdezem für ein Quatermillionengenie, wie es ihm in seiner Praxis noch nicht vorgekommen sei. Die heidenmäßige Fertigkeit müsse dem Täufling mit dem heidenmäßigen Namen eingebunden worden sein, äußerte er vertraulich gegen Frau Julchen, seine Hausehre. In einem städtischen Kaufmannsgeschäfte, da könne der Junge es einmal zu etwas bringen; was aber ein Verwalter auf Amtmann Mehlborns Wirtschaftshofe mit solcher Quatermillionenkunst anfangen solle, das war dem Kantor Beyfuß ein Rätsel.
Und dem Pastor Blümel war es um so mehr ein Rätsel, als er sich niemals für einen Nebenbuhler Adam Riesens gehalten und es niemals beklagt hat, daß von allen idealen Gebieten das sogenannte unumstößliche ihm das verhüllteste gewesen, ja nahezu ein grauenerregendes geworden ist, als[118] er in der Schülerzeit einen Zipfel seines Schleiers zu lüften gezwungen ward. Wie sollte er, des Knaben vor Gott und Men schen verantwortlicher Führer, die ihm selbst so fremdartige Gabe entwickeln, wie sie in seiner bescheidenen Lebenssphäre dereinst verwerten?
Dieser erst durch die Schule geweckte Sinn wurde indessen noch bedenklicher, wenn der Vater ihn mit einem zweiten in Verbindung brachte, der sich schon früher, ohne durch Lehrwort oder Beispiel erregt worden zu sein, in dem Knaben offenbart hatte, bis dahin aber von den Eltern als eine Kinderlaune belächelt worden war: der nämlich für das Licht und die Lichter des Himmels.
»Es ist der dem Menschen eingeborene Trieb des Suchens,« sagte der Vater, »des Suchens ohne bestimmten Zweck. Das Kind sucht mühsam Steinchen und Blümchen und wirft sie, hat es sie gefunden, wieder fort. Ich alter Knabe sogar, bücke ich, wenn ich mich im Walde ergehe, nicht hundertmal meinen steifen Rücken, um mich mit Pilzen zu beladen, deren Wohlgeschmack mir unerfindlich ist, die du, Hannchen, der Giftgefahr halber, nicht auf den Tisch zu bringen wagst und die ich wieder fortwerfe, wie die Kinder ihre Steine und Blumen, wenn mir nicht eine alte Kräuterfrau begegnet, der ich mit meinem Funde einen Gefallen erweise.«
»Aber was sucht denn unser Dezem zwischen Wolken und Sternen, Konstantin?« fragte nach dieser Erklärung Mutter Hanna.
Ja, was suchte der Dezem, wenn er im Sommer stundenlang auf dem Hünengrabe hinter dem Pfarrgarten saß und – unverwendet wie ungeblendet – der Sonne nachstarrte, ohne etwas anderes zu sagen als: »Nun steht sie über dem Turm,« oder: »Nun ist sie am Zornberg, – über den Fluß[119] weg, – in der Stadt«? Was suchte er, wenn er an langen Winterabenden oder in stiller Morgenfrühe den aufgehenden Mond erwartete, sich verwunderte über seine wechselnde Gestalt und, ohne den Namen eines einzigen zu wissen, sämtliche größere Sternbilder kannte, die er am Horizonte auf und nieder steigen sah? Ehe er noch einen Blick in einen gedruckten Kalender getan, hatte er sich auf eigene Hand einen Familienkalender gebildet, hatte herausgebracht, um welche Stunde zu Vaters Geburtstag, im Dezember, die Sonne aus ihrem Nebelbette stieg, und um welche sie sich zu Mutters Geburtstag, im August, in ihr Flußbett niederlegte. Wie vor Jahrtausenden vielleicht auch schon ein Hirtensohn, sah er in den Sternen des Himmelswagens eine Freundesgruppe und taufte sie, der Größe nach, auf die Namen seiner sieben Schwestern; seinen Liebling aber, Winters den letzten im Morgendämmer, also den ersten, welchen er beim Erwachen gewahr ward, den nannte er noch ganz apart seinen Röschenstern.
Dem ruhigen, kräftigen Knaben durfte frühzeitig mancher Botenweg in Stadt und Umgegend anvertraut werden. Als er eines Tages mit seinem gefüllten Henkelkorbe von einem solchen außer Atem zurückkehrte, schalt ihn die Mutter ob seiner Hast. Er aber sprach, und seine runden, stillen Augen sprühten dabei von heller Lust:
»Ich bin mit der Sonne um die Wette gelaufen, Mutter, und früher angekommen als sie.«
»Die Sonne läuft nicht, Mus,« versetzte die Mutter lächelnd, »unsere Erde ist es, die mit den lieben Sternchen ringelrund um sie tanzt wie ihr Kinder um eure alte Mama.«
Das war das erste Problem in Dezimus Freys kindlichem Hirn, und es erregte in ihm einen Aufruhr wie kaum ein[120] zweites in späteren Tagen. Die Sonne, die er laufen sah, sollte stillestehen, und die Erde, die er feststehend unter seinen Füßen fühlte, sollte sich drehen, hatte die kluge Mutter gesagt, war also wahr.
Die kluge Mutter bereute ihre Übereilung; sie wußte, daß ihr Konstantin derleivorzeitige Aufklärung nicht billigte, und sie war eine gehorsame Ehefrau, wenn sie auch dann und wann auf schlängelnden Wegen das Ziel zu erreichen suchte, das sie ihn auf geradem Wege verfehlen sah. Wer aber A sagt, muß B sagen, und so half sie sich am Abend aus der Verlegenheit mit einem Kunststückchen, dessen sie sich aus ihrer Gouvernantenzeit erinnerte. Sie steckte eine Stricknadel durch ihr Wollknäuel und drehte es als Mutter Erde im Kreise um sich selbst und gleichzeitig auf halbschiefer Bahn um die leuchtende Astrallampe, die als Großmutter Sonne präsentiert worden war, während Schwester Riekchen mit einem Zwirnsknäuel, Enkelchen Mond genannt, eine ähnliche Bahn um die Erdenmutter beschreiben mußte.
Die lustige Ma lachte hellauf, nicht über das Experiment, nach welchem sie gar nicht geguckt hatte, sondern über ihren dummen Mus, der mit gläsernen Augen und offnem Munde, starr wie ein Götzenbild, den Wunderbeweis anstarrte. Der Mutter aber war es, als ob sie das Herz des Versteinerten hämmern hörte. Er saß die ganze Nacht aufrecht in seinem Bett, die Blicke an den Vollmondshimmel geheftet, am anderen Tage aß und trank er kaum, schlich gleich einem Nachtwandler achtlos auf seine Umgebungen umher; nach Sonnenuntergang aber kam er jubelnd vom Hünengrabe gesprungen, fiel der Mutter um den Hals und rief: »Jetzt hab ichs weg!«
Ähnliche Probleme folgten sich: nach einem starken Gewitter[121] ein Doppelregenbogen, ein Sternschnuppenfall und noch mehrere; alle aber waren weniger packend oder leichter zu lösen als jenes erste und ihre mähliche Enträtselung im Herzen dieses glücklichen Kindes vielleicht das am stärksten empfundene Glück; ein Glück, wie es so rein und freudig ja immer nur in der Kindheit, die nicht nach dem Zusammenhange forscht, empfunden werden kann.
Die Mutter half ihm in seinem kindlichen Ringen nicht weiter. Im Herzensinnersten aber weidete sie sich an ihres Knaben sonderbarer Doppelgabe, deren eine sie sein Dezemsteil, die andere seinen Johannissegen nannte. Sie baute Luftschlösser auf ihren Grund, wie jede rechte Mutter sie für ihren Liebling baut, mag der besonnene Vater sie auch unerbittlich wieder niederreißen. Und Vater Blümel riß die ihren unerbittlich nieder.
Konstantin Blümel gehörte nicht zu den eifrigen Glaubenshelden, welche dem urewigen Menschendrange aus dem Dunkel zum Licht das zürnende »Eritis sicut deus« entgegenhalten. Gewißlich nicht. In der Tiefe seines Gemütes hatte er den Punkt gefunden, auf welchem Glauben und Wissen, Denken und Dichten sich decken, und ehrte er darum jegliche Forschung, welche den Menschen dem Menschen näher bringt, dem vergangenen, dem gegenwärtigen, dem zukünftigen, ob sie nun Kenntnis wirke, Nutzen, Sitte oder auch nur Freude. In der Himmelskunde aber sah er einen Größendrang, welcher den Menschen von dem Menschen abzieht und den er dem Erklimmen unwirtlicher Gletschergipfel verglich. Es war Konstantin Blümel nicht gegeben, den Begleitstern eines Fixsterns zu entdecken oder seine Bahnelemente auch nur hypothetisch festzustellen. Wäre es ihm aber gegeben gewesen, würde er höchstwahrscheinlich die Mühe der Entdeckung und selber[122] der Hypothese sich erspart und während der Zeit seine alten Heiden und neuen Christen auf den Gehalt der Bergpredigt hin geprüft oder seine Rosenstöcke okuliert haben.
Wie aber der Größenwahn in der Himmelsforschung ihm widerstand, so wies er als einen Liebeswahn auch im eigenen Herzen die Versuchung zurück, sich auf einer jener fernen Welten eines leibhaftigen Wiedersehens seiner Vorangegangenen zu getrösten. Denn unsere Heimkehr ist in Gott und Gott ein Geist, der wohl seinen Willen, aber nicht sein Wesen zu offenbaren uns Menschen fähig und würdig erachtet hat.
In Schauern der Unendlichkeit sich entzücken beim Aufblick zum nächtlichen Sternenhimmel; lieben, auch als Symbol, die wärmende Leuchte, die aus dem Erdenstaube neues Leben weckt, das und nicht mehr hieß ihm menschliches Teilhaben an jenen unerreichbaren Weltenräumen, und mit vorlauter Neugier, mit plumpem Werkzeug sich in ihre Bahnen drängen, hieß ihm den Adel ihrer Poesie, den Zauber ihrer Heimlichkeit entweihen.
Darum waren es auch nur vorübergehende Bedenken, welche ihm bei seines Pfleglings eigenmächtigem Kalendarium oder seinem Vorsprung in den vier Spezies auf Kantor Beyfußens Schulbank aufstießen, und ferne lag es ihm, aus ihnen den Schluß auf eine Dissonanz für seine Zukunft zu ziehen. Nicht zu einem Arbeiter im Geist, zu einem verständnisvollen, gesitteten Arbeiter in Feld und Flur ihn heranzubilden, hatte er den Knaben an seine Hand genommen, und der ruhig starke Pulsschlag, den er in dem jungen Herzen spürte, galt ihm als Bürge, daß es sich von seinem natürlichen Grunde nicht verirren werde. Weise aber war es, mütterlichen Hirngespinsten, die sich gar leicht dem Kindergemüte einnisten, von vornherein zu[123] steuern; weise, auch nach außenhin, den Knaben seinem Ursprung und seiner Bestimmung gemäß heranzuziehen; und wenn der Hirtensohn seinem geistlichen Vater eine Wohltat mehr als die andere gedankt hat, so ist es die Pflege des schlichten Sinnes, der sein mütterliches Erbteil war und der dem Durchbruch seines Wesens aus dem Dunkel zum Licht Raum und Freiheit wahrte.
Mutter Hanna verstand und liebte es, ihre Töchter – und das hübsche Nesthäkchen zumal – zierlich zu kleiden. Sie hätte fürs Leben gern auch mit ihrem Sohne ein bißchen Staat gemacht. Wie schicklich ließen sich aus Konstantins abgelegtem Zeug Pumphöschen und Wämschen für den Mus zurechtstutzen! Aber der Mus trug noch als Dezem, und sogar Sonntags, einen blauen Leinenkittel, reinlicher, aber nicht zierlicher wie der ärmste Frönersohn; er schlief, schon da er noch Mus hieß, allein in einer kalten Bodenkammer, und wenn Schwester Ma, die ein Leckermäulchen war, ihre Semmel nicht dick genug mit Butter gestrichen und womöglich noch Honig darauf haben wollte, so tunkte Bruder Mus ein Stück Schwarzbrot in seine Morgen- und Abendmilch, ohne nach Butter und Honig zu lechzen. Bis zu Tränen hat es ihn aber oftmals gerührt, wenn er seine Pastormutter, um nichts vor ihrem lieben Jungen vorauszuhaben, auch nur ein Stück Schwarzbrot tunken sah. Er wußte, er war ein armes Waisenkind, und wenn er groß war, diente er als Knecht auf einem Bauernhofe. Seine stolzen Patenaussichten waren gleich luftigen Schemen verflogen.
Denn während unter einem liebreichen Walten im Pfarrhause alles Gute zum Besseren sich entwickelt hatte, war im befreundeten Amtshause die Skala des Friedens und der[124] Freude tief unter Null gesunken, seitdem Mutter Rosine zu ihrem winkenden Hannes in den Himmel gegangen. Pate Mus spürte den schlimmen Wandel zum ersten Male, als er an der Hand seiner Pastormutter der Leiche folgte und sein Herr Vizegevatter, der ihm bisher allezeit lachend einen Klaps auf die Backe gegeben und »Mosjö Verwalter« genannt hatte, heute, als Hauptleidtragender, ihn mit einem grimmigen Blick beiseitestieß und »Zudringlicher Bengel!« zwischen den Zähnen murmelte. Die schlimme Wandlung hatte indessen eine Vorgeschichte, die fast so alt wie Pate Mus selber war.
Seit bei dem Besuche des geistlichen Hartenstein ein erster undeutlicher Schatten in Johann Mehlborns stolzes Gemüt gefallen war, sah er die Ehe seiner Tochter in einem getrübten Lichte, das bei den geringfügigsten Anlässen nachdunkelte. Der spekulative Bauer hatte die exzellenzliche Spekulation auf ein von Schulden befreites Erbgut klar genug durchschaut und sie nicht minder berechtigt erachtet wie seine eigene väterliche Spekulation auf ein freiherrliches Wappenschild. Aber, wohlgemerkt! fest in der Hand, gleich einer Goldbarre, mußte das Besitztum gehalten werden, nicht flüssig wie Quecksilber zwischen den Fingern zerrinnen. Darum hatte er wohl eine Zeitlang die Wechsel des Generals, der Universalerbe seiner Gemahlin war, honoriert, sein Darlehn auf das Gut eintragen lassen und die Zinsen vom Pachtschilling abgezogen. Als sein Guthaben jedoch so hoch angeschwollen war, daß die Zinsen den Pachtschilling überstiegen, protestierte er die Wechsel und öffnete seine väterliche Hand nur noch zu der im Heiratskontrakt bedingten äußerst mäßigen Rente; ein, wie er meinte, unfehlbares Mittel, das Gut, das er buchstäblich in der Tasche hatte, auch dem Namen nach an sich zu bringen. Daß das[125] Werbensche Erbe, welches die Hartenstein verschleudert hatten, aus Mehlbornscher Hand auf beider Enkel übergehe, das war nun einmal eine von den fixen Ideen, deren vielleicht nur ein so harter Bauernschädel wie Johann Mehlborns fähig ist.
Wohlgemerkt aber auch zum zweiten: der Blutsfreundschaft seiner Tochter mußte die Ehre angetan werden, welche den faktischen Besitzern zweier Rittergüter und eines Geldkastens, der leichtlich noch ein drittes in sich schloß, gebührte. Hieß das aber, – um nur den Anlaß aufzuführen, der sozusagen dem Fasse den Boden ausschlug, – hieß das aber den faktischen Besitzern beider Werben die schuldige Ehre antun, wenn die Tochter mit den beiden Enkeln herbeieilt, den letzten Segen der verlöschenden Mutter zu empfangen, der Herr Eidam jedoch bleibt seelenruhig zu Hause, als ginge ihm die Sache keinen Pfifferling an, entschuldigt sich nicht einmal wie in früheren Zeiten mit Manövern und Paraden, erscheint auch nicht beim feierlichen Begängnis und schenkt sich sogar, so gut wie sein Herr Vater Exzellenz, die schriftliche Kondolenz, an welcher doch selber die gräflichen Nachbarn auf Bielitz es nicht fehlen lassen!
Nun aber war die Frau mit dem guten Herzen tot. Es fehlten hier ihre sänftigenden Tränen, dort die heimlich nachhelfende Hand. Hier wie dort steigerte wechselseitig Ursache die Wirkung, Wirkung die Ursache der Abneigung bis zur Erbitterung, bis zur Verwilderung und schließlich bis zum Bruch. Als der junge Herr schuldenhalber den Dienst quittieren mußte, lachte er über die Zumutung, auf dem Gute, dessen Erbherr er nominell noch war, abhängig von seinem widerwärtigen Schwiegervater und unter dessen Augen ein knappes Bauernleben zu beginnen. Bei Nacht und Nebel war er seinen Gläubigern[126] und unleidlichen Familienbanden entwichen; es ging die Rede, daß durch Vermittlung seines Vaters ihm in russischen Diensten eine förderliche Stellung erwirkt worden sei. Die Ehe wurde gerichtlich geschieden.
Seine Gattin hatte diesem Schritte, zu welchem ihr Vater seit Jahren gedrängt, bis zum Äußersten widerstanden. Nicht, daß der Zauber, der ihr junges Herz berückt, auf die Dauer sich gegen Gleichgültigkeit und Zügellosigkeit behauptet hätte: Brigitte Mehlborn war keine Romanheldin. Nicht, als ob sie sich über die Gründe getäuscht hätte, welche nach bürgerlichem und selbst nach christlichem Recht eine Scheidung gestatteten: Brigitte Mehlborn hatte ein scharfes Auge, Ungehöriges an Menschen und Zuständen zu sehen und zu sichten. Aber Brigitte Mehlborn gehörte zu den spröden Naturen, welche den einmal erwählten Standpunkt behaupten gegen Freund und Feind. Eben weil sie nicht mehr liebte, wurde es ihr leichter, Lieblosigkeit zu ertragen als sich über sie zu beschweren; eben weil sie ihre Klageberechtigung kannte, scheute sie deren demütigendes Eingeständnis; und so geschah es, daß, während der schuldige Gatte nach einer vollgültigen Befreiung, die er nicht beanspruchen durfte, drängte, die schuldlose Gattin in eine solche erst dann willigte, als es galt, ihr mütterliches Alleinrecht gegen jedweden Anspruch zu wahren. Nicht dem Vater, der kein Verlangen danach trug, dem Vater des Vaters, der Verlangen danach trug, entzog sie durch eine gerichtliche Scheidung die Obervormundschaft über die Kinder, die nur auf diese Weise ihr ausschließliches Eigentum werden konnten.
Aus dem gleichen Grunde entzog sie diese Bevormundung aber auch ihrem eigenen Vater, über dessen Sphäre sie sich erhoben hatte nicht erst durch ihre Ehe, sondern durch einen[127] eingeborenen Bildungstrieb, den späterhin ein stark herausgeforderter Widerstandssinn nur stachelte. Vater und Tochter hatten jetzt die nämlichen Feinde; sie konnten aber nicht mehr die nämlichen Freunde haben.
Johann Mehlborn war, in jachem Rücklauf der spät entwickelten Magnatenschrulle, über deren Ursprung hinweg zum alten zähen Bauerntrotz zurückgekehrt. Er würde, hätte er die Macht dazu besessen, aus republikanischer Tugend niemals einen Königsthron gestürzt, und kommunistische Weltverbesserer, die zur zeit auch im deutschen Vaterlande einen stillen Anhang fanden, würde er, mochten sie Professoren oder Schneider heißen, ohne Gnade zu Galgen und Rad verurteilt haben. Aber alles, was Edelmann hieß, das haßte Johann Mehlborn trotz einem Robespierre. Ehre und Macht der Gesellschaft gipfelten für ihn, wie einst für die Helden des Bundschuhs, wenn auch aus anderen Gründen, in dem Stande, der die Scholle bebaut und sein Geld in Eisentöpfen vergräbt. Er aß nicht mehr mit der linken Hand, sondern aus der Faust, wie sein Vater, der Großknecht, es getan, trug Schmierstiefeln und im Winter einen Schafspelz, bediente sich »französischer« Redensarten nur, wenn ihm im ehrlichen Werbener Deutsch keine volkstümlich genug klingenden einfielen, und würde sich des »Amtmanns« mit Freuden entäußert haben, wenn ihm die Regierung das schöne Geld, das er ihm gekostet, zurückerstattete. Hätte er es durchzusetzen vermocht, würde seine Brigitte den Namen Hartenstein oder mindestens das schnöde Adelszeichen vor ihm abgelegt und als ländliche Wirtin auf ihrem Erbhofe gewaltet haben; ihre Kinder würden als Bauernenkel erzogen worden sein, und das leichte Patrizierblut würde sich zu dauerhaftem Arbeiterblut verdichtet haben.[128]
Aber er vermochte es nicht durchzusetzen. Seine Brigitte war die Erbin seines harten Kopfes; sie beharrte bei Namen und Titel und übersiedelte als Wirtschafterin auf ihres Vaters Hof so wenig, wie sie als Dame des Hauses in den Palast ihres Schwiegervaters übersiedelt war, sondern zog in die den Familiengütern benachbarte Universitätsstadt der Provinz. Wie Vater Mehlborn keine tragfähige Krume seines Ackers unbebaut ließ, so hätte sie jede geistige Faser in ihren Kindern entwickeln mögen, und hier fand sie ausgiebige Bildungsmittel für sie. Für ihre eigene Person aber fand sie hier einen Boden, in welchem sich leichter Wurzel schlagen ließ als in dem kalten, schweren des Nordens; fand die Ansprüche an das äußere Leben so bescheiden, wie sie sie finden mußte, wenn sie auch nach außen hin sich Geltung verschaffen wollte. Da sie Erziehungsgelder von ihrem Schwiegervater nicht annahm, ihr erbitterter Vater aber jegliche Unterstützung verweigerte, sah sie sich auf ihr mütterliches Erbteil beschränkt und trug kein Bedenken, das Kapital anzugreifen, weil die Zinsen für ihre Zwecke nicht ausreichten. Es wurde ihr leicht, sich in schicklicher Mitte von Hartensteinschem Übermaß und Mehlbornschem Untermaß zu halten; ein alter Name, eine reiche Erbaussicht woben einen gewissen Nimbus um ihre Person und ihr Haus; im Kreise ihrer neuen Lebensgenossen wurde Brigitte von Hartenstein unbestritten gefeiert als eine »bedeutende« Frau, die einzige Eitelkeit, für die sie empfänglich war.
Sie hat es wahrscheinlich niemals erfahren, daß ihr alter Freund in der Pfarre es gewesen, dem sie das aus der Not helfende mütterliche Erbteil zu danken, und daß er um dieses Erbteils willen die Gunst seines Patrons in spe verwirkt, auch manches kleine Scharmützel mit seiner[129] Hanna zu bestehen hatte. Auch Dezimus ist hinter das Geheimnis erst gekommen, lange nachdem er es als einen Segen erkannt, die Schutzherrschaft seines Vizepaten wider Wissen und Willen verscherzt zu haben. Die Sache hatte sich aber also zugetragen:
Als Mutter Rosine das ersehnte letzte Stündlein nahen fühlte, ließ sie an einem Tage, wo sie ihren Amtmann fernab auf einem großen Viehmarkte wußte, den treuen Seelsorger an ihr Lager entbieten, um, nachdem sie das heilige Abendmahl aus seiner Hand empfangen hatte, die Bitte an sein Herz zu legen, daß er ihren letzten Willen aufsetze und denselben hinter ihres Amtmanns Rücken gerichtlich dingfest mache. Zwar wolle sie ihrem Amtmann, da er nun einmal seinen Kopf daraufgesetzt, nicht zuwider sein und ihr Eingebrachtes ihm ganz allein verschreiben, so wie die selige Frau Exzellenz mit ihrem Gute es an den Herrn Exzellenz getan. Ihre liebe Brigitte sei ja ihres Johann einziges bißchen Fleisch und Blut, was könne ihr durch die Verschreibung entgehen? Heiraten wolle ihr Amtmann nicht wieder, weil das schöne Werbensche Anwesen nicht zerkleinert werden solle, und in der Hand ihres lieben Schwiegersohnes würden die paar Tausend Mütterliches seiner Frau ja doch verdunsten wie Wasser auf einem heißen Stein. Mit dem Eingebrachten sollte ihr Amtmann also seinen Willen haben; von ihrem Ersparten aber habe sie, Mutter Rosine, diesem und jenem eine kleine Zuwendung zugedacht, um welche die gute Frau Pastorin wisse, ihr Amtmann aber nicht früher wissen solle, bis sie, Mutter Rosine, unter der Erde sei. Und dazu gehöre eine Verschreibung, welche sie allein nicht fertigbringe.
Pastor Blümel lehnte nicht nur dieses Ansinnen ab, sondern redete ihr auch das Testamentsvorhaben aus. Der[130] Großteil ihres Vermögens gebühre dem Gesetze nach der Tochter, und gesetzlichen Ordnungen entgegen zu verfügen, mache selbst unter den nächsten Angehörigen fast allemal böses Blut. Amtmann Mehlborn sei reich, weit reicher, als seine Gattin mutmaße; auf etliche Tausend Taler mehr oder weniger könne es ihm nicht ankommen, während sie unter Umständen der Tochter zu einer Wohltat zu werden vermöchten; sie habe einen klugen Kopf, und bis zu ihrer Großjährigkeit in Jahr und Tag bleibe das Vermögen ja ohnehin in des Vaters Hand. Die Mutter solle der gesetzlichen Ordnung daher ihren Lauf lassen, etwaige besondere Wünsche ihrem Manne anvertrauen und sich auf deren redliche Erfüllung verlassen.
In der Hauptsache leuchtete dieser Freundesrat der guten Frau ein. Sie hatte zu der Verschreibung sich überhaupt ja bloß, um Ruhe zu haben, entschlossen; nur gegen die letzte Versicherung schien sie Bedenken zu hegen, nickte indessen auch hierzu schließlich mit dem Kopfe, richtete sich im Bett in die Höhe und kramte tief aus dem Stroh eine tönerne Sparbüchse hervor, in deren Spalt sie hastig noch einen Papierschein, den sie unter ihrer Jacke verborgen gehalten hatte, klemmte. Die Büchse wollte sie dem Pastor absolut aufnötigen; seine liebe Frau wisse schon, was sie zu bedeuten habe.
Und der Mann der lieben Frau wußte es auch. Es war ja die Gevatterbüchse, mit welcher die Frau Patin manches Mal vor den Ohren ihrer guten Freundin geklappert hatte, um ihr den wachsenden Inhalt bemerkbar zu machen; auch manches Mal, wenn sie vor ihren Augen wiederum einen Taler hineinsteckte, den Taler »einen Heckepfennig für ihre Patenkinder« genannt. Denn Mutter Rosine ließ es sich nun einmal nicht nehmen, daß sie, obgleich nur für[131] einen der Täuflinge in das Kirchenbuch geschrieben, für beide das Christengelübde ausgesprochen habe, wie sie ihre Patenpflichten denn auch allezeit für beide in der herkömmlichen Weise betätigt hatte.
Selbstverständlich, daß Pastor Blümel die Annahme des heimlichen Patengeschenkes noch viel entschiedener ablehnte als die Abfassung eines heimlichen Testamentes. Das Hin- und Widerreden hatte die Kranke merklich erschöpft; die Tochter, welche der alte Freund schon vor einigen Tagen herbeigerufen, langte nur noch rechtzeitig an, der Mutter die Augen zuzudrücken. Der Amtmann aber hatte über einem, allerdings vorteilhaften Ochsenhandel den letzten geeigneten Moment für die Verschreibung verpaßt; er mußte das gesetzliche Kindesteil auszahlen, will sagen sich des Schraubstockes begeben, durch welchen er die Scheidung der freiherrlichen Ehe, einschließlich des Gutsverkaufs, erpreßt haben würde. Von mündlich vorgebrachten letzten Erdenwünschen und Auslieferung der Patenbüchse war keine Rede. Die geheime Unterredung mußte dem Amtmann aber doch zu Ohren gekommen sei, denn er hatte seitdem auf die Freunde in der Pfarre einen argen Zahn.
Frau Hanna empfand und verstand vollkommen, daß ihr Konstantin nicht anders, als er gehandelt, hatte handeln können. Sie war eine ehrenhafte Ehefrau. Sie hatte aber auch ein Mutterherz, und darum zwickte sie heimlich, ja dann und wann auch wohl vernehmlich, der Unwille über den entschlüpften Heckepfennig. Die Patenbüchse hatte gar zu getröstlich vor ihren Ohren geklappert. Nicht um ihres Röschens willen; der Inhalt würde ungeteilt dem Dezem zugute gekommen sein. Erlebte sie es denn nicht Jahr für Jahr, wie ohne Kopfzerbrechen sich Töchter versorgen? Aber ein Sohn, der das Brot erwerben lernen soll, welches[132] Frauen nur zu backen und zu verzehren brauchen! Ihr braver Junge! Der reiche Mann hatte die arme Waise ihres Notpfennigs schnöde beraubt. Dabei blieb sie, und wenn Vater Blümel dagegen einwendete, der Tod sei der Kranken zuvorgekommen, ehe die Wünsche ausgesprochen wurden, dann rief seine Hanna aufgebracht:
»Konstantin, Konstantin! die Menschheit kennst du, aber den Menschen kennst du nicht. Warum geht der Amtmann dir aus dem Wege, sucht, statt wie sonst bei uns, Rat und Tat bei allerlei fremdem Volk? Warum schneidet er unserem guten Jungen ein Gesicht, schimpft ihn einen zudringlichen Bengel und gibt ihm einen Rippenstoß? Versündige dich nur einmal an einem Unschuldigen, und du wirst ganz gewiß sein Feind geworden sein, – das heißt, wenn du ein Mehlborn bist,« setzte sie lachend hinzu, und ihr Konstantin konnte in der Stille des Herzens ihr nicht gänzlich unrecht geben.
Die Tochter war übrigens nicht besser als die einstigen Freunde mit dem Amtmann daran, obgleich ihr kein Unrecht durch ihn widerfahren und obgleich sie notgedrungen die Scheidung endlich beantragt hatte. Sie hatte nachher den Vater nur für so lange Zeit wiedergesehen, als erforderlich war, ihm ihre getroffenen Einrichtungen auseinanderzusetzen und das mütterliche Erbteil in Empfang zu nehmen. Sein Zorn, seine Drohungen prallten an ihr ab, wie ihre Vernunftsgründe an ihm; er aber erboste sich über sie, und sie erboste sich nicht. Ärger lag so wenig wie Nachgiebigkeit in ihrer Natur. Sie tat, wie sie überzeugt war, ihre Pflicht. Sie würde ihn öfter besucht haben, aber er lud sie nicht ein; er betrat niemals ihr Haus, selbst wenn er in ihrem Wohnorte Geschäfte hatte. Sie schrieb ihm lange Briefe, aber es war zweifelhaft, ob er sie nur las;[133] jedenfalls beantwortete er sie nicht. Nach allem Vorhergegangenen, – und dazu gehörte, daß durch einen Zufall der schmähliche Anlaß von seines Sohnes Tod dem Vater erst nach Jahren kund geworden, da die Tochter ihn doch von Haus aus gekannt und schweigend hingenommen, – hatte sie es gründlich bei ihm verschüttet, weil sie während der Scheidungsverhandlungen nicht die Abtretung des Gutes von ihrem Schwiegervater durchgesetzt; eine Forderung, die bei einiger Nachgiebigkeit ihrerseits schwerlich auf Widerstand gestoßen wäre.
Aber warum ihre intimste Angelegenheit mit der eigennützigen ihres Vaters verquicken? Was verschlug ihr der Besitz von soundso viel hundert Morgen altheimischen Landes? Sie hatte auf dem elterlichen Hofe sich niemals zu Hause gefühlt; sie dachte an nichts weniger, als ihre Kinder zu Landwirten zu erziehen, und kaum hätte etwas ihr unverständlicher sein können, als daß der alte Bauer, ihr Vater, jetzt mehr denn je nach dem Besitztitel als nach einem Racheakt an dem verhaßten Geschlechte trachtete. Sie, Brigitte, hegte keine Rachegedanken und keinen Haß gegen eine Familie, mit welcher sie ein für allemal abgeschlossen hatte, nachdem sie ihre mütterliche Freiheit gegen jener Ansprüche durchgesetzt. Im Guten wie im Schlimmen dachten Vater und Tochter nur an sich selbst; eine Einigung war daher nicht abzusehen.
Der Pachtkontrakt von Hochwerben lief in diesem Jahre zu Ende, und keine der beiden Parteien hatte bis in den Sommer hinein einen Schritt zu seiner Erneuerung oder Kündigung getan. Der General offenbar nicht, weil er die erstere für unvermeidlich erachtete. Er hätte heute ja leichtlich die doppelte Pachtsumme erzielen können; aber das Inventar eignete dem Amtmann, und die Schuldenlast[134] war nicht abzuschütteln. Wohl oder übel, es mußte alles beim alten bleiben. Der Amtmann dahingegen war entschlossen, endlich kurzen Prozeß zu machen. Zu Michaelis kündigte er die Hypothek. Voraussichtlich hatte er dadurch gewonnen Spiel; trotzte aber sein Widerpart, kam es zur öffentlichen Versteigerung, nun so erstand es Johann Mehlborn; freilich mit schwerem Verlust; denn den Spottpreis der Pachtung und die hohen Prozente konnte die beste eigene Bewirtschaftung nicht ersetzen. Aber er hatte seinen Willen und hatte seine Rache, und Wille und Rache sind schon das Risiko eines Geldopfers wert, zumal wenn das Opfer ein so unwahrscheinliches ist wie in gegenwärtigem Falle.
Seitdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, betrachtete Johann Mehlborn das Werbensche Hauptgut als sein unbedingtes Eigentum, war aber seltsamerweise der Aufenthalt daselbst ihm verleidet. Er wandelte, vorläufig nur in Gedanken, die Säle des Schlosses zu Kornböden, das Pächterhaus samt guter Stube zu Gesindekammern um und übersiedelte in Wirklichkeit schon vor der Ernte mit seiner Wirtschaft auf das Talgut. Das dortige Wohnhaus hieß nicht ein Schloß; kein Edelmann hatte jemals in ihm gefaulenzt und gepraßt; unter der dortigen Kirche ruhten keine ritterlichen Gebeine, nur die seiner Rosine und ihres Hannes, an welchen letzteren er Tag und Nacht mit wurmendem Grimme zurückdachte, nicht mehr als an einen seiner Standesehre sich opfernden Kavalier, sondern als an einen von einem Junker gemordeten redlichen Bauernsohn. Ja, um den Preis des eigenen Lebens hätte er den zurückgesetzten Erben wieder lebendig machen mögen, seitdem die vorgezogene Erbin sich in schnödem Hochmut von dem Vater abgewendet hatte. Und wahrlich ein hoher Preis wäre es nicht gewesen, den er für die Erweckung des[135] guten Jungen gezahlt haben würde. Johann Mehlborn hatte keine Freude am Leben mehr als höchstens die, anderer Lebensfreude zu verkümmern und vergällen. Sobald er nur erst Herr beider Werben hieß, würde er sich willig in die Gruft zu seiner Rosine und ihren Hannes haben tragen lassen.
Es war in der Morgenfrühe nach einem gestrigen Unwetter, dem der erwähnte Regenbogen folgte, nicht der erste, welcher vor Dezems Augen, aber der erste, welcher vor seiner Seele sich als neues Himmelswunder aufbaute.
»Was ist das?« hatte er staunend gefragt, als er, nachdem gegen Abend die Sonne sich durch das chaotische Gewölk gerungen, eine bunte Brücke, über den Fluß hinweg, sich vom Zornberge bis zum Hünengrabe spannen sah.
Der Vater, welcher, bis die herrliche Erscheinung sich verzogen, schweigend mit gefaltenen Händen am Fenster gestanden hatte, schlug die Heilige Schrift auf und las das Kapitel von der Sündflut und dem Friedensbunde Gottes mit der geretteten Menschheit.
»Und wenn es kommt, daß ich Wolken über die Erde führe, soll man meinen Bogen sehen über den Wolken.« Das war die Antwort auf des Dezem Frage.
Und gewiß eine herzbewegliche Antwort! Der närrische Dezem hätte nun aber gern auch noch gewußt, wie der liebe Vater im Himmel es anfange, seinen Friedensbogen zwischen den schwarzen Wolken in aller Geschwindigkeit so schön bunt anzumalen und in ebensolcher Geschwindigkeit ohne Farbenspur wieder auszulöschen? Und auf diese Fragen blieb Vater Blümel die Antwort schuldig. Als er aber nach dem Abendsegen sich an das Klavier setzte – Vater Blümel war bis an sein Lebensende ein eifriger Musikant – und[136] des alten Gellert Lied von der Ehre Gottes in der Natur zum Vortrag brachte, da geschah es zum ersten Male, daß der arme Dezem an aller Menschenweisheit irre ward. Denn nun sah er die Sonne, die nach der Mutter Sagen sich nicht rühren sollte, in des Vaters Sang aus ihrem Zelte geführt werden und ihren Weg laufen gleich als ein Held. Daß dem Hirtenjungen von Werben für eine Sonne solch ein Heldenlauf weit schicklicher als das Stillestehen dünkte, wird jedes Kind begreiflich finden.
Er hatte wiederum eine ruhelose Nacht, und da der andere Tag ein Sonntag, also keine Schule war, der Himmel aber so rein, als hätte niemals ein schwarzes Wolkenheer auf ihm gelagert, rannte er, den letzten Bissen des Morgenbrotes noch im Munde, hinaus auf das Hünengrab.
Das Hünengrab, hart an der Pfarrgartenmauer, wurde ein Erdaufwurf genannt, wie die Gegend unter gleichem Titel verschiedentliche aufzuweisen hat. Ob wirklich Heldengebeine darunter eingescharrt waren, hatte bis dato niemand untersucht. Unmöglich wäre es just nicht, da diese Landschaft seit grauer Vorzeit der Tummelplatz wilder Entscheidungen gewesen ist. Pastor Blümel achtete indessen dafür, daß lediglich alte Steinbruchreste auf diesen Punkten zusammengehäuft worden seien. Weil das Hünengrab aber in die nördliche Ebene hinein eine noch weitere Aussicht als selbst das Pfarrhaus bot, hatte der Pastor seinen schmalen Gipfel geebnet, ein paar Ebereschenbäume darauf gepflanzt und eine Ruhebank unter ihnen angebracht, auf welcher jeder, der fremd des Weges kam, gern eine Umschau hielt.
Auf diesem Hügel, der ihm gestern wie ein Pfeiler der wundersamen Wolkenbrücke vorgekommen war, dachte der arme Dezem nun allen Ernstes irgendein geheimnisvolles[137] Überbleibsel aus Gottvaters Bau-oder Malkasten aufzufinden; da jedoch ringsumher nichts zu entdecken war als allbekanntes Himmelblau und Erdengrün, setzte er sich auf die Bank, mit dem löblichen Entschluß, auf seiner Schiefertafel, die er zu diesem Zwecke mitgebracht, Kantor Beyfußens Exempel für die nächste Rechenstunde zu lösen. Wie manchem bedeutenden Helden, im Widerstreit von Stimmung und Pflicht, geschah es nun aber auch dem bescheidenen dieser Geschichte, daß der Stimmung der Obsieg blieb. Für die Exempel war immer noch Zeit. Zuvörderst galt es auf der leeren Tafelseite das Phänomen, das ihm so gewaltig im Kopfe rumorte, sich durch eine Illustration zu vergegenwärtigen und zu verdeutlichen. Das aber machte er so:
Quer über die Tafel zog er einen doppelten Strich, auf denselben schrieb er »Fluß«; zwischen krausen Schnörkeln über dem Flusse stand zu lesen: »Wolken«. Hart am Fluß, in dessen Mitte, trug ein Haus die Inschrift »Pfarre« und in einem ihrer Fenster ein dicker Punkt das Wörtchen »Ich«. Am äußersten Tafelende war der städtische Kirchturm nicht zu verkennen; ob aber das Gesicht, welches mit einer Strahlenglorie umstrichelt, Gottvater oder Mutter Sonne zu benennen sei, darüber grübelte der Künstler eine Weile und entschied sich endlich, die Frage offen zu lassen, wie er demgemäß auch auf die Brücke, welche am entgegengesetzten Ende hoch oben den Fluß überspannte, mit lateinischen Lettern malte: »Regenbogen oder Friedensbogen«. Trotz dieses Entweder-Oders, so viel hatte er über seiner Arbeit doch glücklich ausgeklügelt, daß das zweideutige Strahlenantlitz über dem Turm das Farbengebilde hervorgezaubert haben müsse und daß dieses mit der Glorie jener Strahlen erloschen sei. Und das war für den Anfang genug.[138]
»Was ist das?« fragte er, selber strahlend vor Freude, indem er seinem Röschen, das im rosa kattunenen Sonntagskleide einhergetänzelt kam, sein stolzes Kunstwerk vor die Augen hielt.
»Dummes Zeug!« antwortete Röschen lachend und beachtete das Nachbild so wenig, wie sie gestern das Vorbild beachtet hatte.
Sie trug im Schürzchen einen Haufen Blumen, die ihr Papa zu einem Kranze geschnitten hatte: denn Kränzebinden war Röschens Lust weit mehr als selber »Puppens spielen«, geschweige denn Stricken oder am Kinderrädchen spinnen. Kein Tag, solange es Blüten gab, verging, daß sie nicht ein Prachstück der Gärtnerkunst geliefert und eines der alten Großvater-oder Großmutterbilder in der Wohnstube damit geschmückt hätte. Im Winter aber half sie sich mit Efeublättern, welche ihr Mus auf der Gartenmauer pflücken mußte, und mit Blumen, welche die geschickten Fingerchen aus farbigen Papierstreifen zusammenkniffen. Wo das Röschen waltete, ging es bunt und lustig zu; am lustigsten aber in ihres Dezem Herzen. Er war aus einem Hüter des Schwesterchens Handlanger geworden, allezeit willig in Arbeit und Spiel. Mutter Hanna sagte manchmal ärgerlich: »Der Junge wird dem Prinzeßchen noch einmal die Strümpfe stopfen müssen!« Dazu kam es indessen nicht. Mutter Hanna stopfte Prinzeßchens Strümpfe lieber selbst.
Auch heute ließ der Dezem auf Röschens Geheiß seine Schilderei im Stich, um sich neben sie auf einen Stein am Fuße des Hügels zu hocken. Er pflückte ihr Zweige vom Zaun, reichte ihr die Blumen zu und erwies sich wieder einmal als der klägliche Stümper, welcher er in der Botanik geblieben war, trotz der täglichen Übungen auf dem Gartenbeet und beim Kränzebinden. »Mus, eine Nelke!« Und[139] er reichte ein Löwenmaul. »Dummer Mus, eine lila Levkoie neben den blauen Rittersporn! das schändet sich ja! Mus, fix! hole dort die Gänseblümchen! Und drüben am Rain die Kornblume! Fix, Mus, fix!«
Und Mus ließ sich schelten und rannte und pflückte und tat alles, was das Strudelköpfchen ihm hieß, mit so viel Vergnügen, daß er sämtliche Himmelsprobleme darüber vergaß.
Der Kranz war eben fertig geworden, als die Glocken zum ersten Male läuteten. In einer Stunde hieß es zur Kirche gehen. Die Kinder hatten in ihrem Eifer und über dem Geläut nicht bemerkt, daß auf dem Feldwege, der von der Landstraße zum Dorfe führte, eine herrschaftliche Equipage sich genähert hatte, daß seine Insassen ausgestiegen und von der entgegengesetzten Seite auf das Hünengrab gestiegen waren, während der leere Wagen weiter nach dem Dorfe fuhr. »Gefällt es dir hier, Lydia?« hörten Mus und Ma jetzt eine kräftige Männerstimme fragen.
Sie fuhren auf und schauten in die Höhe. Da oben stand ein mächtig großer Herr mit schneeweißem kurzem Lockenhaar und einem schneeweißen Schnurrbart, dessen Spitzen fast die Ohrläppchen berührten. Ein weißes, achtzackiges Kreuz war auf den blauen Zivilüberrock geheftet; den hohen, runden Hut hatte er abgenommen, denn erhitzt, wie er von dem Aufstieg schien, trocknete er sich mit seinem Taschentuche die Stirn, die glatt und rosig wie die eines Kindes glänzte.
Und neben dem alten Herrn stand ein Mädchen – nein, wohl schon ein Fräulein – in der Größe zwischen Röschen und Dezem, aber von so ruhig ernsthafter Haltung, daß es wohl ein paar Jahr mehr zählen mochte als die beiden. Unter dem breitrandigen Strohhut hing das mattblonde[140] Haar, in zwei dicke Zöpfe geflochten, bis zu den Knien hinab; nicht nach Kinderart und auch nicht nach der Mode der Zeit reichte dahingegen das weiße Kleid weit über die Knöchel. Als sie den langen weißen Schleier zurückschlug, blickte Dezimus in ein Gesicht so schneeig, wie er noch kein Menschenantlitz gesehen hatte. Die lichte Gestalt auf der Höhe, wo er im Geiste noch immer den Friedensbogen eingesenkt sah, kam ihm schier vor wie ein Engelsbild.
Sie hatte bei der Frage des alten Herrn still den Kopf geneigt und richtete nun die großen Augen, dunkel wie Hyazinthenblüten, aufmerksam das Tal entlang, während ihr Begleiter aus ihrer Hand einen Gegenstand nahm, fast so lang wie ein Spazierstock, aber bei weitem dicker. Dezem dachte an die Posaunen, auf welchen in des Vaters großer Erbbibel die himmlischen Heerscharen Halleluja blasen; Röschen dachte an die Blaserohre, mit welchen die Dorfjungen nach den Spatzen schossen; da der alte Herr aber die Posaune oder das Blaserohr statt an den Mund vor das rechte Auge führte und also bewaffnet gleichfalls die Gegend nach allen Seiten musterte, da Dezimus überdies am Ende des Instruments eine Glasscheibe blinken sah, war er schlau genug, auf eine Art von Riesenbrille zu schließen, mit deren Hilfe irgend etwas Außerordentliches zu erspähen sei. Vermochte sein Pastorvater doch die feine Schrift, welche mit bloßen Augen er selber bei Tage nicht unterschied, durch seine Brille die halbe Nacht hindurch ohne Anstrengung zu lesen, und gehörte seines Pastorvaters Brille doch auch zu den Weltwundern, über welche der Hirtensohn sich stille Gedanken machte. Er hatte mehrmals durchzuschauen versucht, aber nichts als grauen Nebel wahrgenommen. Nun brannte er vor Begierde, es mit dem großen Rohr zu versuchen.[141]
»Du, Mus,« flüsterte Röschen ihm in das Ohr, indem sie ihn an den Haaren zupfte, »du, Mus, der Herr da oben, das ist unser General!«
Und alsobald hüpfte sie, flink wie ein Eichkätzchen, den Hügel hinan, machte höflich, wie alle Pastorkinder von Papa und Mama erzogen wurden, vor dem alten Herrn einen tiefen Knix, reichte ihm den Kranz und sagte dreist: »Da, Herr General!«
Der Herr nahm das Rohr vom Auge und legte es hinter sich auf die Bank. »Woher kennst du denn den General, kleine Maus?« fragte er mit einem freundlichen Blick auf das hübsche, muntere Kind.
»Am Bart und am Stern, Herr General!«
So gut verstand das kleine Pfarrröschen sich auf die Menschen schon zu Anfang ihres zweiten Stufenjahres. Wo hätte ihr großer Wiegenbruder wohl so viel Witz und so viel Mut hergenommen? Er drückte sich verstohlen um den Hügel herum und erreichte die Höhe von der entgegengesetzten Seite, den Herrschaften im Rücken.
Der alte Herr lachte belustigt, hob die Kleine unter den Armen in die Höhe und küßte sie herzhaft ab, was sie sich ohne Sträuben gefallen ließ, trotz des gewaltigen Barts. »Sag mal, Kind, ist das Haus dort zwischen den Bäumen das Gut?« fragte er darauf.
»Nein, unsere Pfarre, Herr General,« antwortete Röschen.
»So bist du wohl gar ein Pfarrtöchterchen, Kleine?«
»Freilich; das siebente, Herr General.«
»Das siebente? Potz tausend! Ist dein Papa zu Haus?«
»Alleweile noch, ja, Herr General. Wenns aber zum drittenmal läutet, muß er in die Kirche und ich auch.«
»So wollen wir während des Gottesdienstes einen[142] Spaziergang machen, Lydia, und erst danach unseren Pfarrbesuch abstatten,« sagte der Herr zu seiner Begleiterin, die still beiseitestand. Als er sich nach dem Pfarrtöchterchen umsah, flog es wie ein Schmetterling den Abhang hinunter und der Gartenpforte zu.
Sonntags wurde der Betstunde um ein Uhr halber bald nach der Frühkirche zu Mittag gegessen, der angekündigte Besuch fiel daher just in die Tischzeit. Papa würde die vornehmen Gäste natürlich zur Tafel laden, ein vorbereitender Wink Mama natürlich von Wichtigkeit sein: so hatte Schwester Röschen, die noch nicht einmal das kleine Einmaleins konnte, während jener Rede blitzschnell kalkuliert. Wie wäre Bruder Rechenmeister auf solchen Schluß verfallen?
Der alte Herr wendete sich rückwärts, um seinen Dollond wieder aufzunehmen, und da lachte er denn noch belustigter als vorhin, indem er hinter der Bank einen Bauernjungen auf den Knien liegen und ohne es anzurühren durch das Fernrohr gucken sah, aber wie es eben lag, von der verkehrten Seite.
Der arme Dezem fuhr in die Höhe und schlug die Augen nieder wie ein ertappter Dieb.
»Bist du auch ein Pfarrkind?« fragte der Herr.
Dezem schüttelte.
»Aber doch aus dem Dorf?«
Dezem nickte.
»Du möchtest wohl gern durch mein Glas gucken, gelt?«
»Ja, ja!« stotterte Dezem mit freudiger Hast.
»Nun, so guck! Wohin soll ich es richten?«
»In die Sonne, gnädiger Herr.«
»In die Sonne? Ei, was willst du denn in der auskundschaften, Junge?«[143]
»Ob sie läuft,« antwortete Dezimus jetzt ganz dreist.
»Nun, probiers, kleiner Kopernikus!« sagte lachend der alte Herr.
Er richtete das Glas nach der Sonne, und Dezimus starrte hinein, bis ihm die Augen übergingen; aber entdecken von dem, was da oben getrieben wurde, konnte er nichts außer einer Lerche, die mit bloßen Augen sich wie ein Schmetterling ausgenommen hatte und durch das Glas in ihrer natürlichen Größe erschien. Ein Wunder blieb freilich auch das, und nachdenklich legte er den Tubus in die Hand des weißen Fräuleins, das ihn sorgfältig zusammenschob.
Die Zeit mußte hingebracht werden. Der alte Herr setzte sich auf die Bank und nahm die Tafel, welche Dezimus darauf niedergelegt hatte, zur Hand. Für das illustrierte Phänomen auf der Rückseite schien der würdigende Sinn ihm zu gebrechen; die Exempel dahingegen mochten ihn an alte Bakelzeiten erinnern; er betrachtete sie und versuchte sogar eines von ihnen auszurechnen.
»Wahrhaftig, Lydia, ich kann nicht mehr multiplizieren,« sagte er nach einer Weile, indem er lachend den Kopf schüttelte. »Ist leider von jeher meine schwache Seite gewesen,« setzte er mit einem Seufzer hinzu. »Sind es deine Aufgaben, mein Junge?«
Dezimus nickte wieder stumm.
»Rechne mal hier das, was ich Alter nicht herausbringe.«
Der Quatermillionenheld wurde rasch damit fertig, machte darauf die Probe der Division, und als dieselbe ohne Fehl zutraf, schmunzelte der alte Herr: »Sieh! sieh!«
Er musterte den Jungen vom Kopf zur Zeh, so wie er einen Rekruten gemustert haben würde. Der Dezem war ein strammer Bursche, und – ohne Heldenschmeichelei! –[144] wenigstens ein ehrliches Gesicht ihm nicht abzusprechen. Der schneeweiße Hemdskragen, die blanken Stiefeln, – vom Helden eigenhändig gewichst! – machten auch einen guten Effekt. Der alte Herr schüttelte wohlgefällig das schöne, weißgelockte Haupt. »Wie heißt du, mein Junge?« fragte er.
»Dezimus Frey, gnädiger Herr.«
»Dezimus! ein kurioser Name, nicht wahr, Lydia?«
»Weil ich der zehnte Sohn bin, gnädiger Herr.«
»Der zehnte Sohn! Potztausend, das nenn ich Segen! Aber halt! halt! wie ist mir denn? Am Ende gar der arme Schäferjunge, für welchen der Werbener Pfarrer den König zu Gevatter bat, als ich das letztemal mit ihm in Teplitz war. Wie lange ist es doch her? Weiß Gott schon acht Jahr. Auch dein Vater, Lydia, hat mir dazumal – wie einem derlei alte Geschichten doch plötzlich wieder auftauchen! – über die tolle Dezemswirtschaft unter meinem Patronat gründlich die Leviten gelesen. Ich habe herzlich über die Geschichte gelacht. Bist du der Königspate, Junge?«
Dezimus sagte: »Ja.« Zum ersten Male war er stolz auch auf die zeitliche Ehre, die ihm in der heiligen Taufe angetan worden war. Ja, so stolz, daß er auf das weiße Fräulein, das ihm bisher unnahbar feierlich gegenübergestanden hatte, nahezu verwegen seine Augen richtete.
»Prächtig, prächtig!« rief der alte Herr, indem er sich vergnügt die Hände rieb. »Wie das unsere alte Majestät amüsieren wird! und welchen stattlichen Gardisten kann ich ihm in Aussicht stellen! Flügelmann im ersten Garderegiment, Feldwebel, schließlich Zahlmeister mit Leutnantskompetenz – was sagst du zu der Karrière, Königspate?«
Der Königspate sagte nichts dazu; er ahnete nicht im[145] entferntesten, was diese Würden zu bedeuten haben. Da aber ein so hoher Gönner sie in Vorschlag brachte, mußte der Ersatz für den Verwalter ein unermeßlicher sein; und das freute ihn in die Seele seiner Pastormutter, die diesen mißglückten Posten noch immer nicht verwinden konnte. Aufgetaut, wie er einmal war, schwoll ihm das Herz von stolzem Glück. Noch nie hatte ein Mensch ihn gefragt: Wie ist dirs ergangen? Wie hast dus getrieben in deinen langen acht Lebensjahren? Noch nie hatte er einem Menschen die Wohltäter rühmen können, die ihm der Inbegriff alles Würdigen waren; der alte Herr lächelte über die treuherzige Weitschweifigkeit des kleinen Schwätzers, und selber das stille weiße Fräulein belebte sich bei der Vorführung von Pastorvater und Pastormutter, von den sechs großen Schwestern und der kleinen siebenten, die eigentlich sein Zwilling sei. Auch Kantor Beyfußens und der litauischen Lene wurde gebührentlich Erwähnung getan, und nur erst, als der alte Herr ihn mit der Frage unterbrach: ob er den alten Mehlborn kenne? da stockte der Redefluß einen Augenblick, dann jedoch wurde wahrheitsgemäß erwidert, der Dezem kenne den Herrn Amtmann freilich ganz genau, da selbiger ja auch sein Herr Pate sei und es früherhin so gut mit ihm gemeint habe, daß er ihn sogar zu seinem Inspektor machen wollen. Seit dem Tode der Frau Amtmännin könne der Herr Amtmann den Dezem aber nicht mehr leiden, und seitdem der Herr Amtmann hinunter auf das Talgut gezogen sei – –«
Der alte Herr fuhr von der Bank in die Höhe. »Wie, was?« brauste er auf, »der Mehlborn wohnt nicht mehr im Schloß? Aber zum Henker! das verdirbt mir ja das halbe Gaudium! Wann ist er denn – – –« Er hatte nicht Zeit, die Frage zu vollenden; denn: »Dort kommt der Herr[146] Prediger, lieber Onkel!« rief das weiße Fräulein; und wirklich bog Pastor Blümel, bereits im Ornat, hastigen Schrittes um die Gartenhecke. Röschen flatterte wieder vor ihm her wie ein Schmetterling.
Der fremde Herr ging ihm mit ausgestreckten beiden Händen entgegen.
»Ihr liebes Töchterchen hat unser Inkognito zu Ihnen ungelegener Stunde aufgehoben, Herr Pfarrer,« sagte er. »Richtig gespürt hat indessen das kleine Ding. Ich bin in der Tat der General von Hartenstein, und diese hier ist meine Nichte, die Tochter des Propstes, den Sie ja kennen.«
Pastor Blümel freute sich – und wie von Herzen! – des ersehnten Bekanntwerdens, bedauerte, durch sein Amt für ein paar Stunden in Anspruch genommen zu sein; rechnete aber, wie sein Liebling wiederum richtig vorausgespürt, auf das Glück, Onkel und Nichte als Mittagsgäste in seinem Hause zu begrüßen.
Der General nahm ohne Umstände an. »Es ist ein leidiger Anlaß,« sagte er darauf, »der mich zum ersten und voraussichtlich zum letzten Male in meine Besitzung führt. Davon indessen später. Leider höre ich, daß mein Pächter seine Residenz verlegt hat. Besucht er Ihre Kirche regelmäßig?«
»Nur noch die seines eigenen Gutes, das mein Filial ist, Exzellenz.«
»Bon!« versetzte heiter die Exzellenz. »So möchte ich heute seinen Kirchenplatz einnehmen. Denn vor der Eröffnung, die ich ihm zu machen habe, und auf die ich mich bei aller Kläglichkeit des Anlasses freue wie ein Schneekönig, item vor dieser Eröffnung an seiner Seite Ihren Segen, Herr Pfarrer, zu empfangen, würde mich einigermaßen gotteslästerlich angemutet haben.«[147]
Die beiden Herren schlugen den Kirchpfad längs der Gartenmauer ein. Röschen flatterte wieder voran, Mama den zusagenden Bescheid zu hinterbringen. Dezimus ging mit dem weißen Fräulein hinterdrein. Beide schwiegen eine Weile still. Der Bauernjunge im blauen Leinenkittel wußte nichts, womit er das vornehme weiße Fräulein privatim hätte unterhalten können, und das vornehme weiße Fräulein mochte von dem Bauernjungen bereits zur Gnüge unterhalten worden sein. Endlich fragte sie aber doch:
»Du hast wohl noch niemals durch ein Fernglas gesehen?«
Er antwortete: »Nein«; weil er jedoch allemal beherzt wurde, wenn auf seine Wunder die Rede kam, setzte er hinzu: »Ich möchte aber alle Tage durch solche Gläser sehen können.«
»Hast du schwache Augen?«
»Nein, Falkenaugen, sagt die Mutter.«
»Wozu brauchst du dann ein Glas?«
»Weil ich in den Himmel blicken möchte.«
»An den Himmel meinst du wohl, Dezimus. In den Himmel blicken wir hienieden nicht. Wenn du größer wirst, mußt du einmal auf eine Sternwarte gehen.«
Dezimus fragte, was eine Sternwarte sei, und das weiße Fräulein belehrte ihn, soweit als ein zehnjähriges, frühreifes Kind über ein derartiges Institut, dessen forschende Insassen und deren Werkzeuge zu belehren vermag. Sie erzählte auch, daß sie mit ihrem älteren Bruder von dessen Hofmeister auf das Observatorium ihrer Vaterstadt geführt worden sei und daß sie durch ein mächtiges Fernrohr die Berge auf dem Monde deutlich gesehen habe und eine Menge Sterne, die sie mit bloßen Augen gar nicht wahrgenommen, deutlich wie die leuchtendsten am Himmel.[148]
»Ist Ihre Vaterstadt weit?« fragte Dezimus mit fliegendem Atem. Ihm schwindelte das Hirn.
»Sehr weit,« antwortete das weiße Fräulein. »Ich glaube aber, eine Sternwarte gehört zu jeder Universität, und ihr habt ja mehrere Universitätsstädte in der Nähe. Gestern haben wir in einer übernachtet, und heute wollen wir in einer anderen übernachten. Da kannst du ja leicht einmal hinkommen, Dezimus.«
Wieviele Menschen sind sich wohl bewußt, in welchem Momente die Sterne, welche ihr Leben regieren sollten, zum ersten Male an ihrem Horizont gedämmert haben? Dem Hirtensohne von Werben dämmerte der seine in den Minuten, wo das schöne weiße Fräulein ihm verkündete, daß die großen und kleinen Lichter am Himmel Welten seien, wie unsere Erde eine ist, und daß es kluge Männer gäbe, die ihre Bahnen zu berechnen wissen.
Unter der Kirchtür trafen sie mit den beiden Herren und Röschen zusammen; die älteren Schwestern waren schon vorausgegangen; Frau Hanna gestattete sich, an diesem Ausnahmsfeste Herrendienst vor Gottesdienst gehen zu lassen. Da der Prediger seinen Eingang durch die Sakristei zu nehmen hatte, wurde Dezimus mit der Ehre betraut, die Herrschaft in den Patronatsstuhl zu geleiten. Lydia erklärte indessen, daß sie des Oheims Rückkunft auf dem Gottesacker erwarten werde.
»Du kleine Betschwester willst die Sabbatfeier schwänzen?« fragte Herr von Hartenstein lachend.
»Der Vater würde es nicht erlauben,« versetzte Lydia sehr leise, aber bestimmt.
Der General stampfte mit dem Fuße. »Narretei und kein Ende!« rief er unwillig. »Allons, voran!«[149]
Pastor Blümel aber sprach nach einem langen Blick in das bleiche, ernste Kindergesicht: »Ihre Nichte handelt recht, Exzellenz!« Und seit diesem ersten Blick hat er nicht minder wie sein Dezem Lydia von Hartenstein wie eine Idealgestalt in seiner Seele gehegt.
So blieb das weiße Fräulein denn zurück, und das Pfarrröschen wurde ihr zur Gesellschaft vom Kirchenbesuche dispensiert. Sie klatschte vor Vergnügen in die Hände, während die andere sich still auf einen alten Pastorgrabstein neben der Kirchtür niederließ.
Dezimus dagegen schritt als Majordomus dem Gutsherrn voran zu dem Erbstuhl der Werben und nahm, auf des Herrn Befehl, auch an seiner Seite Platz, welche Auszeichnung halb eingeschlummerte böse Erinnerungen an das Hutmannshaus in der frommen Zuhörerschaft aufstörte. Denn so klug wie sein Röschen war Pastor Blümels Gemeinde auch: männiglich erkannte den General an Bart und Stern. »Die Exzellenz!« raunte man sich von Ohr zu Ohr. Solch denkwürdigen Gottesdienst hatte man in beiden Werben nicht erlebt, seit Anno 17 die Luthereiche gepflanzt worden war. Nicht das älteste Mütterchen nickte ein; alle Augen hingen an dem stattlichen Herrn, dessen mächtiger Baß Orgel und Chor übertönte. Dezimus hielt ihm gewissenhaft das Gesangbuch unter das Gesicht; weil der alte Herr aber vorzog, ohne Brille sich in der Kirche umzusehen statt mit der Brille in das Buch, sang er aus dem Kopfe, und wollte der Kirchenvogt, als er den Klingelbeutel herumtrug, erhorcht haben, daß der Herr der Melodie des Morgenliedes »Mein erst Gefühl sei Preis und Dank« den Text des Reiterliedes »Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!« untergeschoben habe. Der Kirchenvogt meinte indessen, einer Exzellenz, die statt eines[150] Pfennigs einen Taler in den Klingelbeutel stecke, einer solchen Exzellenz werde ein Text nach ihrem Gusto wohl zu gestatten sein.
Nun aber die Predigt. Sie klang vom ersten Gruß bis zum letzten Amen wie eine Ruhmeshymne nicht nur in den Ohren der friedfertigen Gemeinde, sondern auch in denen des tapferen Waffenbruders, zu dessen Ehren der sorgfältig ausgearbeitete Perikopentext für den nächsten Jahrgang beiseitegelegt und dem heroischen Priestergeschlecht der Makkabäer ein heroisches königlich preußisches Soldatengeschlecht an die Seite gestellt worden war. Niemals hatte Konstantin Blümel schwungvoller extemporiert, niemals waren ihm seine großen Erinnerungen so freudig aus der Seele geströmt. Er schilderte den Lebenslauf eines vaterländischen Helden vom ersten Erwachen noch unter des einzigen Friedrich wehender Siegesfahne, durch Drangsal und Erlösung bis zu den abschließenden drei Salven über dem frisch gefüllten Hügel. Dem närrischen Dezem fiel über der Rede das gestrige Abendlied ein, und Mutter Sonne wurde ihm zu einem hohen General. »Er kommt und leuchtet und strahlt uns von ferne und läuft den Weg gleich als ein Held.«
In der Gemeinde hatte die Predigt einen gewaltigen Eindruck gemacht und der »neue« Pastor samt seinem Preußentum binnen achtzehn Jahren den ersten festen Schritt in die Gemüter getan. Seit heute wußte man, was man an dem Manne und an dem Vaterlande, welches das unsere geworden war, besaß. »Sprit haben sie, diese Preußen,« sagte am Abend in der Schenke der Schulze Thränhard zu dem Hoferben des alten Walbe. »Und Kurage haben sie auch, das muß man ihnen lassen. Aber, aber, wenns mit den drei Salven nur nicht vorgespukt hat, Nachbar!«[151]
Auch der gefeierte Held sagte auf dem Heimwege zu dem Prediger: »Wolle der Himmel, Freund, daß die Grabrede, die ich einmal nicht hören werde, so rühmlich lautet wie die, mit welcher Sie mich heute a priori erbaut haben.« Und der alte Herr lachte bei den Worten, doch mit einer Träne in der Wimper; Pastor Blümel aber hätte die drei Salven lieber ungelöst gelassen.
Weit unbefriedigender war der Erfolg, welchen das Pfarrröschen mit seiner Gespielin erzielte. Sie hatte das kindesmögliche vorgeschlagen, das närrische Mädchen von dem alten Pastorstein fortzulocken: Blumen pflücken, Kränze winden, im Garten Beeren suchen, zu Mama in das Haus gehen, Kochens spielen und wer weiß was noch. Das närrische Mädchen hatte zu einem wie dem anderen schweigend den Kopf geschüttelt, während des Gesanges und der Liturgie unbeweglich mit gefaltenen Händen gesessen und, als sie drinnen die Predigt beginnen hörte, aus einem Täschchen, das ihr am Gürtel hing, ein kleines Neues Testament hervorgezogen, in welchem sie die Kapitel des Evangeliums und der Epistel des Tages andächtig las. Röschen war währenddessen in das Haus gelaufen und rasch zurückgekehrt, in einem Arme ihre Wickelpuppe, in der anderen ihre Tirolerin, die sie mit Stolz präsentierte. Da das närrische Mädchen aber nur abwehrend mit der Hand winkte, hatte Röschen ein Mäulchen gezogen, dann aber hellauf gelacht und, ohne sich weiter um ihren Gast zu kümmern, begonnen, sich auf eigene Hand zu unterhalten. Sie pflückte zwischen den Gräbern Wegebreitblätter und kleine Blüten, heftete sie mit Dornen zu zierlichen Puppenhütchen zusammen und legte sie auf einem Leichenstein wie in einem Putzladen aus, dem die Tirolerin als Ladenmamsell präsidierte. Röschen hätte bei ihrem Geschäft[152] gern ein Liedchen gesungen mit den Lerchen hoch oben im blauen Himmel um die Wette; aber das schickte sich dicht an der Kirchtür, während Papa predigte, am Ende doch wohl nicht; Röschen sang ihr Liedchen nur im Herzen.
So saßen die beiden Kinder, jedes nach seiner Art beschäftigt, auf den alten Pastorsteinen sich still gegenüber, bis die Leute aus der Kirche kamen und nun auch Dezimus sich zu ihnen gesellte.
»Du hast zu Hause wohl viel schönere Puppen als meine?« fragte Röschen, während sie selbander nach der Pfarre gingen.
»Ich habe gar keine Puppen,« antwortete Lydia; »aber die, mit welchen meine Schwestern spielen, sind nicht so schön gekleidet wie diese.«
»Mit was spielst du denn aber, wenn du keine Puppen magst?«
»Ich habe sonst mit meinem kleinen Bruder gespielt, und jetzt spiele ich mit meinem Schwesterchen.«
»Wie alt ist denn dein Schwesterchen?«
»Sechs Wochen.«
»Aber mit einem Wickelkinde kann man doch nichtspielen.«
»Doch! Besser wie du mit deiner toten Wickelpuppe.«
»Ich spiele mit meiner Wickelpuppe aber auch nur, wenn mein Mus nicht da ist. Sonst spiele ich immer mit meinem Mus.« Und dabei zupfte sie ihren Mus neckisch an den Haaren und flüsterte ihm in das Ohr: »Du, Mus, dies fremde Mädchen ist noch weit närrischer wie du mit deinen Sternen.«
In der Weinlaube vor dem Hause empfing Frau Hanna ihre Gäste. Da an diesem außerordentlichen Tage das Abhalten der Betstunde dem Adlatus Beyfuß übertragen, das Diner demnach zu einer späteren Stunde als der, in[153] welcher Exzellenzen ihr Frühstück zu nehmen pflegen, angesetzt worden war, hatte die kluge Hausfrau für einen Imbiß gesorgt, einen Ohnmachtsbissen, wie sie lachend sagte, weil Kirchenluft zu zehren pflege. Die Exzellenz lobte ihre Fürsorge und tat ihr Ehre an; alle anderen aber auch; sogar das weiße Fräulein, von welchem Dezimus es doch weit natürlicher gefunden haben würde, wenn es sich bloß von Mondenschein und Sonnenstrahlen genährt hätte.
Nach dem Ohnmachtsbissen verfügten die beiden Herren, um durchaus ungestört zu sein, sich in das geistliche Gemach; auf besonderen Wunsch der Exzellenz folgte ihnen die Hausfrau, nachdem sie ihre wirtlichen Obliegenheiten mit den exaktesten Vorschriften den beiden erwachsenen Töchtern, die noch im Hause waren, übertragen hatte; die Kinder tummelten sich im Garten.
Der General von Hartenstein gehörte von Natur nicht zu der Spezies, die aus ihrem Herzen eine Mördergrube macht. Heute aber war ihm erst unter dem Heldenlauf im Gotteshause und dann unter den fröhlichen Menschengesichtern in der Gartenlaube die Seele absonderlich flott geworden, und sprudelte er nun ohne Bedenken aus, was bis zur Stunde schwer auf ihr gelastet hatte.
»Habe ich«, so hob er an, »jemals eine Kreatur gehaßt, so ist es diesen Mehlborn. Denn einen Feind, den er bewundert, wie den Napoleon etwa, den haßt kein Soldat, so was mir hassen heißt. Er ringt mit ihm Mann wider Mann, und gibt Gott die Ehre, hat er ihn abgetan. Aber diese bäurische Kanaille – zertreten möchte ich sie wie ein widriges Reptil!«
Pastor Blümel schreckte mit einer Gebärde des Entsetzens zusammen. Sein Gast reichte ihm über den Tisch hinüber die Hand und sagte mit seinem Hartensteinschen kordialen[154] Lachen: »Beruhigen Sie sich, frommer Herr. Ich erfreue mich, Gott seis geklagt! nicht des nervus rerum, mit dessen Hülfe einem Mehlborn der Garaus gemacht wird; nur auf einen, – nun wie sage ich doch gleich? – nun, auf einen Schabernack ist es abgesehen, und dieses Gaudium denke ich mir heute nachmittag zu bereiten, indem ich zu dem Patron sage: ›Unser Kontrakt läuft mit diesem Jahre ab. Die Pachtung ist anderweitig vergeben. Mein Justitiarius wird Ihr Darlehn tilgen samt Zins und Afterzins. Salve, auf Nimmerwiedersehen!‹ Der Scherz ist mir zur Hälfte vereitelt, da ich den Schächer nicht mehr aus dem Tempel jagen kann. Den kleinen Racherest sollen Sie mir aber gönnen, Freund. Denn, Hand aufs Herz: wie würde Ihnen zumute sein, wenn Sie, ein alter, lendenlahmer Wicht wie ich, Ihren Sohn, Ihr einziges Kind, am Rande eines Abgrundes taumeln sahen, und der Nächststehende, der, welcher allein ihn retten konnte, zog seine Hand zurück und ließ ihn sinken?«
»Exzellenz – –«
»Still, Freund, still! Ich weiß, was Sie mir vorhalten dürfen. Die Stirnlocke hat sich mir weit über die ziemlichen Jahre hinaus gebleicht, und ich ziehe kein Jota von meiner Torheit ab. Auch meinen armen Jungen kann und will ich nicht rein waschen. Aber was wollen Sie? Er wuchs heran in einer tatenreichen Zeit und ward zum Mann in diesen faulen Schlendertagen. Seitdem wir Hartensteine von Ahnen wissen, rumort in unseren Adern Soldatenblut. Nehmen Sie meinen Bruder an, den Propst, zu welchen Windmühlenkämpfen die Hartensteinsche Ader ihn hetzt. Sie werden ihn einen Don Quixote nennen – –«
»Gott sei dafür, Exzellenz!« unterbrach ihn der Pastor mit Wärme. »Es ist als Diener im Amt mein bitterster Schmerz[155] gewesen, die Toleranz zur Tyrannei werden zu sehen, und es ist nur natürlich, daß die Treue den Trotz gebiert.«
»Nun, wie Sie wollen, Pastor,« entgegnete der General. »Um so eher werden Sie zugestehen, daß es ein Kunststück ist, wenn solch ein prickelndes junges Soldatenblut am häuslichen Herdfeuer ausdauert, ohne überzuschäumen oder einzusickern. Eine zärtliche Huldin wie meine Schwägerin Ottilie, so ein Weib in Gottes Namen, die hätte das Kunststück allenfalls fertiggebracht, aber diese bäurische Marzibille – –«
»Verzeihen Sie, Exzellenz,« fiel bei dieser Wendung Frau Hanna dem aufgebrachten Herrn in das Wort. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihr Urteil über die Mutter Ihrer Enkel zu berichtigen wage. Frau Brigitte von Hartenstein ist nicht nur eine charaktervolle, sie ist auch – trotzdem sie meine Schülerin war, fragen sie nur Konstantin – eine gediegen gebildete Frau.«
»Aber wer bestreitet denn das, Verehrteste?« erwiderte der General. »Gediegen wie eine Barre. Mit ein wenig unsoliderem Zusatz legiert, würde sie handlicher geworden sein. Sie lächeln, werte Frau? Ei nun, so zu lächeln hätten Sie Ihre Schülerin lehren sollen. Aber solch eine Gangart, wie auf hoch gespanntem Seil, Schritt für Schritt, die Balancierstange in der Hand und zwischen den Lippen einen scharf geschliffenen Stahl, – – still davon! Es ist überstanden. Was übersteht einer nicht? Mein armer Junge, – helf ihm Gott! Der Kaukasus ist eine Schule. Zum äußersten ein Tscherkessenblei! – Den Vater, der schon in der Rheinkampagne gefochten, triffts, ist der Himmel gnädig, nicht mehr mit. Still davon!«
Der alte Herr machte eine Pause. Es ging kein Atemzug durch das geistliche Gemach.[156]
»Was ich aber niemals überwinden kann und will,« so fuhr der General, nachdem er sich gefaßt hatte, fort, »was mich stacheln wird, solange meine Augen offen stehen, ist, daß ich auf mein Fleisch und Blut den geringfügigsten Einfluß, ja den natürlichsten Anteil an ihm verwirkt haben soll, daß ich, ohne es hindern zu können, erleben muß, wie der alte, tapfere, lebensfrohe Pulsschlag meines Geschlechtes entartet dort unter der Geißel eines Schwärmers, hier unter dem Dreschflegel in einer Bauernfaust.«
Pastor Blümel saß still in sich versunken; er durchlebte im Geiste die Peripetien eines Vaterherzens, das sich in derlei wunderlichen Sprüngen des Leides und der Laune offenbarte, und überließ auch diesmal seiner Hanna, das beschwichtigende Wort an seiner Statt auszusprechen.
»Wer, der selber Kinder hat, empfände diesen Stachel Ihnen nicht nach, Exzellenz,« sagte sie seufzend, setzte darauf aber mit ihrem wirksamen Lächeln hinzu: »Wenn indessen der Verdruß eines Widersachers ein Trost ist, so halten Sie sich an den, daß der mütterliche Großvater Ihrer Enkel den nämlichen Pfahl in seinem Fleische fühlt, da die Tochter auch ihm den geringfügigsten Einfluß auf ihre Kinder verwehrt und dieselben seinem Zürnen zum Trotz in gebildeten Lebenskreisen erzieht.«
»Wirklich! wirklich!« rief der alte Herr, indem er sich vergnügt die Hände rieb. »Ei nun, ähnlich sieht ihr diese kindliche Gemütlichkeit, und Sie haben recht: ein Trost bleibt es immer, wenn auch nur ein halber. Jetzt aber steht es fest: morgen dringe ich bei ihr ein, mag sie ein Gesicht schneiden, so sauer sie es fertig bringt. Ich will und muß mich überzeugen, was sie aus den Kindern macht, ich will und muß meine Enkel wiedersehen – vielleicht zum letzten Male sehen. Und nun zur Hauptsache: wie, glauben Sie,[157] wird Brigitte die Überraschung aufnehmen, daß ich Hochwerben verkauft habe?«
»Verkauft – und nicht an den Amtmann?«
»Würde es dann für Brigitte eine Überraschung sein? Nein, an meine Schwägerin.«
»Die Gemahlin des Propstes?«
»Leider nicht an sie. Auch diese liebe Seele ist eine Hartenstein geworden, das heißt, sie hat ihre Geldtasche nicht fest genug gehalten, um einen alten Familiensitz gegen einen Mehlborn zu behaupten. Just ihr indessen wird der Handel wie jetzt, so hoffentlich dereinst zugute kommen. Die Käuferin ist ihre Tante, Schwester ihrer Mutter und meiner seligen Frau; ein lediges Fräulein in meinen eigenen blühenden Jahren, die Letzte der Werben.«
Hätten in dem bescheidenen Pfarrhause schöngeistige Zeitblätter Eingang gefunden, so würde für dessen Insassen die neue Patronin keine Unbekannte gewesen sein. Denn da erschien wohl selten eine Korrespondenz aus »Elbflorenz«, ohne Thusneldas von Werben als einer Polyhymnia oder mindestens Mäzena zu gedenken. Ihr Geist, ihre Originalität, ihr Harfenspiel, die schönsten Frauenarme – noch im siebenzigsten Jahr! – wurden gerühmt und sogar besungen; aufrichtig besungen, denn Ironie zählte nicht stark zu der Ästhetik ihrer Zeit und Zone. Das gastliche Werbensche Haus in der Ostraallee, als dessen Spezialität es galt, daß neben ausgesuchten künstlerischen Genüssen diejenigen, welche Leib und Seele zusammenhalten, nicht verabsäumt wurden, war ein Zielpunkt der einheimischen wie durchziehenden Hautevolee; auch der des Geistes, und letztere revanchierte sich für obenerwähnte Genüsse durch obenerwähnte Huldigungen.
Aber Pastor Blümel und seine Hanna gehörten zu keiner[158] Art von Hautevolee, leider ja nicht einmal zu der des Kirchentums; sie waren in der neuen Provinz niemals über ihre beiden kleinen Nachbarstädte hinausgekommen, hatten niemals ein Exemplar der Abendzeitung oder Eleganten Welt in der Hand gehalten, und da weder die preußische Staatszeitung noch ein theologisches Fachblatt der Harfenkönigin Thusnelda von Werben jemals Erwähnung getan, gutsherrliche Traditionen aber seit einem Menschenalter in der Gemeinde erloschen waren, war nicht bloß die Bedeutung, sondern sogar die Existenz einer noch lebenden Werbenschen Schwester neben den beiden verblichenen dem Pfarrerpaar eine absolute Neuigkeit; um so lebhafter aber auch das Interesse an dem, was der bisherige Patron mit bravem Reiterhumor von der gegenwärtigen Patronin berichtete.
Eingängliches war es just nicht, und eine Besserung der Patronatszustände deutete es leider auch nicht an. Ein geistreiches Weltkind, das in der Jugend, wenngleich reich und schön, den Dienst der Musen dem der Laren vorgezogen, nach dem Verlust einer trefflichen Singstimme es im Harfenspiel zu ungewöhnlicher Virtuosität gebracht und den Mittelpunkt eines großen geselligen Kreises gebildet hatte, darauf beschränkte sich ungefähr, was der Schwager von der Schwägerin wußte oder mitzuteilen beliebte. Die Dame war überdies – keineswegs aus religiösem Drang, sondern lediglich weil das Vaterland ihren gesteigerten ästhetischen Bedürfnissen Gnügendes nicht mehr bot – in alten Tagen noch gen Rom gepilgert, mit der noch kürzlich ausgesprochenen Absicht, bei Lebzeiten nicht in die Heimat zurückzukehren, dahin gegen dereinst ihre Gebeine, statt unter der Pyramide des Cestius, in der Werbenschen Erbgruft eine Ruhestatt finden zu lassen. »Ein Indizium,« so meinte[159] der alte Herr, »daß auch in der verdrehtesten aller schöngeistigen und freigeistigen Schrauben eine patriarchalische Erbader nicht zu verwüsten ist.«
»Meiner Person«, so erklärte er weiterhin, »war die Harfenistin, wie man so sagt, spinnefeind. Nicht sowohl aus königlich sächsischem Patriotismus, denn die Musen und ihre Jünger sollen ja Kosmopoliten sein; vielmehr aus Verdruß, weil ihr Vater meiner Frau und nicht ihr, der ältesten Tochter, die Werbenschen Erbgüter hinterlassen hatte. Zugegeben, daß sie diese standhafter als meine gute Sidonie behauptet haben würde. Die Harfenistin hat ihre bare Abfindung zwischen ihren geschmeidigen Fingern nicht nur wacker zusammengehalten, sondern noch klüglich vermehrt; auch von anderer Seite ist ihr eine Erbschaft zugefallen, sie gilt für eine sehr reiche Person und hatte das Zeug dazu, es zu werden. Aber was wollen Sie? Zum Erben von Land und Leuten sucht ein Mann sich einen Mann, und wenn Künstlerinnen auch nicht altern, der Vater rechnete nicht nach dem Genie, sondern nach dem Kalender und dachte: immer noch besser ein preußischer, mit einem Sohne gesegneter Oberst, als eine sächsische alte Jungfer. Kurz und gut: Sidonie erhielt die Güter, und die Fäden zwischen der Harfenkönigin und der Soldatenfrau rissen seitdem kurz und klein. Ich tat daher schlechthin einen Schuß ins Blaue – auch, weiß Gott! nicht mit vergnüglichem Herzen! –, als ich ihr vor einiger Zeit den Vorschlag machte, das letzte Familiengut den Krallen dieses Mehlwurm zu entwinden, will sagen, es mir zu einem zivilen Preise abzukaufen, und seit dem Abschied von meinem armen Jungen hat mir zum ersten Male wieder ein Tropfen geschmeckt, als sie umgehend, kurz und bündig, meinen Vorschlag akzeptierte und eine Kaufsumme bewilligte, just hinreichend,[160] daß kein Schmuhl und kein Mehlborn sagen sollen, sie seien durch die Hartenstein Vater und Sohn um eines Deutes Wert zu kurz gekommen. Für die Enkel mag einer sorgen, dem Sorgen leichter wird als den Hartenstein. Eingebüßt haben sie durch den Handel nichts, – der alte Bauer wird das ausgezahlte Kapital nicht zum Fenster hinauswerfen; – leicht aber könnten sie nach anderer Seite einer Erbaussicht näher gerückt worden sein. Mein Sohn und Ottilie sind Thusneldens nächste Blutsverwandte, und wird sie den alten Stammsitz nicht, wie vielleicht ihr bewegliches Vermögen, in fremde Hände kommen lassen. Blieb also nur die Rücksicht auf Brigitte – –«
»Die,« fiel die Pastorin ein, »dafür bürge ich, Exzellenz, aus der Entäußerung weder Ihnen einen Vorwurf machen noch auf einen Vorteil für die Zukunft rechnen wird.«
»Nun, um so besser!« versetzte gutmütig der alte Herr. »Ich will kein Vatergefühl für diese Tochter heucheln, kann ihrerseits mich auch keiner Tochterzärtlichkeiten rühmen. Allein auf Rosen ist sie in meiner Familie nicht gebettet gewesen, und sie zu guter Letzt noch mit einem Dorne ritzen zu müssen, würde mir wahrlich den sonst so erwünschten Handel verleidet haben.«
Der alte Herr machte von neuem eine Pause; auch das Pfarrerpaar schwieg. Er wie sie legten nach ihrer Art sich die Veränderungen zurecht, die urplötzlich über eine liebe Heimat gekommen waren.
»Nach dieser Eröffnung«, hob Herr von Hartenstein wieder an, »bin ich noch mit einer zweiten im Rest, die Sie, Freund, als Ortspfarrer nicht sonderlich anmuten, Ihr gutes Herz aber, denkich, mit mir altem Schadenfroheinigermaßen aussöhnen wird, da dieses Anliegen weit mehr als der Mehlbornsche Kitzel es war, das mich bewogen hat,[161] in den sauren Apfel der Unterhandlung mit meiner feindlichen Schwägerin zu beißen. Es handelt sich um meinen Bruder, den Propst. Sie kennen ihn und wissen, wie er sich gegen die Auslegung dreier Buchstaben gebäumt, Amt und Brot dafür in die Schanze geschlagen und, wie billig, den kürzeren gezogen hat. Sie werden vielleicht auch gehört haben, in welcher Weise er es seitdem unter den Getreuen seiner alten Gemeinde getrieben, dem Anschein nach als Privatmann, in Wahrheit als geistliches Parteihaupt, kurz und bündig: als konservativer Revolutionär. Der Name Hartenstein hat ihn bisher geschützt; aber die Allerhöchste Langmut ist erschöpft. So oder so: er muß zur Ruhe gebracht werden. Sehr möglich, daß es dem Starrkopf gar nicht unerwünscht gewesen wäre, hinter Schloß und Riegel mit einer bescheidenen Märtyrerkrone verehrt zu werden und bei einem Umschlag im Regiment – wie er sich fest überzeugt hält – mit einer Siegerkrone um so strahlender zu leuchten. Zu seinem Glück oder Unglück ist er seinem Helden Luther aber auch in den heiligen Ehestand gefolgt, und hat die Familiensorge, zumal bei seiner Kränklichkeit, ihn mürbe gemacht. Was soll ich weiter sagen? Er ist ein Hartenstein; das heißt ein unbesonnener Haushalter und ein Stümper in allem, was die Welt Geschäfte nennt. Schon als er die reichste Pfründe der Provinz innehielt, kam er niemals aus. Seitdem er sie verscherzt hatte, seitdem es obendrein galt, abgesetzte Amtsbrüder, bedürftige Glaubensgenossen, Schüler und Konventikel zu unterstützen, Traktate auf eigene Kosten drucken zu lassen, lebte er von der Schnur. Allerwege offenes Haus und offene Hand, allerwege wie ein Prälat im guten Glauben apostolischer Einfachheit; dazu unkluge Anlagen und superkluge Anwälte, insolvente Schuldner und insolente Gläubiger, wer, der ein[162] Hartenstein ist, wüßte nicht ein Lied über diesen Text zu singen? Wenn uns die Schuppen von den Augen fallen, ist es regelmäßig zu spät. Enfin: Not bricht Eisen; er geht ins Exil, will sagen: nach Werben!«
»Nach Werben?« rief das Pfarrerpaar aus einem Mund.
»Nach Werben! In das Bereich der alten Heidin Thusnelda, die er mit Augen zwar niemals gesehen, mit Worten jedoch um so öfter in den Bann getan hat. Sauer genug mag es ihm ankommen. Aber der Blöße mußte ein Anstandsmäntelchen umgehangen werden. Er ist trotz allem und allem ein Hartenstein und die Heidin trotz allem und allem eine Blutsverwandte. Wo würde er einen schicklicheren Ruheplatz gefunden haben? Das Schloß wird restauriert; nicht, wie mir die alte Kunstseele schreibt, weil sie selbst es jemals zu bewohnen gedächte, sondern weil sie sogar in Rom keine Freundin von Ruinen geworden sei, am wenigsten von modernen. Da aber bewohnte Räume sich besser als unbewohnte erhalten, könne es ihr nur erwünscht sein, wenn dieser posthume Kirchenvater sich in den ihren einen Familientempel errichten wolle. Nun, ich sollte denken, Freund, daß man weniger demütigend keine Nothilfe leisten könne.«
»Aber, Exzellenz,« entgegnete Pastor Blümel, »eine Gemeinde, eine Landschaft, in welcher der eiferartige Herr weit und breit keinen Gesinnungsgenossen treffen wird – –«
»Sind eben darum die geeigneten für den eiferartigen Herrn,« versetzte der General. »Die Isolierhaft auf einem Familiengute, das binnen kurzem voraussichtlich sein Erbe sein wird – denn die Mehlbornsche Kreuzung in meinem Nachwuchs wird, fürchte ich, der Letzten der Werben nicht sonderlich anziehend sein –, in lachender, wohlhäbiger Umgegend kann sich ein Märtyrer schon gefallen lassen.[163] Dieser Blick in das Tal – – ich hätte hier wohl meine Tage beschließen mögen. Vorbei, vorbei! Ich sterbe, wie ich gelebt, als ein Hartenstein, als Soldat!«
Der alte Herr sprang auf und machte einen Gang durch das Zimmer. »Uff!« rief er, »solch ein Vortrag strapaziert ärger als ein Gefecht. Ein Glas Wasser, bitte, liebe, freundliche Frau!«
»Eine Flasche Wein, Hanna!« verbesserte ihr Konstantin.
Frau Hanna holte und kredenzte den Labetrunk. Der alte Herr küßte ihr dankbar die Hand und fuhr, nachdem er sich zu einer abschließenden Anstrengung gestärkt hatte, also fort:
»Sie werden die Beweggründe einsehen, aus welchen ein kaum Gekannter mit dem Vertrauen eines alten Freundes diese Intimitäten vor Ihnen enthüllt hat! werden den Mann, der Ihr nächster Nachbar, wenn auch nimmer Ihr Beichtsohn werden wird, aus seiner Lage heraus beurteilen, und wenn seine Familie in ihrer völligen Fremde Rat und Hülfe von Ihnen erbittet, werden Sie raten und helfen. In diesem guten Glauben wende ich mich zunächst an Sie, Frau Pfarrerin. Ich denke morgen in X. einen Bauverständigen für die Restauration des Schlosses anzuwerben. Raum und Komfort für eine Familie der höheren Stände, nicht mehr, nicht weniger fordert meine Mandatarin. Da ich selbst indessen zu häuslichen Anordnungen tauge wie jener Wohlbekannte zum Lautenschlagen, habe ich mir als Adjutanten mein Nichtchen mitgebracht.«
»Das Kind, Exzellenz?«
»Ja, lächeln Sie immerhin, werte Frau: die Lydia ist nur den Jahren nach ein Kind. Um ehrlich zu sein, ich, für meine Person, wüßte mit solchem Dämchen Heiligkeit nicht etwas Rechtes anzufangen. So wie Ihre Kleine wünschte[164] ich mir meine Enkelin. Haben Sie sie kürzlich gesehen, Frau Pfarrerin?«
Frau Hanna verneinte, und Herr von Hartenstein meinte, halb mißgestimmt und halb galant, er fürchte, seine Sidi sei zu sehr ihrer Mutter Kind, um mit Frau Hanna Blümels Sprößlingen Ähnlichkeit zu haben.
»Abgesehen davon,« setzte er mit einem Anflug von Bitternis hinzu, indem er die rechte Schulter in bedeutungsvoller Weise in die Höhe zog. »Still davon! Ich weiß nicht, ob viele Kinder aus der Wiege fallen, aber das weiß ich, ein Kind Ottiliens würde nicht aus der Wiege gefallen sein. Die arme Kleine! Still, still! Wir sprachen ja von Lydia. Wollen Sie glauben, daß das Mädchen bei seinen zehn Jahren die Seele des Hauses ist? Dem lässigen älteren Bruder eine anspornende Lerngenossin, den jüngeren Schwestern eine Art von Gouvernante und dem Vater schon nahezu eine Freundin.«
»Aber der Mutter, Exzellenz?« rief Frau Hanna schier beängstet. »Ums Himmels willen, was ist sie der Mutter, und – verzeihen Sie –, aber was ist die Mutter?«
»Die Mutter,« antwortete der alte Herr herzlich lachend, »ei nun, die Mutter ist eben das Mütterchen in der Kinderstube, und die Tochter wird ihr, denke ich, eine dienstwillige Pflegerin sein, so eine Art barmherzigen Schwesterleins, wenn sie, wie zur Stunde, wieder einmal eine ihrer Heldentaten – Sie verstehen mich, Frau Pfarrerin – glorreich vollbracht hat. Die Ottilie gehört zu der schwerlich stark vertretenen Spezies Ihres Geschlechts, die nur die Augen aufzuschlagen wagt, wenn sie eine Wiege an ihrer Bettseite stehen sieht. Jenseit der Kinderstube hört ihr Anspruch an die Welt, wie der an sich selber auf. Nun, Sie werden ja bald genug diese absonderlichen Kostgänger an unseres[165] Herrgotts Speisetische kennen und zutreffender als ich alter Haudegen beurteilen lernen. Was ich zunächst noch auf dem Herzen habe, Frau Pfarrerin, ist die Bitte, meine Kleine nach dem Schlosse zu begleiten und ihr eine zweckmäßige häusliche Einrichtung an die Hand zu geben. Lydia weiß und erklärt, was die Familie nach ihrer bisherigen Gewöhnung bedarf; Sie sehen zu, wie sich diesem Bedürfen in den vorhandenen Räumen ungefähr gnügen läßt. Ich übermittele Ihre Vorschläge an den Bauverständigen und verweise ihn auf Ihre fernerweitigen Anordnungen. Schlagen Sie ein, liebe, freundliche Frau?«
Die liebe, freundliche Frau schlug in die dargereichte Hand, und der alte Herr atmete auf wie erlöst von schwerer Last. Bald danach stellte, von ihm entboten, Justizrat Hecht, der Patrimonialrichter beider Werben, sich ein, mit welchem der General sich zu einer privaten Unterredung zurückzog. Als der Rat, der muntere Gesellschaft und Tafelfreuden liebte, dringende Geschäfte an Gerichtstagen daher immer zu verschieben gewußt hatte, heute, am Sonntag, »dringender Geschäfte halber« die Tischeinladung der Pfarrfreunde ablehnte und nach der Stadt zurückkehrte, um erst am Nachmittage auf dem Talgute mit seinem bisherigen Patron wieder zusammenzutreffen, sagte die kluge Frau Hanna:
»So wahr ich lebe, Konstantin, der alte Fuchs hat bei dem Gutskauf die Hand im Spiel gehabt. Um es aber mit dem Amtmann nicht zu verderben, stellt er sich als Überrumpelten. Die Exzellenz ist ausgeschröpft, vivat der Bauer! Wo wäre der Advokat, dem selber ein Mehlborn das Kraut nicht ein bißchen fetter schmalzen müßte!«
Im Lichte gestanden hatte der schlaue Rat sich indessen stark, denn an der Pfarrtafel ging es nicht nur munter,[166] sondern auch hoch heute her. Wäre statt der Waffeln in der Eile ein Staatskuchen herzustellen gewesen, es hätte Hochzeit oder Kindtaufe gefeiert werden können. Sämtliche Schüsseln waren erzdelikat, und der Bowle, welche die ersten Pfirsich des Pfarrgartens würzten, sprach nicht nur der weinkundige preußische General wacker zu, sondern auch das weiße Fräulein nippte wie ein Bienchen von dem süßen Trank. Dem Dezem kam überhaupt das weiße Fräulein gar nicht mehr so überirdisch vor, seit es auf dem Bleichplatze, anfänglich ein wenig ungelenk, dann aber so gewandt wie die Pfarrschwestern groß und klein, Kämmerchenvermieten und Reifchenwerfen mitgespielt und später bei Tische die lachende, schwatzende Gesellschaft zwar erst mit großen Augen angestaunt, dann aber ganz herzhaft mitgelacht und mitgeschwatzt hatte.
»Wie meine Lydia auftaut!« rief der alte Herr, und Pastor Blümel nannte die rosige Färbung ihrer Wangen einen Anemonenhauch. Er verwendete kaum die Blicke von dem fremden, eigenartigen Kinde.
Als der verehrte Held und Gast das letzte Glas mit einem Hoch auf »Kleinröschen«, das er sich zur Tischnachbarschaft erbeten, geleert hatte, sprang er auf und rief:
»So, nun bin ich in der Stimmung!«
»Eine Tasse Kaffee, Exzellenz?«
»Danke verbindlichst. Kaffee schlägt nieder. Jetzt rasch hinüber zum herzallerliebsten Herrn Bruder!«
Das Talgut lag nur ein paar Büchsenschüsse unterhalb Hochwerbens, weil aber jenseit des Flusses, konnte es zu Wagen nur in weitem Bogen über die städtische Brücke erreicht werden. Fußgänger benutzten den Fährkahn, der dicht unter dem Pfarrweinberge jederzeit bereitstand und den daher auch Herr von Hartenstein dem städtischen[167] Umwegevorzog. Die Begleitung seines Wirtes lehnte er jedoch mit den Worten ab: »Das fromme Freundesgesicht würde mir die Bataillenlaune dämpfen. Der Königspate soll mich hinüber führen.«
Der Königspate ist sich in keinem seiner Stufenjahre einer Bataillenlaune bewußt geworden. Im Beginn seines zweiten schlug er schüchtern einen Haken, sooft er den widerborstigen Amtmann von weitem kommen sah, und heute hätte er hundertmal lieber als den tapferen General vor den Feind das weiße Fräulein auf das Schloß geleitet, um, wie seine Pastormutter ihm geheißen, bei der Vermessung Dienst zu leisten. Aber was halfs? Seufzend legte er Zollstock und Bindfaden, Papier und Bleistift beiseite und schritt dem alten Herrn voran, indem er ihm auf den steilen Bergstufen seine stämmigen Schultern als Stütze dienen ließ.
Im Hofe angelangt, setzte er sich dann ruhig wartend auf eine Bank vor der Haustür, während der fehdelustige General sonder Präliminarien den Gegner wie Zieten aus dem Busche überfiel. Sein rechtskundiger Beistand traf erst eine gute Weile nach der festgesetzten Stunde ein, außer Atem zwar, aber leider zu spät, um der Katastrophe Zeuge und Meister zu werden.
Ein Gewitter hatte am Morgen vor der Sonne gestanden, seinen Ausbruch für die Nacht oder den nächsten Tag ankündigend; die Gerstenernte war noch nicht eingefahren, daher, trotz des Sonntags, Gesinde und Zugvieh draußen auf dem Felde und im Hofe Seelenstille. Der rüstige Amtmann gönnte sich, nachdem er zehn Stunden auf den Beinen gewesen, eine späte Mittagsruhe. Schwerlich daß ihn ein Bombenschlag erweckt hätte; aber nur eine Milchkuh[168] brummte dann und wann im Stall, und der Kettenhund bellte kurz auf, wenn die Augustfliegen ihm gar zu schamlos die Nase kitzelten.
Dezimus konnte hinter Bauten und Bäumen den Tiefgang der Sonne nicht beobachten; er wußte daher nicht, wie lange er auf der Bank gewartet hatte; vielleicht ist es keine Viertelstunde gewesen, wenn es aber auch Stunden gewesen wären, die Zeit würde ihm nicht lang geworden sein. Die Tafelgenüsse und die Hundstagshitze hatten ihn halb betäubt. Er drückte seine Augen zu; es war ihm wie mitten in der Nacht. Er stand auf einer hohen Warte an des weißen Fräuleins Seite und schaute die Berge im Mond und Millionen von Sternen hellglänzend wie das liebe Siebenschwesternbild. Die Himmelslichter verschwammen in eins mit den Menschen, welche er im Herzen trug, und ganz von selbst fand auch das weiße Fräulein den gebührenden Platz in der Höh. »Lydia« nannte er den schönen stilleuchtenden Stern, den er in dieser Sommerzeit jeden Abend zuerst der Sonne folgen sah, ohne zu ahnen, daß es der nämliche treue Begleiter sei, den er im Winter morgens als seinen Röschenstern ihr hatte vorangehen sehen.
Jach fuhr er wie aus einem Traume empor. Die Haustür war hastig aufgerissen worden und der General auf die Rampe getreten, Hut und Stock in der Hand und das Gesicht noch eine Schattierung höher gerötet, als da er vorhin sagte: »So, nun bin ich in der Stimmung!«
Ihm auf dem Fuße folgte der Amtmann. Wirklich der Amtmann? Der arme Dezem erschrak wie vor einem Gespenst. Erdenfahl das braune Gesicht, die Knie schlotternd unter den schäbigen Lederhosen, die geballten Fäuste in die Höhe gereckt. Er rang nach Atem zu einem Wort und[169] brachte es nicht über die Lippen, die ein weißer Schaum bedeckte.
»Komm, mein Junge!« rief der General, indem er flink wie ein Jüngling die Rampe hinabsprang und sich den Schweiß von der Stirn trocknete.
Des Stillwütigen Augen fielen bei diesem Rufe auf den Paten, der starr an seiner Seite stand, – ach! und seine Augen nicht allein!
Was schießen doch für Funken durch ein Menschenhirn, wenn die Leidenschaft ihren Siedepunkt erreicht! Lichtblitze und Irrwische! Heldenopfer fallen, oder Sündenböcke, der nämliche Zünder hat einen wie den anderen zu Boden gestreckt.
Friedfertiges Hirtenlamm, armer Sündenbock!
Die Fäuste stürzen nieder auf dein sternenträumendes Haupt; deine roten Backen schwellen, und die blauen Augen laufen über wie Wasserbäche, – um dein junges Leben, ach, da ist es geschehen! –
Nein, Dezimus, nein: der Todesstreich, auf den du gefaßt bist, er wird von dir abgewehrt, und tapfer gerächt, wie es einem Königspaten gebührt, wirst du auch. Aber das Leben ist dir nicht mehr eine Lust und die Rache kein Schmerzensgeld. Vor Scham und Tränen gewahrst du es nicht einmal, wie glorreich deine Unschuld triumphiert. Ja, solch ein Stock, solch ein alter preußischer Heldenstock, wie Vater Blücher ihn wahrlich nicht für die Langeweile an seinem Sattelknopfe getragen hat! rechts und links fuchtelt er deinem Missetäter um die Ohren, Hieb um Hieb bläut er ihm den Rücken, bis er zusammenbrechend am Boden ächzt. Zu guter Letzt noch einen Fußtritt, und: »Komm, mein Junge!« ruft der alte Herr zum zweiten Male und lacht dabei, daß ihm wie dir, armer Schelm, die[170] Tränen über die Backen laufen. Mit solchem Bravourstück den Mehlstaub von seinen Sohlen schütteln zu dürfen, hätte der Tapfere vor zehn Minuten noch nicht sich träumen lassen.
Sobald er den Rücken gewendet hat, streckt der weiseste aller Räte sein Haupt zwischen dem Rahmen der Haustür hervor. Auch dieser Ehrenmann lacht, aber nur in den Bart. »O weh! Herr Amtmann,« schreit er, »Sie sind die Treppe heruntergestolpert. Ja, diese verflixten Holzpantoffeln!« Und er hilft seinem Gerichtsherrn auf die Beine, während die Exzellenz lachend durch das Hoftor schreitet und der Königspate bitterlich weinend hinter ihm drein schleicht.
Sehr möglich, daß es im deutschen Vaterlande jener Zeit noch keinen Hutmannssohn gegeben, mindestens keinen zehnten, der wie gegenwärtiger in seinem zweiten Stufenjahre noch nie einen Hieb empfangen hatte und, wie hinzugesetzt werden darf, auch nicht herausgefordert. Selber Kantor Beyfuß, der handfeste Bakelmeister, senkte vor dem Quatermillionenschüler sänftiglich sein Instrument. »Leibesstrafen schänden«, war eine von Konstantin Blümels pädagogischen Maximen, und seinem Pastorvater keine Schande zu machen das oberste Gebot, das auf der Tafel dieses Kinderherzens von unsichtbarer Hand geschrieben stand. Und nun war er geschändet, und die Schmach brannte ihn wie eine glühende Kohle. Die Mutter würde ihn freilich liebhaben wie bisher und der Vater ihm vorhalten, daß auch sein Heiland einen Backenstreich erduldet habe: so weit tröstete ihn sein schuldloses Gewissen während des mählichen Dorfweges, welchen er die Exzellenz anstatt der steilen Weinbergsstufen zurückführte. Wie aber würde sein Röschen ihn auslachen und necken![171] und wie sollte er dem weißen Fräulein, das er vor wenig Minuten als schönsten Stern an den Himmel versetzt hatte, mit der verräterisch flammenden Backe und den verschwollenen Lidern unter die Augen treten? Er sprach auf dem Wege nicht ein Wort, und da er kein Feigenblatt, sein Brandmal zu verhüllen, entdecken konnte, gelangte er zu dem Ausweg, sich heimlich um den Pfarrgarten herumzuschleichen und hinter dem Hünengrabe zu verstecken, bis das weiße Fräulein auf Nimmerwiedersehen über alle Berge sei.
Aber die junge Gesellschaft, welche sein Kommen von der Laube aus wahrgenommen hatte, vertrat ihm den Weg, umringte ihn und zog ihn in ihr munteres Spiel. Die rote Backenschwulst mochte wohl auf den Sonnenbrand geschoben werden, wenn sie nicht gar samt der Tränenspur auf dem Wege verschwunden war, denn weder Röschen noch das weiße Fräulein merkte das Brandmal ihm an. Auch weder Vater noch Mutter schien um die Schändung zu wissen, heute nicht und späterhin auch nicht; den schlimmen Paten sah er in Jahren nicht wieder; und so wurde die schmähliche Erfahrung zwar noch lange Zeit im Gemüte gehegt, dem Skelette gleich, das einem fremden Sprichworte gemäß auch das reinlichste Menschenhaus in einem Winkel bergen soll; allmählich aber zerrann das Skelett in Nebelduft zu einem Schemen. In dem Alter aber, wo schon mancher Mann die verdiente Birkenrute gesegnet hat, da schätzte das glückliche Johanniskind den unverdienten Denkzettel seines Vizepaten als einen Treffer in der Lebenslotterie.
Daß der rächende Held nicht ängstlich wie die gekränkte Unschuld mit den Ritterstreichen, die auf Amtmann Mehlborns Edelhofe gefallen waren, hinter dem[172] Berge hielt, wird von keinem Menschenkenner bezweifelt werden.
»Mir galt die Faust,« rief der alte Herr, nachdem er den Pfarrfreunden den vergnüglichen Abschluß eines verdrießlichen Handels mit satten Farben geschildert hatte. »Ich sage Ihnen, der alte Knabe glich einem wütigen Trakehner Bullen. Mit den Hörnern hätte er den herzallerliebsten Herrn Bruder aufspießen, in Grund und Boden hätte er ihn stampfen mögen. Da dieser Scherz aber nicht so ohne weiteres ausführbar war, kühlte er sein Mütchen an dem ersten Besten, der ihm im Wege stand; wie ich selber im Ärger schon manchmal einen Spiegel oder dergleichen zerschlagen habe, wenn mein Bursche für einen Jagdhieb nicht gleich bei der Hand war.«
»Sie irren, Exzellenz,« entgegnete Frau Hanna in geteilter Stimmung von Zorn, Belustigung, Mitleid und Schadenfreude, »nicht Sie, uns, Konstantin und mich meinte das Ungetüm, als er unseren Pflegesohn mißhandelte. Pudelnaß von dem Sturzbad, das die Spekulation seines ganzen Lebens verschwemmte, durchschießt ihn beim Anblick des armen Jungen der Argwohn eines von langer Hand zwischen Ihnen und uns abgekarteten Spiels, und wird er nunmehr seine wohlverdiente Züchtigung meinem braven Dezem lebenslang entgelten lassen.«
»So wollen wir uns denn beiderseitig unserem Prügelknaben verpflichtet fühlen,« versetzte heiter die Exzellenz, »und uns zu einer Schadloshaltung zusammentun. Schon dem Herrn Paten zur Ranküne müssen wir ihn jetzt höher avancieren lassen als zu dem Verwalterposten, um den mein spanisches Rohr ihn gebracht hat. Und es steckt etwas in diesem Hirtenjungen. Ich rühme mich nicht, ein Psycholog zu sein, aber es steckt ein Element in ihm, das sich entwickeln[173] läßt. Was für eins, ist mir freilich dunkel. Soldatenblut ist es leider nicht. Mein Hilmar in dem Alter würde die Hand, die sich an ihm vergriff, gebissen haben, wie eine wilde Katze würde er dem Stier in das Genick gesprungen sein, ihm die Augen ausgekratzt haben, und Hilmars Sohn täte es, trotz des Bauernblutes in seinen Adern, wills Gott! auch. Ihr Dezem stand still wie ein Ölgötze. Wie wärs, wenn wir ihn Theologie studieren ließen? Was meinen Sie, Herr Pfarrer, zu einem Substituten in alten Tagen, wenn der Mensch sich nach Ruhe sehnt, nehmen wir einmal an in zwanzig Jahren?«
Mutter Hannas Augen leuchteten auf, da plötzlich ihr heimlichster, kühnster Herzenswunsch als etwas leicht Erfüllbares vorgebracht, ja gleichsam als etwas Gebührendes gefordert wurde. Um so bedenklicher überrascht schaute ihr Konstantin drein. Er saß eine lange Weile schweigend und schüttelte den Kopf.
»Der Knabe hat bisher, eine unwesentliche Rechenfertigkeit ausgenommen, weder eine entscheidende Gabe noch ein entscheidendes Verlangen nach wissenschaftlicher Ausbildung offenbart,« wendete er endlich ein; worauf der General erwiderte:
»Zum Henker auch! Gehört denn zu einem Landpastor so etwas ganz Besonderes? Nichts für ungut, Freund; aber wie viele dumme Jungen haben einer Gemeinde schon die Köpfe weidlich heiß gemacht! Und ein dummer Junge ist Ihr Dezem keineswegs. Er hat seinen gesunden Bauernkrips. Wissen Sie, wie unser geistlicher Minister Seiner Majestät einmal den Einfluß der katholischen Landpfarrer auf ihre Gemeinden erklärt hat? ›Nicht weil sie ledige Männer, sondern weil sie der Mehrzahl nach Bauernsöhne sind, wirken sie mehr als die unseren,‹ sagte er.«[174]
Pastor Blümel pflichtete der Erklärung bei. Der städtische Bürgerstand, aus welchem das Amt der Evangelischen sich vorzugsweise rekrutiere, weiche, und wäre es selbst der niedere, in Sitte und Anschauung von denen des platten Landes vielfach ab. »Die universellere Bildung, die wir vor unseren katholischen Amtsbrüdern vielleicht voraus haben,« setzte er mit einem Seufzer hinzu, »bewirkt leider allzu häufig mehr eine Kluft als eine Brücke.«
»Nun da hätten wir ja just, was wir brauchen,« rief der General. »Was Sie mit Ihrer importierten Bildung vermutlich nicht fertig bringen, der heimische Hirtenjunge wird es. Und nun malen Sie sich einmal recht lebhaft den Heidenspaß aus, wenn das ärmste, niedrigste Werbener Kind, Ihr mißhandelter Dezem, diesem Protzen von Mehlborn – denn erleben kann er es noch, Geizhälse werden immer steinalt – in feierlichem Ornate, hoch von der Kanzel herab, vor versammelter Gemeinde die Leviten so recht aus dem Grundtexte liest! Einen Versuch zum wenigsten wäre die gute Sache doch wert.«
»Und wenn der Versuch mißglückte, Exzellenz? Wenn wir des Knaben Blick in eine geistige Sphäre gerichtet hätten, und ihm fehlte die Kraft, in derselben festen Fuß zu fassen? Man soll eines Kindes Wiege nicht verrücken, hat Ihr Herr Bruder, der Propst, gesagt.«
»Meinst du denn, Konstantin,« fiel seine Gattin ihm in das Wort, mit eindringlicherem Ernst, als er sie jemals hatte reden hören, »meinst du denn, daß du dieses Kindes Wiege nicht schon verrückt hast in der Stunde, wo du es in die deines eigenen Kindes legtest? Meinst du, weil du den Knaben einen Bauernkittel tragen und eitel Brot zum Frühstück essen läßt, daß er unter den Knechten und Mägden eines Bauernhofes die Sitte und die Liebe deines Hauses[175] jemals verschmerzen würde? Du hast zu viel getan, Mann, oder nicht genug.«
Ein tiefer Seufzer entrang sich statt der Gegenrede Konstantin Blümels Brust. »Und wenn dem so wäre, Hanna,« sagte er nach einer Pause, »so gehören zu allem geistlichen Werden zeitliche Mittel. Ich danke Ihrer Güte, Exzellenz, diese auskömmliche Pfründe. Aber ich bin ein Fünfziger, habe eine zahlreiche eigene Familie und kein Vermögen. Darum – –«
»Darum muß und wird es meine Sorge sein, Freund,« fiel Herr von Hartenstein ein, »die Stellvertretung bei einem Königspaten, die von Gottes und Rechts wegen mir, als Gutsherrn, von Haus aus zugekommen wäre, fortan zu übernehmen. Habe ich nicht das Geschick gehabt, ein ritterschaftliches Patronat in meiner Soldatenfaust festzuhalten, so viel, um einen armen Hirtenbuben zu einem Kandidaten der Gottesgelahrtheit auszubilden, wird einem preußischen General allemal übrigbleiben. – Komm einmal herauf, mein Junge!« rief er, das Fenster öffnend, unter welchem die Kinder sich im Garten tummelten, und als Dezimus eintrat, fragte er: »Was möchtest du einmal werden, Bursche?«
»Nur nicht Inspektor bei meinem Amtmannspaten!« stieß Dezimus hervor mit zitternder Stimme und einer Blutwoge bis unter das strohgelbe Haar.
»Gut. Was aber sonst?«
»Was mein Vater will.«
»Möchtest du was Tüchtiges lernen, und wenn du groß wirst, studieren?«
»Ja, ja, studieren!« rief Dezimus wie elektrisiert. »Auf den Himmel studieren, gnädiger Herr.«
»Auf den Himmel? Bravo! Du bist unser Mann. Nun[176] lauf, Student, bestelle mir in der Schenke den Wagen und sage meiner Nichte, daß sie sich bereithält.«
Sobald der Knabe das Zimmer verlassen hatte, sagte Pastor Blümel, der während des kurzen Zwiegesprächs mit gefalteten Händen am Fenster gestanden hatte: »Der Mensch irrt nur allzu häufig, wenn er handelt, auch wenn er am besten zu handeln meint. Daher will ich Ihrer Anregung, Exzellenz, als einer Mahnstimme von oben folgen und meinen Pflegesohn der Probe einer wissenschaftlichen Ausbildung unterziehen, so wie ich meinen leiblichen Sohn derselben unterzogen haben würde. Ich bin viele Jahre Informator gewesen und traue mir die Fertigkeit noch zu, einen Knaben für die höheren Schulklassen vorzubereiten. Solange ich lebe, bleibt indes die Sorge für das Kind, dessen Wiege ich verrückt habe, und bleibt seine Führung mein, mein allein, Exzellenz. Schließe ich die Augen, bevor es sein Ziel erreicht – –«
»Sorgt und führt es Gott,« rief die Mutter, indem sie sich mit überströmenden Augen an ihres Gatten Brust warf.
Auch der preußische Herr drückte bewegt seine Hand. »Mann,« sagte er, »Sie sind in Wahrheit unseres Heilands Jünger! Wollte Gott, daß wir uns nicht zum letzten Male gesehen hätten!«
Rasch verließ er das Zimmer und das Haus, vor welchem der Wagen eben vorfuhr.
An der Tür wartete Lydia reisefertig. Sie hatte vorhin bei Dezems eiligem Entbot ihr Gürteltäschchen abgenestelt und es Röschen gereicht, die es den ganzen Tag lüstern bewundert hatte und nun über den Besitz laut aufjubelte. Für den armen Hirtendezem hatte sie ein Geldstück aus ihrer Börse gelangt. Als der arme Hirtendezem aber jetzt atemlos, mit strahlenden Augen aus der Schenke zurückkam und[177] rief: »Ich soll studieren, Röschen! Ich soll auf den Himmel studieren, Fräulein Lydia!« – da steckte sie den Taler leise wieder ein, und ein Hauch der Scham überflog ihre blütenweißen Wangen.
»Ich schicke dir aus der Universitätsstadt eine Himmelskarte, Dezimus,« sagte sie zum Abschied, neigte sich darauf tief vor dem Prediger und seiner Gattin und küßte beider Hände, wie sie Vater und Mutter die Hände zu küssen gewohnt war; dann stieg sie zu dem Oheim in den Wagen.
»Tu deine Schuldigkeit, Königspate!« rief der alte Herr von oben herab, warf Röschen noch eine Kußhand zu, und das Gefährt bog um die Friedhofsmauer.
Dezimus ahnete nicht, was eine Himmelskarte sei, nicht einmal, was eine Erdenkarte, aber er schlief am Abend statt unter den Schauern erlittener Demütigung unter denen einer großen Erwartung ein.
Am anderen Morgen ging er, wie alle Tage, in Kantor Beyfußens Dorfschule; zuvor aber hatte sein Pastorvater die erste lateinische Lektion mit ihm abgehalten, und in der Vesperstunde hielt er eine zweite und also fortan einen Tag wie alle, außer am Sonntag, dem Tage des Herrn. Er lernte stetig, wie der alte Informator es nannte, und weil er dem alten Informator zur Ehre zu lernen hatte, lernte er auch freudig, wennschon er andere Gegenstände, die er nur dunkel ahnete, lieber gelernt hätte als Wortbeugungen und Vokabeln einer fremden Sprache. Konstantin Blümel aber schmeckte seit jener ersten Lektion den Johannissegen, welchen seine Hanna schon von dem Augenblicke an empfunden, wo sie das mutterlose Kind an ihre Brust genommen hatte. War er bis dahin Dezems christlicher Wohltäter gewesen, so machten die alten Heiden ihn zu Dezems Vater.
Im Laufe der Woche traf aus der Universitätsstadt nebst[178] einem großen Himmelsatlas ein fix und fertiger Schüleranzug ein, und der Hirtensohn wurde zum Kandidaten der Zukunft eingekleidet. Jeden Abend fortan aber, sobald er das Pensum, das ihn für ein unsichtbares Himmelreich vorbereiten sollte, zustande gebracht hatte, studierte er auf das sichtbare Himmelreich, das auf den Karten abgebildet stand, und zwar studierte er in Gesellschaft Schwester Erikas – häuslich Riekchens – und unter Anleitung eines wahlverwandten Liebhabers.
Dieser Liebhaber war der Überbringer des Doppelgeschenkes, ein junger Architekt, welcher neben dem Umbau eines alten städtischen Klosters in ein neues Gymnasium die Instandsetzung des Werbener Schlosses übernommen hatte. Konferenzen mit der Hausfrau führten ihn häufig unter deren gastliches Dach, und wen dürfte es wundernehmen, daß er über Schwester Riekchens freundlichen Augensternen die Erklärung der himmlischen Sternenaugen, der er sich gefällig unterzogen hatte, oft und immer öfter vergaß und über dem fremden Hausbau zum eigenen Hausbau Lust bekam. Der Taufsegen erneuerte sich. Bevor das Schloß wohnlich hergestellt war, gab es in der Pfarre wieder einmal eine Braut, Held Dezem, dem Glückskinde, aber war es beschieden, früher als die Grenzen von Reuß älterer und jüngerer Linie die der Milchstraße und der Venusbahn unterscheiden zu lernen.
Alle Welt studierte den Winter hindurch in der Werbener Pfarre; sogar die alte gräfliche Gouvernante wurde von dem Fieber angesteckt, kramte ihren Meidinger hervor und gab Kleinröschen jeden Abend eine französische Stunde. Weil Kleinröschen aber absolut nichts lernen wollte, was Bruder Dezem nicht mitlernte, wurde der Dezem auch Mutter Hannas Schüler, und die Mutter nannte – es ist[179] bewundernswert, was solch ein achtjähriger Held alles fertig bringt! –, aber wahrlich, die Mutter nannte die Fortschritte ihres Dezem im Vergleich zu denen des Quirlequitsch hundert Prozent! »Die lateinische Grammatik arbeitet der französischen vor, Hanna,« entschuldigte Pastor Blümel seinen Liebling, indem er ihm die schwarzen Löckchen streichelte. Es war ein gesegneter Winter.
Daß der Amtmann unwiderruflich zum Feind geworden sei, bezweifelte man zwar nicht, da man ihn jedoch niemals zu Gesicht bekam, so spürte man es auch nicht. Nur daß er seitdem auch in seiner Kirche fehlte, machte dem alten Seelsorger ernstliches Herzeleid. Beim nächsten Gerichtstag erzählte der Justizrat, wie sauer es seinem Herrn Patron ankomme, den ritterlichen Exbruder nicht wegen grober Mißhandlung verklagen zu können. »Aber wo sind die Zeugen?« fragte lachend der Judex. »Der achtjährige Dezem zählt für Null, und ich, – ich habe nichts gesehen, als daß der Herr Amtmann auf der Nase lagen und etwelche Schwielen hatten, die vom Fall auf das kröpelige Hofpflaster gekommen sein können. Im übrigen, was hätte eine Buße der alten Exzellenz geschadet? Auf ein paar hundert Taler kommt es keinem Hartenstein an. Und was hätte sie dem alten Mehlborn genutzt, da ja nicht er, sondern Majestät Fiskus die paar hundert Taler in die Tasche gesteckt haben würde.«
So mußte der arme Amtmann denn auch diesen Grimm hinunterwürgen, und daß er noch im nämlichen Herbst das nachbarliche Bielitz an sich brachte, das war wohl eine gelungene Spekulation, aber ein Trost für die mißlungene war es nicht. Der Auenboden von Bielitz trug kräftiger als der Höhenboden von Werben, aber war es Heimatsboden? Es fiel ihm denn auch gar nicht ein, auf das bedeutendere[180] Gut zu übersiedeln. Nur zu der dortigen Kirche hielt er sich, wenngleich er jeden Sonntag die verdrießliche Bemerkung machte, daß es sich über seiner Gruft doch weit andächtiger als über der der bankerotten Grafen habe beten lassen.
Eine Genugtuung sollte er in diesen bösen Tagen indessen doch erleben; denn die Erdenluft wurde für ihn rein von dem Atem der beiden Menschen, die er auf der Welt am bittersten gehaßt, ja, der beiden einzigen, gegen welche er den Haß, wie vormals die Verehrung, sich nicht bloß in den Kopf gesetzt hatte. Der alte General starb eines raschen Todes, wenige Wochen, nachdem er seinem Bruder eine geziemende Heimstätte vorbereitet und von seinen Enkeln einen friedlichen Abschied genommen hatte; wenige Wochen, nachdem er sich a priori an dem ruhmvollen Nachrufe eines ehemaligen Waffenbruders erbaut. Die drei Salven hatten also doch vorgespukt!
Für die neuen Freunde in dem Werbener Pfarrhause war dieses plötzliche Ende die einzige Trübung des so heiter zur Rüste gehenden Jahres; bald genug aber dankten sie für dieses Ende als für eine Gnade von Gott; denn es ersparte dem greisen Vater die Kunde, daß – wie er weheleidig es als Sühne auch für die eigene Torheit vorausgeschaut – ein Tscherkessenblei seinen armen Jungen getroffen habe. Brigitte Mehlborn war somit, wie dem Herzen und dem Gesetze nach schon längst, auch der reinen Vernunft nach die Witwe Hilmars von Hartenstein. Daß sie als solche dem Vater Mehlborn wieder näher gerückt sei, kann in dieser Chronik von Werben leider nicht verzeichnet werden. Hat die Erbitterung sich nur einmal in einem harten Kopfe festgesetzt, erlischt sie nicht mit ihrem Gegenstand; sie überträgt sich. Und auf wen hätte der[181] Patriarch Mehlborn die seine wohl natürlicher übertragen sollen als auf die unnatürliche Tochter, die sich steifte, die Witwe Hilmars von Hartenstein zu heißen und als solche zu leben?
Gegen den Frühling hin war das Schloß in wohnlichen Zustand gebracht, und auf mächtigen Wagen langte der Hausrat der künftigen Bewohner an, dessen Ordnung Frau Hanna Blümel leitete. Etliche Tage später folgte die Familie nebst einem Hauslehrer und zahlreicher Dienerschaft. Die Gärten standen noch kahl, aber an Gewinden von Tannenreis und Efeublättern hatten Röschens kunstfertige Hände es nirgends fehlen lassen. Sie lauschte mit ihrem Dezem hinter einer Hofmauer verborgen, während der Vater die Ankömmlinge auf der Schloßrampe empfing und mit einer Anrede begrüßte, so warm, wie er eine zuständige Gutsherrschaft begrüßt haben würde.
Alle trugen, zufolge der beiden Familiensterbefälle, denen sich noch der des jüngstgeborenen Töchterchens gesellt hatte, tiefe Trauerkleider. Alle schienen durch Abschluß und Eintritt tief bewegt. Am tiefsten der Propst. Er war tödlich bleich und in den neun Jahren, daß Pastor Blümel ihn nicht gesehen hatte, zum Greise ergraut. Lydia wendete ihre großen, ernsten Augen kaum von seinem Gesicht. Die Mutter schwamm in Tränen. Die Kinder – außer Lydia zwei Söhne und zwei Töchter – ließen die Köpfe hängen. Herr von Hartenstein reichte dem Pastor stumm die Hand und schritt, eine Foliobibel im Arm, in das Haus voran; seine Gattin, Kinder und Dienerschaft folgten in geordnetem Zuge. Die Blümelsche Familie wendete sich heimwärts. Bevor sie den Hof verlassen hatte, ertönte von oben herab der Chorgesang: »Ein feste Burg ist unser Gott«, begleitet von einer kleinen Orgel, welche Kantor[182] Beyfuß in dem Werbenschen Ahnensaale, dem einzigen unverändert gebliebenen Raume im Schloß, aufgestellt hatte. Die Spielerin war Lydia.
Zu einem traulichen Verkehr zwischen den beiden geistlichen Familien, wie ihn die Blümelsche wohl gewünscht, aber kaum erwartet hatte, kam es nicht. Herr und Frau von Hartenstein machten nach Verlauf einer Woche im Pfarrhause einen Besuch, der in geziemender Frist von dem Pastor und seiner Gattin erwidert und von beiden Seiten ein und das andere Mal im Jahre wiederholt wurde. Damit hatte es sein Bewenden. Nach jedem dieser Besuche aber belebte sich im Pfarrkreise das Interesse an diesen edlen Menschen, die in einer dem eigenen Leben so fremden Beschränkung ihr Gnügen fanden, und war es zumal Frau Ottilie, welche in ihrer mädchenhaften zarten Schöne ein herzrührendes Bild hinterließ. Bei mehr als dreißig Jahren war der Ausdruck ihrer Züge und Augen kindlich heiterer als der ihrer zwölfjährigen Tochter; und welche ein Kontrast mit dem ernsten, greisenhaften Gatten!
»Behüte Gott dieses Weib,« sagte Frau Hanna, »daß es nicht eines Tages eine schwere Mutterlast auf seinen Schultern zu tragen habe!«
Lydia war regelmäßig Zeugin jener förmlichen Besuche und unverändert das stille weiße Fräulein wie bei der ersten Begegnung auf dem Hünengrabe. Keine Spur jemals wieder von dem Anemonenhauch beim fröhlichen Exzellenzenmahl. Wie ihre Mutter für die Pfarrfrau, so ward für deren Gatten die Tochter je mehr und mehr zu einem Gegenstande sinnend sorglichen Anteils. Er pflanzte sie in seinen Kindergarten und nannte sie seine Lilie.
»Behüte Gott diese Blume mit dem reinen Trieb zur Höh vor Lohe und Wurm, daß sie nicht schon im Morgenlicht[183] den Kelch des Herzens zusammenziehe!« sagte Konstantin Blümel.
Die Hartensteinsche Familie besuchte die Dorfkirche niemals. Der Vater hielt häusliche Erbauungen und gab den Kindern auch selbst den Unterricht in der Religion. In weltlichen Fächern lehrte sie, als Lebensgenosse, ein von der Regierung suspendierter Dozent der heimischen Provinz, Magister Klein. Da die Standesgenossen weit und breit nicht zugleich Gesinnungsgenossen waren, wurde auch nach außenhin kein Umgang gepflegt. Es gab in der Gegend zwar einige Adelsfamilien von innerlich religiöser Richtung, Stille im Lande, wie sie seit Herrmann Frankes Zeiten genannt wurden; ohne Ausnahme jedoch hatten sie sich dem Unionsedikt unterworfen, und das war eine Kluft, über welche für den Doktor von Hartenstein keine Brücke führte.
So beschränkte sich denn der gelegentliche Verkehr auf etliche Treugebliebene aus dem Gelehrtenstande der benachbarten Universität, die ein dem Hartensteinschen verwandtes, einflußloses Separatistenleben führten. Der dem Propst am nächsten Stehende, aus dessen Händen er für seine Person auch das Abendmahl nach der alten Spendeformel empfing, war der in neuerer Zeit häufig genannte Professor Hildebrand. Während seiner Lehrtätigkeit ohne wesentlichen akademischen Einfluß, hatte bei seiner Suspension die Studentenschaft einmütig durch einen solennen Fackelzug gegen den Gewaltakt demonstriert und den unbeugsamen, still gelehrten Herrn für einen Tag oder zwei zu einem Glaubenshelden erhoben. Seitdem gehörte auch er zu der kleinen Schar der Auserwählten, welche von einem gewissen Wendepunkte erwartete, daß die Dornenkrone sich in eine Siegerkrone verwandeln werde.[184]
So verband sich einem innersten Gesetz eine Art von äußerer Notwendigkeit, um das häuslich klösterliche Wesen, in welches die Familie wie die Perle in der Muschel sich abschloß, vollständig zu machen; vielleicht auch die Absicht, es augenfällig zu machen. Es kennzeichnete das Exil. Die Lebensweise war eine reichliche, aber streng geregelt; die Dienerschaft bejahrt und sinnesverwandt; die Einrichtung etwas kahl und ohne individuelles Gepräge, aber von übereinstimmender Gediegenheit. Das Silberzeug wie das dunkelgebräunte Zimmergerät bekundeten neben Sammlerfleiß und Kunstverstand den früheren kostspieligen Aufwand. Man würde sich in eine Abtei des fünfzehnten Jahrhunderts oder in eine Ritterburg versetzt geglaubt haben, wenn der lichte, glatte, nüchternbehagliche Schloßbau nicht gar zu widerspruchsvoll an eine neuere Zeit erinnert hätte.
Von der Gemeinde wurden die Schloßbewohner nur vom Tale aus bemerkt, sobald sie sich auf den Terrassen bewegten. Selbst Ein- und Ausgang nahmen sie nicht durch den Wirtschaftshof, sondern unterhalb durch den Garten. Diese Ein- und Ausgänge beschränkten sich indessen auf einen fast täglichen Samariterweg die arme Frönerschlucht hinan und allezeit auf den Vater und die älteste Tochter. Was aber auf diesen Wegen erbaulich und hülfreich gespendet und allmählich auch gebessert worden ist, das schätzte und dankte Pastor Blümel als einen persönlich empfangenen Segen. Wie freudig würde er Hand in Hand mit diesem Paar die Schäden in seiner Gemeinde ausgeheilt haben!
Schon vor den Schloßbewohnern war der neue Pächter eingezogen, mit welchem sich indessen, da er nicht eine mildherzige Rosine, sondern eine handfeste Großmagd zu seiner[185] Eheliebsten erkoren hatte, keine Pfarrfreundschaft hegen ließ. Den Wirtschaftsbetrieb änderte er insofern, als er die Hofprodukte in die entferntere nördliche Nachbarstadt absetzte, weil er mit dem Besitzer des Talgutes und des reichen Bielitz, welcher die seinen nach wie vor in die nahe Kreisstadt tragen ließ, nicht Konkurrenz zu halten vermochte. In der Morgenfrühe jedes Mittwoch und Sonnabend fuhr daher ein schwer beladener Pächterkarren nach X., und mehr als einmal saß in Ferienzeiten Dezimus, nicht im neuen Schülerrock, aber im alten Leinenkittel hinter dem Knecht auf einem Butterkübel, um für seinen Vater in der alten Dombibliothek ein seltenes Bücherexemplar zu entlehnen oder bei dem Schloßgärtner ein seltenes Blumenexemplar zu erhandeln, bei Wege auch wohl für die Mutter diese oder jene wirtschaftliche Besorgung abzumachen.
An einem des Predigtstudiums halber lektionsfreien Sonnabend während der Ernteferien des nächsten Jahres machte er wieder einmal diese Marktfahrt mit. Ein werter Amts- und Blumenbruder Vater Blümels hatte von einem ausländischen lieblich duftenden Gewächs berichtet, das der Schloßgärtner heuer in besonderer Üppigkeit zum Blühen gebracht habe. Vater Blümel schmachtete nach dem Duft der unbekannten Gardenia, und sein Dezem freute sich, ihm zu dem Genuß verhelfen zu dürfen.
Doch war es ein Fleischergang; die Spezies bereits ausverkauft. Der Abgesandte wurde an den Gärtner Reichart in der Universitätsstadt, der noch Vorrat habe, verwiesen. In der Universitätsstadt! Den Knaben durchzuckte ein Blitz: das Ziel seiner Sehnsucht seit Jahr und Tag! So oft hatte er die Hälfte des Weges zu diesem Ziele zurückgelegt, ohne daß ihm der Einfall gekommen wäre, auch die[186] zweite Hälfte zurückzulegen. Heute kam ihm der Einfall. »Ich hole meinem Vater die Gardenia auf der Universität!« rief er entschlossen. Würde er sie ihm geholt haben, würde er zwei Meilen in das Blaue hinein gerannt sein, wenn »auf der Universität« nicht die Warte mit den in den Himmel dringenden Rohren gestanden hätte? Weiß schon ein Kind, was ein Vorwand – nun ja! aber auch, was ein Selbstbetrug ist? Gleichviel: ob die Mutter der Weisheit oder Kindesliebe, ein Genius war es, welcher Held Dezem in sein erstes Abenteuer hetzte.
Zunächst in die vorstädtische Ausspännerei, wo dem Knecht die erklärende Bestellung in das Pfarrhaus übertragen wurde; dann spornstreichs voran auf der schnurgeraden, pappelgesäumten Chaussee. Den Weg verfehlen konnte er nicht, und weitere Skrupel sparte er sich. »Erst hole ich die Gardenia, dann gucke ich fix einmal durch das große Rohr und laufe in der Nacht nach Hause zurück.« So sein Programm. Daß das Gucken durch das große Rohr mehr Schwierigkeit machen könne als etwa das Wasserschöpfen an einem Born, daran dachte er nicht. Nach den Sternen gucken kann jeder, so gut wie Wasser schöpfen. Daß er hungrig und müde werden könne, daran dachte er noch viel weniger; so satt war er von Erwartung und so rege von Lust.
Und noch satt und rege erreichte er am Nachmittag das städtische Tor. Er hatte sich eine Universität anders vorgestellt. Nichts als ganz gewöhnliche Häuser, längs ganz gewöhnlicher Gassen in einer ganz gewöhnlichen Stadt, wie er schon ihrer zwei hatte kennen lernen. Die Gassen liefen geradeaus, nach dieser, nach jener Seite, liefen kreuz und quer. Wohin sollte er sich nun wenden? Er fragte eine Heringshökerin – nach der Sternwarte? – o[187] nein! welcher Jüngling wird den Namen seiner ersten Geliebten vor einer Heringshökerin entweihn? Er fragte nach dem Gärtner Reichart.
»Da mußt du erst geradeaus gehen, dann links, dann wieder rechts, und wenn du ans Wasser kommst, mußt du weiter fragen,« belehrte recht anschaulich die Hökerfrau. Und Dezimus lief geradeaus und links und wieder rechts, fragte auch diesen und jenen und schaute sich zwischendurch nach allen Seiten um, ob nicht irgendwo die hohe Warte in den Himmel rage. Aber bis zum Gärtner Reichart sollte es immer noch weit sein, und ein paar Türme sah er wohl über die kleineren Häuser sich erheben, aber einen Bau, so majestätisch, so ganz absonderlich, auf dessen Dache statt der Feueressen goldglänzende Rohre gen Himmel gerichtet waren, solch ein ragendes Wunderwerk erblickte er nirgends.
Endlich gelangte er an den Fluß, und weil nicht alsobald ein Mensch zum Weiterfragen bei der Hand war, schritt er eine Weile auf einem schmalen Pfade zwischen dem schilfbewachsenen Ufer und umzäunten Gärten voran. Über einer von diesen Gartentüren konnte ja leicht das Schild des Gärtners Reichart angebracht sein.
Bei der Wendung um eine vorspringende Gartenmauer stand er jählings wie in den Boden gewurzelt. Sein Atem stockte, die Augen starrten in die Höhe. Auf steilem Felsen, zwischen Bäumen und wirrem Strauchgeschlinge ragte ein Turm, ragten Mauern und Pfeiler, wie er noch keine gesehen. So grau und anscheinend wandelbar hatte er sich allerdings eine Sternwarte nicht gedacht; von blitzenden Rohren keine Spur. Aber wer konnte wissen, was alles noch hinter den Bäumen verborgen stak? Es war auf dem höchsten Punkte der Gegend der am höchsten ragende Bau; eine gewöhnliche Menschenwohnung konnte es nicht sein,[188] auch kein Schloß und keine Kirche, welche beide einem Werbener Eingeborenen ja sattsam bekannt waren. Was also sonst als die Universität mit ihrer Warte? Dem Knaben war, als stände er vor eines alten Königs Thron. Dort oben, dort oben, da lag sein gelobtes Land!
Er hätte hinandringen mögen, hineindringen gleich jetzt. Er mußte bei Tage ja aber erst die Gardenia holen. Nur den Pfad, der auf die Höhe führte, wollte er erspähen, um ihn später in der Dunkelheit ohne Aufenthalt einschlagen zu können. Vorwärts fiel der Felsen steil nach dem Flusse ab; zur Seite hinderte die Gartenmauer den Überblick. Ob er wohl hinanklimmen durfte, um auf ihrer Höhe eine Umschau zu halten, ohne vielleicht wie ein Dieb von ihr heruntergejagt zu werden? Aber halt! dort, nahe dem Ufer, steht ja wie zur Rundschau aufgepflanzt eine alte Buche, breit geästet mit mächtiger Krone. Das Erklettern ein Spiel für den Dezem, der schon manches Jahr das Obst im Pfarrgarten abgenommen hat. Hinan also, hinan bis zum Wipfel! Im Nu ist er oben, und oben, oben, da, – neue Verzückung! da starrt er statt auf die Warte in ein Menschenantlitz, so schön, so wunderschön, wie er noch kein Menschenantlitz gesehen, schöner selbst als das des weißen Fräuleins, denn es blüht wie eine Rose. Ein Knabe, nein, ein junger Herr, wenn auch nicht größer als Dezimus selbst, goldgelockt und geputzt gleich einem Prinzen, sitzt zwischen den Ästen behaglich wie in einer Laube, raucht eine Zigarre und lacht dem Dezem in das verblüffte Gesicht.
»Du, was suchst du hier oben, Junge?« rief der junge Herr. »Vogelnester? Das will ich dir anstreichen!« Er wippte mit einer Reitgerte, die er in der Hand hielt; Sporen an den Stiefeln trug er auch und in das eine Auge ein Brillenglas geklemmt.[189]
»Ich wollte bloß sehen, wie man auf die Sternwarte kommt,« antwortete Dezimus schüchtern, indem er auf den Turm deutete.
Der junge Herr wollte vor Lachen sich ausschütten. »Das alte Gerümpel hältst du für die Sternwarte? Das ist ja die Burgruine, Dummrian!«
Dezimus blickte beschämt zu Boden. »Wo liegt denn die Sternwarte?« fragte er aber doch.
»Die liegt näher der Stadt zu. Von hier aus kann man sie nicht sehen. Was hast denn aber du auf der Sternwarte zu suchen, Bursche?«
»Ich will durch ein Fernrohr die Sterne sehen, die auf meinen Himmelskarten gezeichnet stehen.«
»Du, ein Bauernjunge, eine Himmelskarte? Nein, das ist aber toll? Wo kommst du denn her, Bursche?«
»Von Hochwerben.«
»Von unserem Gut! Na, das nenne ich gelungen! Kennst du die Lydia Hartenstein?«
»Ja.«
»Und den alten Mehlborn?«
Dezimus wurde rot, zögerte einen Augenblick, und dann sagte er leise: »Ja.«
»Ein richtiger Bauernfilz, nicht wahr?«
Keine Antwort.
»Wie heißt du denn, Junge?«
»Dezimus Frey.«
»Dezimus Frey, der Hutmannszehent, der ein Schwarzrock werden soll! Famose Geschichte, ganz famos! Wie sie die Sidi amüsieren wird! Warum hast du denn aber den verschossenen Kittel an? Wir haben dir doch voriges Jahr einen Rock geschickt, so gut wie meinen eigenen. Na, wie dieser da freilich nicht: das ist mein Reitanzug. –[190] Aber still, still!« flüsterte er plötzlich. »Da unten kommen sie!«
Dezimus lugte durch die Zweige nach denen, die unten kommen sollten; und da bemerkte er denn, um die Gartenmauer biegend, einen langen, von Kopf zu Fuß in Schwarz gekleideten Herrn, der an jedem Arm eine Dame führte. Die eine hager und auffallend runzelig, daher wohl hochbetagt, aber in blühende Farben angetan, sogar das kaum handgroße Gesichtchen rosenrot und die zierlich beschuhten Füßchen vogelleicht schwebend; die andere Dame jung, wohlbeleibt, daher der Gang etwas schleppend, das Gesicht bläßlich, der Anzug schlicht und dunkel. Ein kleines Mädchen schlenderte hinterdrein, einen Busch von blühendem Schilf im Arm.
Sobald die vorderen aus dem Gesicht waren, streckte der junge Herr den Kopf durch das Laub und ließ einen Ruf gleich dem des Wachtelschlags erschallen:
»Pittperitt, pittperitt!«
Das kleine Mädchen kehrte um und blickte in die Höh. »Du, Mäxchen!« rief es lachend; worauf der junge Herr mit gedämpfter Stimme fragte:
»Ist die Luft rein? Vermissen sie dich nicht, wenn du hier ein paar Minuten zurückbleibst?«
»Sie schwatzen von untergegangenen Städten; ich pflücke Schilf. Fiele ich in das Wasser wie dazumal aus dem Bett, wer merkte es?« versetzte die Kleine mit munterem Klang, aber einem wenig kindlichen Spott im Blick.
»So warte! Ich habe einen gottvollen Scherz für dich!« sagte der junge Herr, indem er sich behende durch die Zweige wand und von dem letzten mit einem kecken Satz zu Boden sprang.
Dezimus folgte gelassener. Da er die Frage nach dem[191] Gärtner Reichart noch auf dem Herzen hatte, stellte er sich bescheiden beiseite und wartete, bis die beiden miteinander fertig waren. Dabei musterte er das kleine Mädchen, das ihm, wie auch der junge Herr, bekannt vorkam, als hätte er einmal von ihm geträumt. Es hatte ein hübsches Gesicht und ein Paar mächtige Augen, die noch viel heller blitzten als seines Röschens Augen; die erdbeerroten Lippen lachten so häufig wie seiner Pfarrschwestern Lippen; aber nur wenn sie den jungen Herrn anlachten, hätte Dezimus an seiner Pastormutter Lachen denken können. An das weiße Fräulein konnte er bei dem kleinen Mädchen gar nicht denken. Sein Körperchen dauerte ihn, weil es einen so gar großen Kopf mit einem dicken schwarzen Haarwald zu tragen hatte, und daß die eine Schulter ein Ende über die andere hinausragte, nun, das nahm sich freilich neckisch aus, schadete aber nichts; das kleine Mädchen gefiel ihm doch. Der junge Herr aber gefiel ihm so, daß er kein Auge von ihm verwenden mochte und sogar die großen Rohre über ihn vergaß. Die Art, wie er mit dem kleinen Mädchen umging, rührte des Dezem Herz. Er nannte sie nicht ritterlich; aber sie war ritterlich und dabei zärtlich.
»Da bin ich, Schwesterchen!« rief er, indem er die verschobenen Schultern umfaßte. »Aber sieh mich doch einmal an. Mein neuer Rock hat doch kein Loch weggekriegt? Ist mein Haar in Ordnung, Sidi?«
Dabei bückte er sich, und das kleine Mädchen hob sich auf die Zehenspitzen, stäubte ihm den Rücken ab, strich die üppigen Locken glatt, bei welcher Beschäftigung Dezimus sich wunderte, was für lange Arme und Finger doch das kleine Mädchen habe. Der junge Herr zog ein Spiegelchen aus seiner Tasche, betrachtete sich, sagte: »Bon!« und dann erzählte er:[192]
»Ich sitze drüben bei Vogels und bestelle mir eine halbe Sekt. Da sehe ich sie kommen. Sie glauben mich in der Klasse. Wenn bei Vogels Konzert ist! Duckmäuser! was ich bei euch lernen kann, habe ich mir lange an den Schuhen abgelaufen. Item: sie kommen! Der gnädigen Tante muß ein Extravergnügen bereitet werden. Die wird Augen gemacht haben, vom römischen Korso in Vogels Garten! Enfin, sie kommen, sie sind schon da, und daß ich nach einer Vorlesung über Moralphilosophie nicht lüstern bin, kannst du dir denken. Publica nämlich; denn privatissime halte ich sie allenfalls noch aus bis – nun, du weißt ja schon, bis wann. Ich entschlüpfe also durch die Seitentür und, weil vom Garten aus der Weg nach allen Seiten zu übersehen ist, einstweilen auf den Baum. Daß die Harfenmuhme die Musik da drüben nicht lange aushalten würde, konnte ich mir ja denken.«
»Köstlich, köstlich!« rief das kleine Mädchen in die Hände klatschend.
Während der junge Herr nunmehr seinen Zusammenstoß mit dem Werbener Hirtenjungen lustig vortrug, fiel es diesem endlich – o des Schlaukopfs, endlich! – wie Schuppen von den Augen, daß es die Kinder Frau Brigittens von Hartenstein seien, welchen sein gutes Glück ihn so verwunderlich entgegengeführt. Er hatte sie nach dem Tode der Amtmannsfrau vor fünf Jahren ja gesehen, und wieviel war im Pfarrhause von ihnen die Rede gewesen! Sie freilich hatten den Bauerjungen im blauen Kittel damals nicht beachtet, und es war hübsch von der kleinen Sidi, daß sie ihm heute wie einem alten Bekannten die Hand reichte und sagte: »Auf die Sternwarte möchtest du? Aber wie willst du denn da hineinkommen, armer Schelm? Du denkst es dir wohl so leicht wie in eure Werbener Kirche?«[193]
Der arme Schelm mochte den Kopf wohl recht erbarmungswürdig hängen lassen, denn das kleine Fräulein sann offenbar darüber nach, wie ihm zu helfen sei, und endlich rief sie, in den Augen helle Lust, wie sie sich für ihre Jahre schickte, um die gekräuselten Lippen aber ebenso hellen Hohn, wie er sich für ihre Jahre gar nicht schickte: »Ich habs, ich habs! Das trifft sich gut. Heute abend ist zu Ehren der Großtante aus Rom bei uns Tee. Ästhetischer Tee. Schadet nichts, Hirtendezem, wenn du das nicht verstehst. Der Professor, der die Sternwarte unter sich hat, kommt auch, und der soll dich mitnehmen. Verlaß dich auf mich, ich wills schon machen. Aber nun muß ich ihnen nach. Am Ende vermissen sie mich doch und stellen sich ein mit Stangen und Haken, mich aus dem Wasser zu fischen. Komm nur gleich mit, Dezimus.«
Dezimus berichtete von dem Blumenstock, den er erst noch holen müßte, worauf der Junker von Hartenstein versetzte:
»Das hast du nah, Junge. Reicharts Gretchen ist eine scharmante kleine Katze, darum weißich, wo ihr Vater wohnt. Siehst du dort drüben. Lauf rasch, hole deine Blume, komm dann hier unter den Baum zurück und warte auf mich. Ich kann doch, bei Gott! meinen Sekt nicht im Stiche lassen, und eine frische Havanna muß ich mir auch anstecken. Du, Sidchen, gehst voran und eröffnest die Präliminarien. Das heißt, du erzählst, daß du zufällig dem Pfarrdezem aus Werben begegnet bist und die Geschichte von der Sternwarte und der Gardenia. Gelogen ist dabei ja kein Wort; denn lügen, kleine Unschuld, ich weiß es ja, lügen tust du nicht.«
»Nicht gern, Mäxchen. Aber dir zu Gefallen tu ichs doch. Von dir ist nicht die Rede. Du sitzest in der Klasse.[194] Laß mich nur machen. Meine Geschichte ist schon fertig und äußerst interessant.«
Damit ging sie. Sie schleifte den linken Fuß ein wenig, bewegte sich aber dennoch geschickt und sogar graziös. Ihr Bruder sagte:
»Höre, Junge, daß du kein Wort von unserer Baumpartie verrätst!«
»Wenn sie mich nun aber fragen?« wendete Dezimus kleinlaut ein.
»Wer soll dich denn fragen, Dummhut? Aber nun mach fort!«
Dezimus machte fort und erlangte glücklich eine Gardenia. Sie sollte eigentlich zwei Groschen mehr kosten, als ihm der Vater dafür mitgegeben; da er aber verlegen sein leeres Lederbeutelchen zeigte, ließ Herr Reichart mit sich handeln. Hätte der Käufer eine volle seidene Börse gezeigt und statt des Kittels seinen Kandidatenrock getragen, würde Herr Reichart schwerlich mit sich haben handeln lassen. Einer von den Fällen, wo ein Hirtenjunge weiter als ein Junker reicht. »Ein Prachtexemplar« hatte Herr Reichart die Gardenia genannt. Dezimus fand einen roten Feldmohn, der von einem Erntewagen gefallen war, weit prächtiger und den Duft der Lindenblüten im Pfarrgarten weit erquicklicher als den der fremden Gardenia. Zu einem Blumisten wie sein Pastorvater hatte Held Dezem leider nicht entfernt das Zeug.
Unter der Buche mußte er eine Weile warten, bis der Junker kam. Derselbe mochte seine halbe Sekt allzu hastig hinuntergestürzt haben, und das, was er seine Havanna nannte, ihm auch zur Überlast nach dem Kopfe gestiegen sein, denn seine Augen und Backen glühten, und er schwatzte beiwege in das Blaue hinein allerlei krauses Zeug, von[195] welchem Dezem, der Dummhut, gottlob! nicht den zehnten Teil verstand, unbewußt jedoch spürte, daß er es in der Werbener Pfarre nicht gehört haben würde.
»Weißt du, Junge,« fragte der Junker unter anderem, »wer vorhin das angepinselte Gespenst mit dem Blumenhute war, das sich von der schwarzen Hopfenstange am krummen Arme spazieren führen ließ? Die Harfenmuhme wars aus Rom, die morgen auf ihr Gut nach Werben will und heute ihre Erben, nämlich mich und Sidi, Revue passieren läßt. Und weißt du, wer die Hopfenstange war, der mein kugelrundes Mamachen wie ein Strickbeutel am anderen Arme hing? Zacharias heißt der Mann, den ›gelehrten Zacharias‹ läßt er sich schimpfen, und ein Pfaffe ist er, aber so einer – wenn du den Unterschied verstehst –, der seinen Blödsinn nicht von der Kanzel, sondern vom Katheder zum besten gibt, item ein Herr Professor. Und mein gelehrtes, dickes Mamachen will den gelehrten dürren Zacharias zum Manne nehmen. Aber der Henker soll mich holen, wenn ich so einen Philister von Pastor Vater nenne.«
»Mein zweiter Vater ist auch ein Pastor,« versetzte Dezimus mit Stolz, da er des Junkers Pointe nicht verstanden hatte.
»Aber dein erster Vater war ein Schafhirt und der meine ein Freiherr von Hartenstein. Zwischen einem Pflegevater und einem Stiefvater ist übrigens noch ein Unterschied, mein Junge.«
Beide Erklärungen waren unwiderleglich, daher denn Dezimus auch nichts weiter äußerte als sein Lieblingswort: »Ja.«
»Nun meinetwegen,« fuhr der andere fort. »Ehe es zur Hochzeit kommt, bin ich über alle Berge.«[196]
»Wo wollen Sie denn hin, Herr Max?« fragte Dezimus betrübt, daß er den schönen jungen Herrn vielleicht im Leben nicht wiedersehen sollte.
»In die Welt hinaus, so weit als möglich. Überall besser als hier.«
»Doch nicht zu dem wilden Volke, wo Ihr lieber Vater totgeschossen worden ist?«
»Nach Rußland? nein. Rußland ist eine Despotie, und ich bin Republikaner. Und wenn Papa auch noch lebte und mich zu sich riefe, ein Tyrannenknecht werde ich nie! Ich habe es geschworen,« flüsterte er geheimnisvoll, stimmte aber gleich darauf mit heller Kehle an: »Bricht dir nicht entzwei die Schulter, nicht entzwei die morsche Schulter, Autokrator – krator – krator. – Es hats doch niemand gehört?« fragte er, indem er sich scheu nach allen Seiten umsah. »Es wimmelt von Spionen in diesem vermaledeiten räucherigen Nest, und alle halten sie mich schon für einen Studenten. Die armen Burschen! Denen sitzen sie gehörig auf dem Dache.«
»Sie gehen wohl noch in die Schule, Herr Max?«
»Leider, weil ich muß. Aber kein Mensch muß müssen! Und kurzum: ich will nicht mehr. Was diese Philister mir beibringen können, weiß ich längst oder brauche ich nicht zu wissen. In einem einzigen Buche steht mehr als in ihren hohlen Köpfen allen zusammen, und ich lese manchmal die halbe Nacht hindurch. Gings freilich nach meiner Mama, würde ich ein Federfuchser wie ihr Zacharias. Aber ich bedanke mich, Frau Mutter, ich bedanke mich. Die Hartenstein haben an einem Schriftgelehrten genug.«
»Da wollen Sie wohl Soldat werden wie Ihr seliger Herr Großvater, Exzellenz?«
»Ich habe das Alter noch nicht. Und dann: ja wenn[197] man gleich General wäre, das heißt, wenn wir schon die Republik hätten, wo das jüngste Genie am höchsten steigt. – Kommen wird sie, die Republik!« er fiel wieder in den Flüsterton – »wir haben es geschworen, Dezimus! Es ist ein Geheimbund. Er heißt der ›Werdetag‹. Ich bin Präses. Alle Sonnabend kommen wir in der ›Sonne‹ zusammen; aber ganz verstohlen. Heute auch; für mich wird es spät werden wegen Mamas Teegesellschaft. Wir rauchen, wir spielen Karte, wir sind fidel. Die anderen trinken Bier. Es sind lauter arme Schlucker. Aber ich mag kein Bier; ich trinke Wein. Ich bin auch der einzige Edelmann in dem Korps. Und da haben wir es geschworen: Der Tag der Freiheit, oder die ewige Nacht! Wenn du größer wärst, Dezimus, ich meine, wenn du schon auf der Schule wärest, führte ich dich ein als Gast.«
Ei nun! Held Dezimus dachte es sich gar nicht uneben, wenn er erst groß geworden sein werde, in einem fidelen Werdetag mit fidel zu sein, obschon, als armer Schlucker, nur mit Biergenuß. Vor der Hand beschäftigte ihn indessen vorzugsweise die Frage, was der schöne junge Herr werden wolle, wenn er binnen kurzem das Präsidium des Werdetags in weniger würdige Hände niederlegte? Und diese Frage stellte er denn auch ganz unumwunden, indem er zuversichtlich die Antwort erwartete: ein Sternenforscher! und begierig war zu erfahren, welcher Weg zu diesem einem so herrlichen Junker einzig geziemenden Ziele eingeschlagen werden müsse. Als der herrliche Junker nun aber einfach antwortete: »Gar nichts!« da starrte er ihm verblüfft in das Gesicht; denn einen Menschen, der gar nichts war, hatte der Zögling Konstantin Blümels sich bisher nicht denken können.
»Nichts oder alles! Ein freier Mann!« verdeutlichte Junker Max. »Mein eigener Herr. Wenn der alte Mehlborn[198] tot ist, sind Sidi und ich Millionäre; denn Mama will er enterben. Wir werden aber nie vergessen, daß sie unsere Mutter ist, wenn sie auch Madame Zacharias heißt. Und von der römischen Tante erben wir auch alles; denn die pröpstlichen Hartensteins sind ihr zu fromm. Vor der Hand sorgt Sidi; sie hat viel in ihrer Sparbüchse. Wirds vor der Zeit alle, gehe ich unter die Kunstreiter.«
Dezimus fragte, was Kunstreiter seien, und wurde berichtet: die einzigen freien Menschen in diesem geknechteten Jahrhundert; die Schauspieler ausgenommen, deren Kunst aber lange nicht so nobel sei.
»A propos!« unterbrach sich der junge Herr, »du kommst ja über X. Hast du nicht gehört, ob der Le Voisin in der Kürassierreitbahn noch Vorstellungen gibt? Ich bin schon ein paarmal drüben gewesen; versteht sich heimlich. Heute wollte ich auch wieder hin. Wenn aber Mama Gesellschaft hat, muß ich die Honneurs machen.«
Dezimus wußte, daß le voisin in Frankreich der Nachbar heiße; von einem Le Voisin in X. wußte er nichts; und da sie just vor Frau von Hartensteins Hause standen, konnte der Junker ihm nur noch einschärfen, auch wenn er gefragt werde, nichts von ihrer Begegnung zu verraten. »Mucksmäuschenstill, Junge! hörst du? und so ein Schafsgesicht gemacht wie jetzt!« Damit sprang er, je zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinan, um vor dem ästhetischen Zirkel den Geist des Sekts noch ein Stündchen auszuschlummern. »Wenn sie nach mir fragen, mache ich meine Pensa, du weißt schon, Schwesterchen,« sagte er zu der kleinen Sidi, die ihm auf dem Flur entgegenkam. Sie nickte und nahm dann Dezimus, der auf des Junkers Geheiß ihm langsam nachgefolgt war, bei der Hand, um ihn der Mutter vorzuführen.[199]
Das hätte der abenteuernde Schäfersohn in seinem staubigen Leinenkittel sich aber nicht träumen lassen, daß er in dem vornehmen Hause aufgenommen werden würde wie ein Prinz! Ja, Heimat bleibt Heimat, der reinsten Vernunft zum Trotz. Frau Brigitte fragte nach den Bewohnern von Schloß und Pfarre, von Pächter- und Schulhaus, nach Hinz und Kunz. Sie fragte mit Anteil, wennschon nicht mit Wärme. Nur nach ihrem Vater fragte sie nicht, und das wäre ja auch die einzige Frage gewesen, auf welche Dezimus keinen Bescheid hätte geben können. Endlich fragte sie denn auch, ob ihr kleiner Gast Hunger habe und etwas genießen möchte, auf welche Fragen der kleine Gast ehrlich: »Ja« und höflich: »Wenn ich bitten darf« antwortete, demzufolge in die Küche geführt ward und eine gewärmte Mittagsschüssel vorgesetzt erhielt, die er bis auf den Grund leerte. Die kleine Sidi, die von wenig mehr als der Luft und ein bißchen Zuckerwerk oder Obst lebte, sah mit Wunderaugen, welche Stoffmassen solch ein neunjähriger Hirtenmagen unterzubringen vermöge. Gehört ein guter Magen denn aber nicht zu den Grundbedingungen eines Glücklichen?
»Eure neue Gutsherrin, Fräulein von Werben, wünscht dich zu sehen, Dezimus,« sagte Frau von Hartenstein darauf. »Reinige dich daher und kleide dich um. Meines Sohnes Zeug wird dir passen.«
Die kleine Sidi, welche ihr Mäxchen bei seinem Pensum von keinem Dritten stören lassen wollte, war flink bei der Hand, Wäsche und Kleider herbeizuholen und den Dezem in eine Hinterstube zu führen. »Erst nimm ein Bad,« sagte sie, indem sie einen Schrank öffnete.
In der Werbener Pfarre wurde, sobald es im Flusse zu kalt wurde, regelmäßig Sonnabend nachmittags im Waschhause[200] gebadet. Aber da setzte man sich in eine Wanne. Daß einer stehend in einem Schranke baden sollte, dünkte dem Dezem wider alle Naturordnung. Die kleine Sidi lachte ihn jedoch aus, drehte die Hähne auf, ließ kalten und warmen Regen sprühen und verlangte, daß Dezimus sich in ihrer Gegenwart unter die Traufe stelle. Er wurde feuerrot; die Kleine kicherte wie ein Kobold.
»Dummer Dezem,« sagte sie. »Ich bin ja kein Mädchen! Ich habe ja einen Buckel! Ich bin ein Nix!«
Der dumme Dezem fand jedoch, daß sie trotz des Buckels kein Nix, sondern ein Mädchen sei, und jagte sie aus der Tür. Dann ließ er sich vorschrifsmäßig im Schranke bespritzen, rumpelte sich ab, bürstete den Strohwald auf seinem Kopfe glatt und machte sich fein. Obgleich der Junker fünf Jahr mehr zählte als er, paßten ihm jenes Sachen wie angegossen. Ja, Kleider machen Leute! Wenn er sich in dieser Pracht doch seinem Röschen hätte präsentieren können!
Als er eben im Begriffe war, eine Weste mit türkischem Muster anzulegen, trat die kleine Sidi wieder ein. Sie stieg auf eine Hütsche, um eine Krawatte mit künstlichem Knoten unter seinen Hemdskragen zu schlingen. »So,« sagte sie, »so gefällst du mir. Nun gib mir einen Kuß!«
Dezimus leistete Folge. Gleich darauf ging es zur Vorstellung der neuen Gutsherrin in den Salon. Auf dem Flur begegnete ihnen der Junker in glänzendem Wichs und duftend wie ein Veilchen. »Mein Mäxchen ist aber doch viel schöner als du,« sagte die kleine Sidi, und Dezimus stimmte ihr mit voller Überzeugung bei.
Das, was der Salon hieß, war nicht so geräumig wie die Wohnstube in der Werbener Pfarre, und einen herrschaftlichen Saal hatte Dezimus doch auch schon gesehen, wenn[201] auch nur einen von Ahnen bevölkerten. Dennoch stand er auf der Schwelle dieses Staatsgemachs wie geblendet, denn alles blitzte und blinkte in dem Raume. Ein Kronleuchter brannte in der Mitte und eine Lichterreihe über jeder Tür. Vor dem orangegelben Divan war der Teetisch serviert mit funkelndem Gerät; im Hintergrunde lehnte zwischen einer blühenden Hortensiengruppe eine goldene Harfe, und am entgegengesetzten Ende des Zimmers stand ein Flügel geöffnet. Gäste waren noch nicht gegenwärtig; nur die Hausfrau, der projektierte zweite Vater und die blühende alte Dame, welche er neben seiner Verlobten am krummen Arme spazieren geführt hatte. Im eifrigen Gespräch wurde der Eintritt der Kinder nicht alsobald bemerkt.
»Unerhört!« hatte eben Frau von Hartenstein ausgerufen.
»Lächerlich!« die alte Dame leichthin erwidert.
»Nicht ganz so lächerlich, wie es scheinen mag, meine Gnädige,« der zukünftige Hausherr widersprochen. »Ist es doch die natürliche Konsequenz unserer unseligen Staatsmaximen. Jegliches Märtyrertum lockt wie die Phantasie, so den Unverstand. Denken Sie an die Kreuzzüge der Kinder – –«
»In homöopathischer Verdünnung,« spottete die alte Dame. »Wie der Held, so sein Affe.«
Bei diesen Worten traten die Kinder ein.
»Siehst du die angepinselte Mumie auf dem Sofa? Die ists. Du mußt ihr die Hand küssen,« zischelte Junker Max in Dezems Ohr und schassierte graziös mit galantem Beispiel voran.
Die »Junkermuhme«, mit ihren roten Bäckchen und schwarzen Löckchen unter einem umfangreichen Blumenhut, mit den weißen Zähnen hinter den lachenden Lippen, dem[202] smaragdgrünen Gewande und dem palmendurchwirkten Purpurschal stach dem Dezem gar wohlgefällig in die Augen; aber wie der schöne Junker es riet und tat, seine Lippen auf das schneeweiße Handschuhleder zu drücken, nein, solche Verwegenheit kam dem bescheidenen Hirtensohne nicht in den Sinn. Er machte unter der Tür einen Diener so tief, als sein stämmiges Rückgrat sich niederzwingen ließ, und da just die ersten Geladenen sich einstellten, schob er sich sacht in den Ofenwinkel.
Sidi oder, wie sie im Salon genannt wurde, Sidonie zog ihn aus diesem hervor, um sich mit ihm an einem Seitentischchen zu etablieren. Und so war es diesem zum Glück geborenen Johanniskinde beschieden, schon auf der Schwelle seines zweiten Stufenjahres der Teilnahme an einem ästhetischen Teezirkel gewürdigt zu werden. Eine Ehre, die sich auf seinen späteren Lebensstufen nicht wiederholen sollte, daher denn dem Helden im Salon ein ausgiebiges Kapitel gewidmet werden soll.
Den ersten Geladenen folgten die anderen mit der Pünktlichkeit, welche an diesem außerordentlichen Abend den Drang der Huldigung bedeutete: kunstsinnige Damen ohne ihre weniger kunstsinnigen Ehegatten, gelehrte Herren ohne ihre weniger gelehrten Ehegattinnen; die Creme des akademischen Genius; desgleichen etliche ledige schöngeistige Wesen beiderlei Geschlechts aus dem Laienstande. Männiglich wie weibiglich verbeugte sich mit nicht weniger feierlichem Ernst wie der Hirtensohn von Werben vor der farbenprangenden Muse, welche die Magie der Sixtinischen Kapelle umwitterte. Die Hausfrau bereitete den Tee; schweigend in aschgrauem Kleid, weißer Pelerine und spiegelglattem Haarscheitel ein Bild der ernsten Wissenschaft[203] neben dem der heiteren Kunst und, absichtlich oder nicht, dessen Folie. Sie hatte sich, der geselligen Gewöhnung der Verwandtin ihrer Kinder tunlichst zu genügen, zu dieser läppischen Unterhaltung herbeigelassen, in ihren Zügen aber stand geschrieben: »Einmal und nicht wieder.« Jederzeit von bleicher Gesichtsfarbe, glich dieselbe heute der ihres Gewandes, das heißt nichts weniger als einer bräutlichen; ihre Lippen waren fest geschlossen, die Augen verfolgten den Sohn, und als dieser Miene machte, dem um den Teetisch sich bildenden Zirkel sich einzureihen, verwies sie ihn mit einer eisigen Gebärde in den Kinderwinkel.
Soweit es einer Mutter von so strenger Gedankenzucht gestattet ist, einen Liebling oder gar einen Verzug zu haben, das heißt unwillkürlich und unbewußt, so weit, und leider schon viel zu weit, war es Brigitten von Hartenstein dieser schöne Knabe, der Erstling ihres Jugendglücks. Das Blut schoß ihm daher bei dieser unerlebten Demütigung in das Gesicht; trotzig schritt er nach der Tür; ruhig ging die Mutter ihm nach und führte ihn, ohne ein Wort zu sagen, so wie man ein unartiges Kind in die Ecke stellt, an das Pfeifertischchen.
Junker Max schäumte; eine Weile saß er stockstumm, an der Unterlippe nagend, die Hände wühlend in dem lockigen Haar; die kleine Sidi streichelte ihm die Backen, flüsterte die zärtlichsten Schmeichelnamen in sein Ohr, machte nach dem Teetisch hin eine Faust und lief dann, mit der Inspiration der Liebe, ihr noch uneingeweihtes, goldgepreßtes Stammbuch herbeizuholen, auch Tinte und eine feingeschnittene Krähenfeder, die sie dem Erzürnten mit einem aufmunternden Wink in die Hand zwang. Und die Aufmunterung wirkte; das Selbstbewußtsein besiegte die Kränkung; es erwachte der Stolz, welcher dem Tertianer[204] ziemt, wenn er sich von Gottes und Rechts wegen als Primus in Prima fühlt und das Haupt einer republikanischen Verschwörung ist. War dieses Konvivium hochgradigsten Philistertums und allerverdrehtester alter Schrauben das Opfer der Unterhaltung eines genialen Jünglings wert, eines Jünglings, welcher der Apollo des Gymnasiums hieß und nach welchem die holdesten Mädchen sich schmachtend die Augen aus dem Kopfe sahen? Unsinn! Blödsinn! Abgeschmackt! Wert war das Konvivium allein seines satirischen Kunstgeschicks, und was wahr ist, muß wahr bleiben – das Album der kleinen Sidi ist der Nachwelt erhalten worden –, die flüchtigen Federskizzen, welche am Kindertischchen gleichsam aus dem Ärmel geschüttelt wurden, sie würden dem ernsthaftesten der ernsthaften Herrn am Teetisch ein Lächeln abgezwungen haben, vorausgesetzt, daß er beim Blättern nicht auf die Illustration seiner eigenen werten Person gestoßen wäre. Vor diesem vierzehnjährigen Karikaturisten lag eine Zukunft.
Der arme Dezem freilich saß zwischen dem satirischen Gezischel und Gekritzel hüben und dem ästhetischen Gesumme und Gebrumme drüben wie ein verirrtes Weidelamm. Zum ersten Male im Leben würde er sich sterblich gelangweilt haben, hätte die Spannung nach dem großen Manne, welcher die Sternwarte regieren sollte, sein Blut nicht in Wallung erhalten. Sooft die Tür sich auftat und ein neuer Herr Doktor oder Herr Professor Fräulein Thusnelden von Werben vorgestellt wurde, fragte Dezimus seine kleine Gönnerin: »Ist es der?« Aber immer war es der noch nicht.
Der Tee hatte gezogen, die Hausfrau eine silberne Schelle ertönen lassen; der letzte Stuhl im Kreise war besetzt, Dezems Hoffnung tief gesunken. Da – da öffnete sich die[205] Tür, und ein bleicher Jüngling trat ein mit einer Miene, welche Dezimus an die seines Kantors Beyfuß erinnerte, wenn er als Leichenbitter feierlich von Haus zu Hause wandelte. Auch der schwarze Leibrock, den er trug, hätte füglich Kantor Beyfußens Kleiderschrank entlehnt sein können; nur die Handschuhe waren nicht ganz schwarz, sondern vermutlich einmal weiß gewesen und von einem Stoff, aus dem man Strümpfe macht.
»Da kommt er!« rief Dezimus neubelebt.
Schallendes Gelächter am Pfeifertisch! Unschuldiges Weidelamm, weißt du denn nicht einmal, was ein Lohnbedienter ist, der bei festlichen Gelegenheiten, an Stelle der Köchin, das Teebrett umherreicht? Ach nein, du weißt es nicht. In deinem Pastorhause wird das Brett von den lieben Schwestern umhergereicht, und du selbst bist schon manches mal mit dem Kuchenkörbchen hinterdrein geschritten. Dein Herz wird immer schwerer, armer Dezem.
Aber jetzt, jetzt! Noch einmal öffnet sich die Tür, und ein Herr tritt ein, ein hoher, stattlicher Herr mit blühenden Wangen, aber, kurios! schon mit schneeweißem Lockenhaar wie die selige Exzellenz; und auch wie eine Exzellenz trägt er eine stolze Uniform, silbergeschnürt von silbergrauer Farbe, Beinkleider, die bloß bis zum Knie reichen, weißseidene Strümpfe und Schnallenschuhe; nur keinen Säbel. »Da ist er!« jubelt Dezimus laut auf; und wiederum schallendes Gelächter; selber am feierlichen Teetisch bricht eine joviale Laune durch, als Fräulein Thusnelda zu dem blühenden Herrn mit den weißen Locken, der ihr das Teegebäck präsentiert, sagt: »Bedanke dich bei meinem kleinen Landsmann, Mattner; er hat dich für einen Gelehrten gehalten.« Dem kleinen Landsmann fiel das Herz vor die Schuhe.[206]
Der Tee ist genommen; der Hausherr der Zukunft erhebt sich, um die gefeierte Virtuosin an ihre Harfe zwischen der Hortensiengruppe zu führen. Sie streift die weißen Handschuhe ab, die hinan bis zu dem radförmigen, kurzen Bauschärmel reichen. Die »schönsten« Frauenarme enthüllen sich. Üppig sind sie nicht, denn Kunstübung zehrt; aber mehlig weiß wie des blühenden Mattner Haupt. Sie stimmt die Saiten, sie präludiert; kein Hauch geht durch den Salon, keine Regung; nur die schwarzen Löckchen zittern unter dem Blumenhut: dann ein Lied sonder Dichterwort noch Sangeslaut, aber zart, rein und glühend der tiefsten Seele entströmend, so wie Thusnelda von Werben, und nur sie, die Adelaide einst gesungen hat, als sie jung und neu, eine Liebesbotschaft aus himmlischen Sphären, die lauschende Welt mit Wonneschauern durchbebte. O du Hirtensohn aus Bethlehem! Das Saitenspiel, das dich zum König weihte, es scheucht heute noch wie vor Jahrtausenden die finsteren Dämonen aus dem Menschenhirn; was aber mehr bedeuten will, es schmelzt die Rinde der Philisterherzen. Dein kleiner, deutscher Hirtenbruder vergißt die geträumten Sternenrohre; die weisen Leviten drücken einander stumm die Hände, und die Priesterinnen des Schönen weinen überirdische Entzückungszähren. Das kleine, verwachsene Mädchen aber stürzt sich jauchzend der alten Künstlerin an die Brust, und ihr schöner Bruder Übermut zerknittert sein gelungenstes Blatt, das die Unterschrift »Harfenmuhme« trägt. Nur die Hausfrau hatte unbewegt gesessen, die Blicke geheftet auf ihren Sohn.
Das Dankopfer entsprach dem Enthusiasmus des Eindrucks. Man hatte etwas Vollendetes gehört und, was mehr bedeuten will, etwas Ungewohntes. Aber die vollendetste Piece füllt einen Teeabend nicht aus, und wer hat[207] den Mut oder die Demut, nach dieser Ersten der Zweite zu sein und nach dem Ungewohnten mit etwas Gewohntem aufzuwarten? Kein Mann; nicht der musikbeflissenste der jungen Doktoren, weder der vielbeliebte Cellospieler noch der allbeliebte Balladensänger; ein Weib mußte sie beschämen. Ein Fräulein mit goldenen Hängelocken ließ sich nach schicklichem Sträuben an den Flügel führen, kramte eine Weile sinnend in dem mitgebrachten Notenvorrat und wählte darauf, sei es nun in erweckter heiliger Erinnerung an den Reigentanz vor der Bundeslade, sei es in der profaneren an die eigene leider entschwundene Reigenzeit, genug, das Fräulein wählte Webers Aufforderung zum Tanz; noch immer das beliebteste Vortragsstück der Zeit und gemeinhin ein recht bewegliches Stück. Weil die Dame aber in jenes Stadium getreten war, das zwischen denen des Vogels und Fisches im weiblichen Erdenwallen die Mitte hält, begann sie und beharrte ohne Abirrung in dem feierlich maßvollen Tempo, in welchem der König der Harfe unzweifelhaft seinen Reigentanz vorgeführt haben wird, oder in welchem heutigentages etwa ein Großvater den Reigen mit der Großmutter eröffnen würde.
Keiner von der Dame musikalischen Freunden hatte ihr bis heute eine Beschleunigung dieses Tempos zugemutet; keiner, selber der rigoristische Cellodoktor nicht, hatte es einer in heilige oder profane Erinnerungen Verlorenen bemerkbarlich übelgenommen, wenn bei schwierigen Touren ihr ein kleiner unharmonischer Fehlgriff entschlüpfte. Heute aber zuckten Finger und Füße, wackelten Löckchen und Blümchen am ästhetischen Teetisch, und am satirischen Pfeifertisch wurden ganz ausverschämte Gesichter geschnitten. Bei Gelegenheit einer kleinen Terz, die korrekter gegriffen eine große gewesen wäre, kreischte die kleine Sidi laut auf:[208] »Au!« und dann wechselte sie mit der römischen Großtante einen Blick und ein Kopfnicken, die eine weit nähere Wahlals Blutsverwandtschaft bekundeten.
»Du spielst ja wohl auch, Kind?« fragte Fräulein Thusnelda zum Pfeifertisch hinüber, nachdem die stimmungsvolle Dame geendet und den Tribut der Höflichkeit geerntet hatte.
»Gewiß!« antwortete Sidi dreist.
»So laß einmal hören, Kleine.«
Die Mutter wollte es wehren, aber die Kleine hatte bereits Posto gefaßt auf dem Kissen, mit welchem Bruder Max hurtig das Taburett vor dem Flügel erhöht hatte, und streckte die Hände, die für ihre Figur zwar unmäßig lang, immer jedoch nur die eines zwölfjährigen Mädchens waren, auf die Tasten.
»Was soll ich spielen?« fragte sie nach der Tante gewendet.
»Was du zu können glaubst, Kleine.«
Die Kleine klappte das Notenheft zu, das vor ihr noch aufgeschlagen lag; ihre Augen funkelten wie Koboldsaugen, und aus dem Kopfe statt aus dem erinnerungsreichen Gemüt schlugen die schlanken Finger das eben verklungene Tonstück von neuem an, aber mit »Posaunen und Jauchzen«, im Tempo der Jugendlust und ohne einen einzigen unharmonischen Ober-oder Untersatz. Die Weisesten der Weisen trippelten mit den Füßen wie auf ihrem ersten Studentenball, und dann klatschten sie bravo mit aller Macht; nur die schönsten der erheiterten schönen Seelen blinzelten ohne ein Fünkchen Schadenfreude zu der gedemütigten Mitschwester hinüber; die kleine Sidi aber warf sich in ihres Mäxchens Arme; sie hatte seine Kränkung gerächt, den Pfeifertisch zu Ehren gebracht. Daß sie mit ihrem Triumph über die zum Tanze herausfordernde Jungfrau sich ein[209] Künstlerherz verbunden und eine weittragende Aussicht für ihr verkümmertes Dasein gewonnen hatte, das ahnete die kleine Sidi in dieser Stunde freilich noch nicht. Nur die Mutter hatte das dreiste Wettspiel nicht herausgehört. Sie hegte keine Reigenerinnerungen, und Musik war ihr gedankenstörendes Geräusch; ihre Blicke hafteten an dem schönen Sohn.
Der Muse, welcher ein gastlicher Sinn den Vorrang gegönnt hatte, war mit diesem Bravourstück genuggetan; wennschon für die weniger sinnlichen Darbietungen, die ihm folgen sollten, statt der hüpfenden Stimmung eine elegische empfänglicher gemacht haben würde.
Denn zur Feier der fremden Künstlerin und zur zarten Mahnung an den Wert des deutschen Vaterlandes, dem sie eingestandenermaßen nach diesem letzten Besuche und der Ordnung ihrer heimischen Angelegenheiten für immer den Rücken zu kehren gewillt war, hatte eine Kunstschwester auf verwandtem Gebiet und zugleich Witwe eines grundgelehrten deutschen Mannes, sich bewogen gefühlt, von ihren mannigfachen Reliquien die heimlichste und heiligste zum ersten Male zu offenbaren: einen Brief, in welchem der größte deutsche Dichter mit seiner eigenhändigen Unterschrift sein Beileid an ihrer Verwitwung beglaubigt hatte.
Der große Dichter war, wie der große Gelehrte, wills Gott! ein Seliger geworden; um beide vereint trug die edle deutsche Frau seit Jahren schon den Trauerschleier; und hatte sie den einen von ihnen auch niemals mit leiblichen Augen gesehen, fühlte sie sich geistig dennoch eine Doppelwitwe; denn sie selber war eine Dichterin und nicht gering das huldigende Opfer, ein Wort, das der größte Bruder im Apoll an den Schwestergenius gerichtet, mit einer bloß ausübenden Künstlerin zu teilen.[210]
Die Eröffnung würdig vorzubereiten, hatte ein befreundeter Doktor der Ästhetik einen Vortrag ausgearbeitet, welcher in Betracht, daß sein Hörerkreis wenn nicht der Mehrzahl so doch der Hauptperson nach der schöneren Hälfte des Menschengeschlechtes angehörte, des Altmeisters bildenden Einfluß auf diese schönere Hälfte behandelte, und in welchem er diese Hälfte wieder in zwei Hälften, fachgemäßer ausgedrückt: Kategorien – – –
Aber – der Vortrag ist ja gedruckt und von Mit-und Nachwelt gebührentlich gewürdigt worden; wenn jedoch – denn das ist der Kasus, auf welchen es an dieser Stelle lediglich ankommt, – wenn also der Held dieser Geschichte ihn nicht gebührentlich gewürdigt hat, so wird hoffentlich weder dem Vortrag noch dem Helden ein Abbruch an ihrer Schätzung dadurch geschehen. Fragwürdig würde im Gegenteil erscheinen, ob es der Vortrag verdiente, gedruckt der Nachwelt erhalten zu werden, wenn er auf besagten Helden einen anderen Eindruck gemacht hätte, als den er gemacht hat; und ebenso fragwürdig, ob der Held verdient hätte, dereinst biographisch behandelt zu werden, wenn er – auch abgesehen von einer zweimeiligen Fußwanderung – einem Vortrag über Goethes bildenden Einfluß auf das weibliche Geschlecht, müßig und mucksmäuschenstill sitzend, drei Viertelstunden lang zugehört hätte, ohne – versteht sich nur in seinem zweiten Stufenjahr! – die Wirkung zu erfahren, die er erfuhr.
Der brave Dezimus, er reißt die Augen auf und gähnt mit vorgehaltener Hand, wie es dem Zögling einer einstmals gräflichen Gouvernante ziemt; aber immer schwerer nickt und immer tiefer sinkt sein dicker Kopf, jetzt hinunter bis zur türkischen Weste, jetzt bis auf die Arme, die sich über dem Pfeifertischchen kreuzen. »Ist er da?« lallt er noch, dann fallen die Lider ihm zu, und er hört von der[211] Beileidsbezeigung des großen Goethe und dem, was ihr vorangeht und nachfolgt, kein Sterbenswort. Er schläft; er schläft wie ein junger Ratz; er hat in seinem Leben noch nicht so fest – nein, das wäre zuviel behauptet –, aber er hat in seinem Leben nicht fester geschlafen.
»Dieser Hirtensohn bekundet einen hohen Grad frühreifer Urteilskraft!« bemerkte, keineswegs im Flüsterton, Fräulein Thusnelda gegen ihren Nachbar, den anverlobten Hausherrn, und der anverlobte Hausherr seufzte zur Erwiderung: »Beneidenswerter Stand der Unschuld!«
Weiter kam er nicht; denn der Ästhetiker hatte eben das Heft zugeschlagen, die Reliquie wurde aus dem Busen gezogen, und: »Auf die Suppe folgt der Braten,« sagte Fräulein Thusnelda.
Das Diktat, welches nunmehr zum Vortrag gebracht wurde, enthielt nur wenige schlichte Worte, wie ein Greis bei eines Greises Scheiden sie naturgemäß fühlt und sagt; von einem anderen an eine andere gerichtet, würde, in beruhigter Gemütsstimmung, das Schreiben mit manchen ähnlich lautenden von dem Kaminfeuer verzehrt worden sein, dahingegen von einem Goethe diktiert und von eines Goethe eigener Hand unterzeichnet, es alle Aus sicht hat, die schwungvollsten Trauerkarmen und sogar das gelehrte Elaborat, zu welchem es den Impuls gegeben, um unberechenbare Generationen zu überdauern, ja einem edlen Weine gleich, mit jedem Lagerjahre an Wert zu steigen. Wie fühlte heute schon die glückliche Eignerin, trotz ihres Witwenunglücks, sich beneidet! wie phantasievoll ergründete sie aber auch die geheimnisvolle Tiefe jeglichen Bindeworts, spürte unter dem gelassenen Redesatz den klopfen den Jugendpuls, schöpfte, ohne ihn zu erschöpfen, aus dem Born einer göttlichen Zeugungskraft.[212]
Der Drang nach einem weihevollen Abschluß des Seelenschmauses, bevor das kalte Abendbrot gereicht ward, ist unüberwindlich; die edle Witwe erhebt sich; sie war nicht nur eine Dichterin, sie war in gehobenen Momenten es auch aus dem Stegreife. Die Gesellschaft erwartete eine Improvisation. Die Dichterin wagt an ihre musikalische Kunstschwester die Bitte um leise Harfenbegleitung; die Kunstschwester aber schüttelt schnöde die schwarzen Löckchen unter dem weißen Blumenhut, worauf hin wiederum die Dichterin wehmutsvoll die weißen Locken unter dem schwarzen Schleiertuch schüttelt und mit in die Höhe geschlagenem Blick, einer Seherin gleich, die himmlische Eingebung erwartet, als – – als die Tür sich auf tut und – ja, das Glück kommt nicht bloß Märchenprinzen im Schlaf! – und Er erscheint, Er ist da!
So gering auf einer mittleren Universität die Hörerzahl eines Astronomen auch nur sein kann, so gab es auf der unseren jener Zeit nicht bloß keinen gefeierteren, sondern auch keinen populäreren Lehrer als den alten Herrn mit dem sokratischen Satyrkopf und dem sokratischen Menschenherzen, und nicht Frau von Hartenstein allein strich den Tag, an welchem er ihr Haus zu flüchtiger Einkehr beehrte, rot im Kalender an. Heute scheuchte seine Begrüßung zum ersten Male die Sorgenwolken von ihrer Stirn, wenngleich er auch heute leider nur als Meteor am ästhetischen Firmament auftauchen sollte; denn am wissenschaftlichen Firmament hatte sich eine totale Mondfinsternis angekündigt, und der Umgang mit großen und kleinen Himmelsregenten erzieht nun einmal eine Höflingsschule.
»Indessen,« setzte er hinzu, indem er Fräulein von Werben, als einer alten Bekanntin, die Hand drückte, »ließ es mir doch keine Ruhe, Sie, Verehrteste, noch einmal zu sehen[213] und, wenn es sein kann, zu hören. Denn es bleibt bei Ihrem Wort: unser beider Künste sind Schwestern, und welche von ihnen die ältere ist, ob die erste Harfe, welche ein Thebaner gestimmt, oder die erste Mondfinsternis, welche ein Chaldäer beobachtet hat, diesen zweifelhaften Vorrang wollen wir uns gegenseitig nicht streitig machen. Und darum, edle Thebanerin, rühren Sie Ihr Saitenspiel zu einer Weise, nach welcher der alte Chaldäer für den Rest seiner Nächte die himmlischen Leuchten harmonisch wandeln sehen wird.«
In der nächsten Minute saß Fräulein von Werben zwischen der Hortensiengruppe hinter ihrer goldumrahmten Pedalharfe, vielleicht der klangvollsten und kostbarsten, welche Erards Meisterhand konstruiert hat. Während sie stimmte, sagte der Professor nachdenklich: »Seit ich Sie zum ersten Male hörte, es war in der Dresdener Hofkirche, und lange, lange ist es ja her, ich war fast noch ein Knabe, und Sie, Sie sangen damals noch – Thusnelda mit der Seraphsstimme! wissen Sie wohl? –, seitdem nun hat mir in mancher stillen Sternennacht eine alte italienische Hymne vor den Ohren gesummt, ja ich darf sagen, wie Sphärenrhythmus das Herz sehnsüchtig geschwellt. In Wirklichkeit habe ich die Melodie niemals wieder vernommen. Es wäre ein Wunder, wenn Sie sich ihrer noch erinnerten.«
»Das Wunder könnte sich begeben haben,« versetzte das Fräulein. »Aber sagen Sie, Professor, warum tragen Sie nicht wie ich eine Perücke? Das Organ der Galanterie liegt Ihnen bedenklich bloß. Die Harmonie der Sphären sollen Sie übrigens noch einmal klingen hören, wenn auch nur mittelst eines Notbehelfs. Die Finger sind mir, gottlob! noch nicht lahm geworden.«[214]
»Die Zunge auch nicht,« versetzte der Professor, und beide lachten.
Dann griff die Künstlerin in die Saiten zu einer jener kindlich hehren, friedvollen Palestrinischen Weisen, die man in Deutschland dazumal außerhalb der Dresdener Hofkirche nur selten hörte, welche die Dame aber mit solcher Virtuosität, auch des Gemütes, modulierte, daß der alte Chaldäer durch den Notbehelf der Saiten sich gar wohl in der Jugend goldene Sangestage versetzt fühlen durfte und eine edle Dichterin nur mit übermenschlicher Anstrengung die zuströmenden Gesichte im Herzensgrunde zu stauen vermochte.
»Nun aber Gefallen für Gefallen, Freund,« sagte Fräulein Thusnelda, nachdem sie auf ihren Divanplatz zurückgekehrt war. »Hat die Kunst meiner alten Finger den Weisen auf eine Viertelstunde wieder jung gemacht, soll seine alte Weisheit einen Jungen auf ein paar Jahrgänge älter machen.«
Und sie erzählte darauf das Sternenabenteuer ihres Werbenschen Schäferbuben mit so knapper Anschaulichkeit, wob mit so anmutigem Humor sein Dezemsschicksal ein, daß die Gesellschaft dem Vortrag der gewandten, alten Scheherezade lauschte wie zuvor dem der gewandten, alten Harfenkönigin. Ja, das Glück kommt im Schlaf. Glückseliges Johanniskind, in dieser Schlummerstunde wurdest du zum Romanhelden inauguriert!
»Fast tut es mir leid, Ihren kleinen Träumer ernüchtern zu müssen,« versetzte der Professor. »Wenn er aber ein Rechter ist, würde trotz allem und allem es eines Tages doch geschehen müssen. So früh als möglich demnach die Probe. Wach auf, mein Sohn, wach auf!«
»Dezem, wach auf!« rief die kleine Sidi, indem sie den Schläfer an den Schultern schüttelte.[215]
Dezem fuhr in die Höhe und rieb sich die Augen. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Eben hatte er in dunkler Bodenkammer von seinem Röschen geträumt, und nun saß er in strahlendem Kerzenlicht, und eine vornehme Gesellschaft stand lachend um ihn her. Er wurde wie mit Scharlach übergossen und hätte vor Scham in die Erde kriechen mögen. »Komm, kleiner Kollege,« sagte der Professor, ihn bei der Hand fassend. »Die Sterne haben nicht warten gelernt.«
»Gestatten der Herr Professor, daß ich mich anschließe?« fragte Junker Max.
Der Professor wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit der Mutter und ihrem auserkorenen Gemahl.
»Besser den Mond sich verfinstern sehen als sich einem Sonnenstich aussetzen,« äußerte Fräulein Thusnelda, worauf die Mutter denn in strengem Ton entschied:
»So geh! Daß du aber, sobald der Herr Professor dich entläßt, ungesäumt auf geradem Wege nach Hause kommst. Und du mit ihm, Dezimus, hörst du? Ich verlasse mich auf dich.«
Dezimus sagte: »Ja!« Junker Max war weiß geworden wie eine Wand.
Sie gingen.
Der Weg zum Observatorium war ziemlich weit. Als sie in ein dunkles Quergäßchen der an dunklen Quergäßchen äußerst reichen Stadt bogen, raunte der Junker in Dezems Ohr: »Wir sind verraten, ich muß sie warnen!« und bat darauf mit ausgesuchter Höflichkeit den Herrn Professor, wegen plötzlichen Schwindels nur zu einem Trunk Wasser in ein Haus treten zu dürfen, über dessen offnem Torweg eine schwächliche Öllampe das Zeichen »Zur goldenen Sonne« erkennen ließ.[216]
Der alte Herr schüttelte den Kopf; ehe er aber noch seiner Weigerung in Worten Ausdruck geben konnte, wurde er von einem anderen überholt, mit dem er stumm einen Händedruck wechselte und der alsobald hinter der verglimmenden Sonne verschwand.
»Unser Rektor!« zischelte Max, indem er sich zitternd an Dezems Arm klammerte.
Er sprach kein Wort während des Weges; auch der alte Chaldäer schien den Schwindelanfall für abgetan anzusehn; er wendete sich mit seinen Fragen ausschließlich dem kleinen Sternenfreunde zu, und dieser offenbarte zutraulich alle Heimlichkeiten, die er seinen himmlischen Lieblingen abgelauscht. Als darauf jedoch der alte Chaldäer ihm das heutige Phänomen leichtfaßlich erklärt hatte, da schwieg freilich auch er; aber die hohen Lieblinge blickten in ein ernsthaftes Kindergesicht, das eine Weihe empfangen hatte.
»Du wirst,« sagte der Professor, »nichts anderes als einen Schatten über die Mondscheibe ziehen sehen, wie du schon manches Mal eine Wolke darüber ziehen sahst. Auch wirst du die Sternbilder, die du mit bloßen Augen wahrnimmst, nicht, wie du vermutest, in Mondes- oder gar Sonnengröße schauen, und die, welche dir erst das Fernrohr deutlich macht, werden dir nur als schwache Fünkchen leuchten. Das darf dich aber nicht beirren, mein Sohn. Nichts, was wir hienieden schauen können, ist so groß, als wir es uns denken, und nichts, was wir erreichen können, so vollständig, als wir es erstreben. Weil du nun aber nunmehr weißt, daß es der Schatten deiner Erde ist, welcher dir, seit Jahrhunderten voraus berechenbar, ihren Trabanten ein paar Minuten lang verhüllte, und weil du weißt, daß die kleinen Himmelslichter,[217] welche es dir angetan haben, Welten sind wie die, welche du bewohnst, und daß es millionenmal mehr und millionenmal fernere Welten gibt als die, welche du selbst mit den schärfsten menschlichen Werkzeugen zu erkennen vermagst, darum wird es dir keine Ruhe lassen, ihr gesetzmäßige Bahn, soweit deine Kräfte reichen, zu erforschen, und es würde mich freuen, wenn ich dir bei dieser Forschung dereinst länger als heute ein Führer sein dürfte.«
Und es geschah, wie der weise Chaldäer vorausgesagt. Der sinnliche Eindruck, welchen Dezimus durch das große Rohr empfing, blieb weit hinter seinen Erwartungen zurück, und der des Gemüts war nicht so erhebend wie der des Allnachtshimmels ohne die räumliche Beschränkung durch ein Instrument. Das aber, was als Gedanke schon in dem Kinde geglommen, hatte einen Sporn erhalten, der seinem Mannesstreben die Richtung gab.
Das erste Morgengrau dämmerte, als sie die Sternwarte verließen, welche – auch eine Enttäuschung für den Hirtensohn – nichts weniger als einem hehren Tempelbau glich. Der unglückliche junge Verschwörer hatte während der langen Beobachtungsstunden wie auf Kohlen gestanden und an keinen anderen Erdschatten gedacht als den, welcher den Werdetag verfinsterte. Nachdem der Professor die Knaben in dem Garten, der das Observatorium umgab, verlassen hatte, um nach seiner Wohnung abzubiegen, rief Max mit bebender Stimme:
»Ich muß fort, auf der Stelle! Was hülfe es, wenn sie mich auch noch faßten! Gib Sidi heimlich dies Blatt. Gottlob! daß ich es unbemerkt kritzeln konnte. Sonst gegen keinen Menschen ein Wort. Adieu!«
»Nein, Herr Max,« entgegnete Dezimus, indem er ihm den Weg vertrat. »Sie müssen mit mir nach Hause[218] gehen. Wir haben es Ihrer Frau Mutter versprochen und dem Herrn Sternenprofessor auch.«
»Aber, Junge,« schrie Max außer sich, »bist du denn gar zu dumm? Begreifst du denn nicht, um was es sich handelt? Sie haben die Statuten, sie haben die Mitverschworenen. Ich bin das Haupt: ein gräßliches Exempel wird statuiert werden. Lebenslängliches Zuchthaus, ein Todesurteil – –«
»Ach bewahre!« tröstete Dezimus. »Das läßt ja der Herr Professor, Ihr zweiter Vater, gar nicht zu. Kommen Sie nur, kommen Sie!«
Er wollte ihn fortziehen, jener sich losreißen. Sie rangen miteinander in der stillen, noch nächtigen Gartenallee. Dezimus war der stärkere, Max der gewandtere; der Sieg zweifelhaft. Da – da, wie ein lauerndes Gespenst aus dem Boden geschossen – stand plötzlich der zweite Vater zwischen ihnen, packte, ohne einen Laut von sich zu geben, den zukünftigen Sohn am Arm und schleppte ihn stracks nach Hause.
Als der Dezem nun still hinter den beiden herschlenderte, waren Sonne, Mond und Sterne für ihn am Himmel ausgelöscht. Denn wie Schuppen war es ihm von den Augen gefallen und wie ein Zentner auf sein Herz. Hatte er den schlimmen Streich, den er einem anderen gewehrt, nicht ausgeführt? War er nicht heimlich in die Welt hinausgelaufen? Würde seine liebe Mutter nicht in Angst um ihn vergehen und sein gütiger zweiter Vater zum ersten Male ein gräßliches Exempel an ihm statuieren? Ach, der ruchlose Bösewicht, der er war! Und alles um eines Werdetags willen, gerade so wie Junker Max! Bittere Reuetränen strömten über seine Backen. Er wollte nur bei Frau von Hartenstein seinen Kittel wieder anziehen,[219] dann in einem Atem heimlaufen und, wie der verlorene Sohn, fußfällig für seine Schandtat um Vergebung flehen.
Als er aber das Haus erreichte, in welchem die ästhetische Versammlung sich seit Stunden aufgelöst hatte, stieß er unter der Tür auf die alte Gutsdame, die, nach einer langen vertraulichen Besprechung mit ihrer Verwandtin, im Begriffe war, in ihr Hotel zurückzukehren.
»Du bleibst, Junge!« sagte sie lachend. »Ich bringe dich morgen selbst nach Werben und übernehme die Verantwortung bei deinen Eltern.«
Was sollte Dezem tun? Er blieb, legte sich aufs Ohr und schlief; der ruchlose Bösewicht, er schlief, als hätte er das allerfriedlichste Gewissen zu seinem Schlummerpfühl. Als er aber endlich gegen Mittag durch die kleine Sidi mit Gewalt aus den Federn, in die Kleider und zur Besinnung gebracht worden war, da hätte an schwindelhaftem Erfolg binnen vierundzwanzig Stunden sich wohl nicht leicht ein Abenteurer mit ihm messen können.
Ausgerückt im Bauernkittel auf dem Butterfaß des Leiterkarrens, kehrte er heim im Junkerhabit auf hohem Kutscherthron, neben dem schmetternden Postillion, der ein Viergespann lenkte; rollte im Fluge die Straße entlang, auf der er gestern im Schweiße seines Angesichts getrabt war. Im hinteren Kabriolett hatte, von seinem Ehrenplatze durch ihn verdrängt, der Diener mit den blühenden Wangen und dem schneeweißen Lockenhaar sich mißmütig eingeschichtet zwischen die ältliche Kammerdame und einen Berg von Schachteln und Koffern. Im Fond der wappenprangenden Reisekarosse saß die Gutsherrin mit Junker Max; auf dem Rücksitz ruhte eingekapselt die goldene Harfe, der Künstlerin zweites Ich, das sie eifersüchtig mit[220] den Augen hütete. So glorreich sollte der Einzug in Werben gehalten werden! Und dazu im Arm die duftende Gardenia und im Herzen die Erinnerung an das große Rohr und den weisen Chaldäer!
Was im Inneren des Wappenwagens verhandelt wurde, drang natürlich nicht zu Dezems Ohr. Daß es ein hochnotpeinliches Strafgericht sein könne, befürchtete er keineswegs, war im Gegenteil heute mehr noch als gestern geneigt, den jugendlichen Verschwörer als Helden zu bewundern, da beim Einsteigen sein schönes Gesicht vor Glückseligkeit gestrahlt hatte und er keinen Gedanken an seine nächtlichen Ängste und ihren beiderseitigen Ringkampf bewahrt zu haben schien. Die kleine Sidi hatte sich zwar mit Tränen aus seinen Armen gewunden, aber es waren Tränen, welche ein Schimmer froher Erwartung durchleuchtete.
Als in der Stadt, wo Dezimus gestern die Gardenia vergeblich gesucht hatte, die Pferde gewechselt wurden, langte aus entgegengesetzter Richtung die Personenpost eben an. Mehrere Passagiere stiegen aus; unter ihnen ein ältlicher Herr, der sich seine Peife an der des Schirrmeisters anzündete. »Der Vater!« jubelte Dezimus auf, sprang mit einem Satze vom Bock und hielt die seltene Blume wie im Triumph in die Höhe.
»Mein guter Sohn!« sagte Pastor Blümel gerührt. »Mir zuliebe hast du diesen weiten Weg gemacht!«
Dezimus stand wie angedonnert mit niedergeschlagenen Augen:
»Ach nein, Vater,« sagte er kleinlaut darauf, »ich habe es den Sternen zuliebe getan.«
Bevor der Vater das Rätsel zu lösen vermochte, beugte sich zwischen den Spiegelscheiben des Wappenwagens ein[221] blumengeschmücktes Lockenhaupt hervor, und eine glockenhelle Stimme rief:
»Dieses redliche Hirtenblut wollen wir zu Ihrem Nachfolger heranziehen, Herr Pastor. Ich heiße Thusnelda von Werben.«
Vater Blümel hegte ein zu gutes Vertrauen in seines Dezem rüstigen Körper und ruhigen Kopf, als daß er gestern abend die Nachricht von der ausgedehnten Blumenexpedition mit irgendwelcher Sorge aufgenommen hätte; seine sonst so starkmütige Hanna dahingegen sah ihr verirrtes Lamm dem Wolf in den Rachen rennen und im allerglücklichsten Fall vom Gendarm auf dem Schub in seine Hürde zurücktransportiert. Nach einer ruhelosen Nacht erklärte sie rund heraus:
»Du, Konstantin, oder ich!« und so machte ihr Konstantin sich denn auf die Suche des verirrten Lamms und – der bedrohten Gardenia.
Wie er nun aber halben Wegs beiden im erwünschtesten Wohlbefinden begegnete, durch eine fabelhafte Verkettung obendrein unter Schutz und Geleit der Patronin, die jemals mit Augen zu sehen er nicht zu hoffen gewagt hatte, da spürte er eine Anwandlung von seiner Hanna Glauben an die Himmelsgunst eines Johanniskindes, und mit herzlicher Freude nahm er der Dame Einladung zur Heimkehr in ihrer Gesellschaft an.
Ein Platzwechsel wurde dadurch erforderlich. Junker Max bestieg zu seiner innerlichsten Befriedigung den Thron des Postillions, tauschte sich gegen ein Biergeld die Führung der Leinen ein und lenkte, ohne einen Rest von Verschwörerlaune, zum ersten Male einen Wappenwagen viere lang vom Bock. Dezimus wurde in das Innere des Wagens aufgenommen und mußte zusehen, wie er sich auf einer Kante[222] neben dem Harfenpedal einrichtete. Da jedoch wiederholtes Herunterrutschen das Zwiegespräch der beiden Würdenträger störte, kauerte er sich auf den Wagenboden nieder und hat mit dem Prickeln seiner einschlafenden Gliedmaßen die Ehre, einer gefeierten Künstlerin zu Füßen zu sitzen, ganz gewiß nicht zu teuer erkauft.
Da die Gutsdame nur einen einzigen Tag zur Kenntnisnahme des Besitztums, das ihr seit länger als einem halben Jahrhundert ein fremdes geworden war, bestimmt und die Absicht hatte, dem vormaligen Werbenschen Erbpächter Mehlborn einen Besuch abzustatten, ersparte sie sich einen zeitraubenden Bogen, indem sie, statt der Landstraße, einen Seitenweg auf dem jenseitigen Ufer einschlagen ließ. Die Begegnung ihres Pfarrers, mit dem sie mancherlei Geschäftliches abzusprechen hatte, kam auch ihr erwünscht, und bald war sie mit ihm im Gleise der Vertraulichkeit.
»Man braucht,« hob sie an, indem sie ihm freundlich die Hand reichte, »mit einem Menschen keines wegs einen Scheffel Salz zu essen, um ihm in das Herz sehen zu lernen. Ichziehe, wie bei anderen Naturansichten, einen bedeutenden Totaleindruck einer Menge kleiner Lokaleindrücke vor, und die Bekanntschaft mit Ihrem Dezem gab mir solch ein Gesamtbild Ihres Wesens. Im übrigen hat mein Schwager, der General, es auch an kleinen Einzelnbildern nicht fehlen lassen, so daß ich bei Ihnen und den Ihren hinlänglich zu Hause bin. Sie müssen nämlich wissen, Herr Pastor, daß die feindliche Verschwägerung zu guter Letzt in einen intimen Freundschaftsbund umgeschlagen war und daß an einem noch intimeren Bündnis, wie selbiges durch einen Paragraphen Ihres Landrechts erläutert wird, nichts weiter fehlte, als daß das Bedürfnis der Unterstützung nicht ein gegenseitiges war. Zu meinem Glück, da ich sonst[223] statt dieses Blumenhutes eine Witwenhaube tragen würde.«
Die Dame plauderte diese und alle folgenden Vertraulichkeiten so unbefangen aus, als ob nicht ein Kind derselben Zeuge gewesen wäre. Möglich, daß sie meinte, der unschuldige Dorfjunge verstehe sie noch weniger, als er, wo sie hier und dort in seinen Gedankenkram paßten, sie wirklich verstand. Im übrigen gibt es für geniale Leute ja keine Indiskretionen.
Die Rede kam demnächst auf Frau von Hartenstein, und keine Neuigkeit hätte den alten Lehrer mehr überraschen können als die von ihrer bevorstehenden Wiederverheiratung; und kaum eine bänglicher berühren als die von ihr getroffene Wahl.
»Kennen Sie Zacharias?« fragte Fräulein Thusnelda.
»Nur aus Bruchstücken seiner kritischen Exegese,« antwortete der Pastor seufzend. »Der Mann ist stark im Zerstören! Wie erklären Sie, gnädiges Fräulein, diese so schwer begreifliche Wahl?«
»Ei nun, sehr natürlich aus dem bereits angezogenen Paragraphen von der wechselseitigen Unterstützung. Brigittens Mittel sind nahezu erschöpft; ihr Ehrgeiz ist es aber keineswegs. Jener Trieb zum Zerstören, wie Sie ihn nennen, ein Trieb, zu welchem übrigens gemeinhin mehr Mut als Geist gehört, also ein Charakter und kein Genie, hat dem Mann einen Namen und glänzende buchhändlerische Honorare eingetragen, ohne ihm bis dato seinen Lehrstuhl zu kosten. So hilft der Mann ihr aus der Not. Er seinerseits ist klug genug, zu wissen, daß auch im geistigen Zerstören nicht leicht Maß zu halten ist. Ein Stück bröckelt dem anderen nach. Das Publikum aber liebt allerorten ein Mittelmaß. Hand und Fuß, die Nase, der ganze Kopf[224] sogar mag einer Autorität abgeschlagen werden: ein Torso soll stehen bleiben; Fenster und Türen aus einem Tempel gerissen, das Dach abgedeckt: die Ruine wird um so ehrwürdiger, und am Ende läßt sich noch eine Windmühle auf ihren Grund mauern errichten. Der Tag könnte also kommen, an welchem scharfsinnige Negationen weniger glänzende Honorare eintragen würden; abgesehen davon, daß, über kurz oder lang, der nämliche Umschlag, von welchem mein Neffe, der Propst, die Rückkehr zur Kanzel erhofft, meinen Quasineffen in spe, den Professor, von dem Katheder nötigen dürfte. Und leiblicher Hunger täte dann weh. In dieser eines weisen Mannes würdigen Fürsicht gewähren die Mehlkammern eines reichen Schwiegervaters die tröstlichste Perspektive. So sorgt der Mann für die Zukunft, die Frau für die Gegenwart, und da im übrigen Mann und Frau ungefähr in gleichem Maße aus den gleichen Stoffen zusammengesetzt sind, darum auch die gleichen Bedürfnisse haben, ist eine harmonische Ehe zu prognostizieren.«
»Aber auch ein gedeihliches Elternhaus?« wendete Pastor Blümel ein.
»Das just um so weniger,« versetzte die alte Dame. »Die Familie gedeiht nur in gemischten Elementen, und Kinder badet man nicht in Spiritus. Zumal diese Hartensteinschen Kinder, die, vielseitig begabt, schon jetzt einseitig entwickelt sind. Beide lieben nur sich, das heißt auch sich untereinander; zur Mutter haben sie keinen Zug, und den auserkorenen neuen Papa hassen sie schlechthin. Derlei Stiefverhältnisse können überhaupt nur durch frühe Gewöhnung oder durch die Vernunft erträglich gemacht werden. Für die erste sind die Kinder zu alt, für die letzte zu jung. Beiden Teilen wird es daher einen verdrießlichen Übergang ersparen, wenn ich die Tochter, bis zu einem reiferen Stadium,[225] mit mir nach Rom nehme. Ich vermeide im allgemeinen unschöne Umgebungen; da das kleine Anhängsel aber gescheut und für die Musik ungemein talentiert ist, denke ich es mit ihm aushalten zu können. Schade, daß sie zur Harfe nicht die Figur hat; von einer Gesangstimme kann bei solchem Brustkasten überhaupt nicht die Rede sein. Aber sie empfindet die Kunst, und die Kunst wird sie für manche versagte Empfindungen schadlos halten müssen. Notabene: für unfreiwillige Versagungen; denn freiwillig sind solche der höchste Triumph, den wir Frauen feiern können.«
»Aspasia!« sagte der Pastor lächelnd, und Fräulein Thusnelda nickte ihm befriedigt zu.
»Für die Tochter wäre somit zunächst gesorgt,« fuhr sie darauf fort. »Problematischer steht es um den Sohn. Sein Großvater war der schönste Mann, den meine Augen geschaut, und der Enkel gleicht ihm. Sehen Sie doch, mit welcher Grazie er draußen die Zügel führt. ›Nur absichtslos, doch wie mit Absicht schön!‹ Könnte ein Künstler ihn nicht zum Vorwurf eines jungen Sonnengottes nehmen? Und wie die Glieder, so der Intellekt. Er lernt spielend, sagen seine Lehrer, hat Gabe zu allem, Lust zu vielem, Ausdauer zu nichts. Aus diesen Faktoren bilden sich die Tagediebe, die als Genies ein Monopol nicht bloß der Freiheit, sondern Frechheit zu haben glauben, zumal auf fettem Boden. Stellen Sie sich vor, der Bengel hat gestern abend eine Teegesellschaft seiner Frau Mama – ehrenwerte Philister und langweilige schöne Seelen einer deutschen Provinzialstadt! – mit ein paar Federskizzen hingeworfen, daß sie in einem Witzblatt, wenn Ihr eines besäßet, Parade machen könnte. Hier eine Probe: ›Die Harfenmuhme!‹«
Fräulein Thusnelda zeigte das abgerissene Blatt, auf dessen Rückseite Max in seiner gestrigen desparaten Stimmung[226] die Abschiedsworte an seine Schwester gekritzelt, und welche der lauernde zweite Vater ihm entwunden hatte. Pastor Blümel schüttelte seufzend das Haupt, und seine Patronin fuhr fort:
»Und stellen Sie sich weiterhin vor, daß am nämlichen gestrigen Abend eine republikanische Verschwörung entdeckt und aufgehoben worden ist, deren Obmann dieser kunstfertige Tertianer war. Mich wundert nur, daß er nicht alsobald zur Organisation einer Räuberbande à la Karl Moor vorgeschritten ist. Kleine Gernegroße! Ein Auswuchs Ihrer allerliebsten Staatsmaximen!«
Pastor Blümel stieß einen tiefen Seufzer aus und schlug die Augen zu Boden, als ob er selber ein verantwortlicher Teilhaber dieser Staatsmaximen gewesen wäre. Hätte es sich in seiner Patronin Wappenwagen geschickt, würde er seine Pfeife angezündet haben, so schmerzlich verworren war seine Gedankenarbeit.
»Für die Zukunft eine heilsame Lehre, – falls sie verstanden wird!« sagte die Dame leichthin. »Seis darum. Hängen wird man die dummen Jungen natürlich nicht; man steckt sie stillschweigend irgendwo unter. Was aber den Häuptling anbelangt, so ist seine Mama der Verlegenheit überhoben, den Witwenstuhl verrücken zu müssen in Gegenwart eines Zeugen, der ein Karikaturblatt von der Weiheszene entwerfen würde. Was aber bis auf weiteres anfangen mit dem Tausendsasa? Ich, für meine Person, habe keinerzeit den Trieb zur Grachenmutter in mir gespürt, und der Tropfen Werbenschen Blutes, der in des Burschen Adern noch fließt, kann mir die Verpflichtung nicht auflegen, die Rolle in alten Tagen zu forcieren. Bliebe also der Großvater Mehlborn, dem ich en passant nicht allzu gelinde auf den Zahn fühlen werde. Unter allen[227] Umständen besitzt er den nervus rerum, auf welchen es in der Zukunft ankommen wird, und zugegeben muß ja auch werden, daß der Dreschflegel ein probates Korrektiv gegen Verschwörerlaunen ist, nur nicht gegen solche eines Bluts von vierzehn Jahren. Wer soll zunächst dem tollen Füllen die Halfter über den Kopf werfen? Ich frage Sie, Freund, Sie sind ja halb und halb Pädagog, was sollen wir mit dem Irrwisch anfangen?«
Bis dahin hatte Dezimus, wenn auch mit immer steigender Entrüstung, an sich gehalten. Nun jedoch ertrug er es nicht länger, den schönen jungen Herrn so schmählich verlästert, ihn wohl gar mit des bösen Amtmanns Dreschflegel bedroht zu sehen. Er hatte gestern, um des vierten Gebotes willen, mit ihm gerungen, er, der doch weit schnöder gegen dieses Gebot gefrevelt hatte. Ihm aber war wegen des großen Rohres kein böses Wort gesagt worden, und jener wurde bloß wegen der Republik behandelt wie der verlorene Sohn. Seit die vornehme Dame ihn einen jungen Sonnengott genannt hatte, leuchtete er Dezimus nun vollends vor wie der alleredelste Held.
»Er will unter die Kunstreiter gehen!« platzte er daher heraus mit dem Stolze der reinsten Bewunderung.
Die alte Dame lachte hellauf. »Bravo!« rief sie in die Hände klatschend, »bravissimo! daß man doch niemals an der Mutter Natur verzweifeln soll! Lassen wir ihn laufen, lassen wir ihn reiten, wenn er sich wundgeritten hat, wird er zu Kreuze kriechen, und hängt der Brotkorb ihm dann nur ein wenig hoch, kann aus dem unbärtigen Karikaturenzeichner noch etwas Rechtschaffenes zustande gebracht werden.«
»Ein gewagtes Experiment!« versetzte Pastor Blümel so traurig, als die Dame lustig schien.[228]
»Wissen Sie eine wirksamere Zucht als die der Not?«
»Solange die Liebe nicht erschöpft ist, gewiß.«
»Wollen Sie ihn etwa in Ihrem Töchtergarten schulen? Ich meine es im Ernst, Freund, im allerernsthaftesten Ernst. Versuchen Sie es mit dem jungen Wicht.«
»Mir bleiben,« entgegnete Pastor Blümel nach einer Pause, »Kraft und Zeit nur allenfalls für einen Schüler, meinen Pflegesohn, und der ist ein Anfänger, ein Lehrling auf Probe. Bestände er diese, dürfte ich auch für seine höhere Ausbildung Kenntnisse und Methode mir nicht mehr zutrauen; schon jetzt werde ich für die Anfangsgründe der Mathematik mich leider nach einer Aushülfe umtun müssen. Nicht als einen Schüler kann ich daher Ihren jungen Verwandten in die Obhut meines Hauses nehmen, wollen Sie ihm denselben als Gast für eine Übergangszeit anvertrauen, wird er darin herzlich willkommen und, so Gottwill! wohlgeborgen sein.«
»Probieren wirs denn zunächst einmal in der Klosterschule des frommen Herrn Ohm, wohl möglich, daß sie die Wirkung der Reitschule wettmacht,« versetzte die Patronin, führte ihr Projekt aber nicht weiter aus, da man in der Nähe des Talgutes angekommen war. Sie beugte sich aus dem Wagenfenster. »Dort oben Ihre Pfarre!« rief sie, »und hier die Kirche! Ich bin in ihr getauft worden, – eingesegnet, – und wenn ich zum letzten Male meinen Einzug in ihr halten werde, – machen Sie es dann gnädig, Freund, mit dem alten, harfespielenden Heidenkind.«
Die Lippen lachten bei den Worten, über den Augen aber lag ein feuchter Nebel, wie er wohl nicht häufig deren Funkelblick verschleiert haben mochte. Gleich darauf jedoch sagte sie in ihrem gewohnten kecken Ton: »Ich bin auf dem Schlosse nicht angemeldet, und meine Nerven haben auch[229] in Rom den Heiligenduft nicht vertragen lernen. Würde Ihre Hausfrau, Freund, mich und meine Harfe zur Nacht beherbergen wollen? Max und die Diener mögen sehen, wie sie auf dem Schlosse unterkommen.«
Pastor Blümel drückte ihr erkenntlich für diesen Vorzug die Hand, hieß den Wagen halten und Dezimus aussteigen. Er sollte zu Fuß heimkehren, der Mutter den werten Gast anmelden, die Gardenia sorgfältig mit Wasser bespritzen, aber, wie er ihm noch besonders einschärfte, von dem, was er im Wagen vernommen, kein Wort gegen irgendeinen Menschen verlauten lassen. Mit dieser Vorschrift zog Dezimus ab.
Die alte Dame lachte belustigt über die frühe Erziehung zur Beichtheimlichkeit. »Der Junge sieht danach aus, als hätte er auch ohne Ihre Mahnung den Mund gehalten,« meinte sie. »Der ist kein Karikaturenzeichner! Mein Wort darauf, er besteht Ihre Schülerprobe. Bilden Sie ihn in Gottes Namen, soweit es Ihnen bequem ist, zu Ihrem Nachfolger oder in irgendeinem ihm vielleicht gemäßeren Fach zu Ihresgleichen aus. Für die Mittel seiner späteren Lehrjahre werde ich Sorge tragen.«
Pastor Blümel dankte ablehnend für dieses Anerbieten, wie er schon vor Jahr und Tag dem General dafür gedankt hatte. Solange er lebe, wäre der Knabe, den er auf seinen Boden verpflanzt, sein Sohn. Ernte er Vaterfreude von ihm, habe er Vatersorge und väterliche Verantwortung für ihn zu tragen, er allein. Jegliche fremde Wohltat mache das Verhältnis zu einem schielenden.
»Sie sind ein weiser Tor, oder ein törichter Weiser,« versetzte das Fräulein. »Ich habe die Mittel, und Sie haben sie nicht. Aber wie Sie wollen. Man soll keinem Menschen den Genuß verkümmern, etwas Rechtes auf eigene Hand[230] durchzuführen. Für einen möglichen Todesfall, meinen oder Ihren, will ich indessen jetzt schon mit dem Justitiarius festsetzen, daß das theologische Stipendium, welches auf Werben ruht, seinerzeit zum ersten Male einem Werbenschen Bauernsohne zugute komme. Es tut keiner Weisheit Abbruch, wenn sie von einem Vater im Himmel ihren Ausgang nimmt, mag sie auch nicht allerwegs auf dieses Familienverhältnis hinauslaufen. Dem Gottesgelehrten kann späterhin immer noch ein weltliches Pfropfreis beliebig aufgesetzt werden.«
Als die vierspännige Wappenkutsche, mit dem jungen gepuderten Lakaien und der geputzten alten Zofe im Kabriolett, im Talhofe einfuhr, saß Johann Mehlborn in Hemdsärmeln und Leinenhosen auf der ominösen Bank vor seiner Tür. Er sprang in die Höhe, ging bis an das Haus, kehrte aber um, setzte sich wieder und ließ dem kuriosen Geschehnis seinen Lauf. Irgend etwas rumorte bei dem stolzen Schauspiel in seinem Blut; vielleicht der aufgestörte Bauerntrotz, vielleicht die unterbundene Magnatenader. Im Verlauf jedoch fand die alte Dame mit den rosigen Runzelwangen und den klugen Blitzaugen seinen Beifall, und auch ihr resolutes Mundwerk war nach seinem Geschmack. Als sie dem Sohne ihres väterlichen Großknechts die Hand reichte und ihn daran erinnerte, daß sie ihn zum letzten Male als pausbäckigen Posaunenengel auf seiner Mutter Arme gesehen habe, stieg eine Zähre in sein Auge, und sie würde übergelaufen sein, wenn das mobile Fräulein nicht in einem Atem auf ein weniger rührsames Thema übergesprungen wäre.
Dieses Thema war der seiner Familie bevorstehende Ersatz des Geblütsaristokraten durch einen der hohen Wissenschaft. Der Amtmann war durch seine Brigitte schon von[231] der Affäre unterrichtet; auch durch seinen Bielitzer Pastor von der Schriftgelahrtheit des Mosjö Zacharias. Seinethalben! wäre sie in ihrem Witwenstande ohne leiblichen Vater fertig geworden, werde sie in ihrem zweiten Ehebunde wohl auch noch ohne Gottessohn fertig werden. Er, Johann Mehlborn, halte es mit dem zweiten Artikel und dem vierten Gebot. Damit basta!
Als die Dame darauf ihm seinen Enkelsohn vorstellte, winkte er ihn heran, musterte ihn stillschweigend vom Kopf zur Zeh, griff dann in seine Hosentasche und schenkte ihm einen Taler.
Junker Max wurde rot und schnitt ein Gesicht wie ein verkleideter Lustspielprinz, den einer im Ernst für einen Kammerdiener hält und ihm ein Douceur anbietet. Seine Hand zuckte, als ob er dem schäbigen alten Bauer, der sein Großvater und ein Millionär war, das Geldstück vor die Füße zu werfen Lust habe. Fräulein von Werben aber sah ihn mit einem scharfen Blicke an und sagte in noch schärferem Ton: »Bedanke dich schön, Herr Neffe; es wird dir manchen Schweißtropfen kosten, ehe du den ersten Taler verdienst.«
So machte Junker Max denn eine stumme Verbeugung und steckte den Taler ein, mit dem nobelen Vorsatz, sich seiner als Biergeld an den Postillion zu entledigen.
Die Dame rückte nunmehr mit der Frage nach des Großvaters Ratschlägen und Plänen für seines Enkelsohnes Zukunft hervor. Wie zu erwarten stand, erhielt sie den Bescheid, der Junge solle lieber heute als morgen aus der Schule genommen und unter seine, des Großvaters, Schere gebrächt werden. Sobald er das feine Früchtchen zu einem richtigen Ökonomen zugestutzt, wolle er ihn als Inspektor über eines von seinen Gütern setzen. Der Junker[232] von Hartenstein wurde demnach der Erbe von des Hirtendezem glänzenden Patenaussichten!
Damit schloß die Zusammenkunft der beiden nach barlichen Gutsherrschaften. Alles in allem, und noch dazu gezählt, daß Bielitz in diesem trockenen Sommer eine weit einträglichere Ernte als Hochwerben geleistet hatte, würde der alte Erbpächter der Letzten seiner angestammten Gutsherrschaft die Wiedererwerbung ihres Vätersitzes aufrichtig gegönnt haben, insofern sie selbst anstatt der verhaßten geistlichen Hartensteine auf ihm residierte. Da sie aber morgenden Tages schon wieder außer Lands zu gehen beabsichtigte und ihre widerwärtige Sippschaft ihm vor der Nase sitzen blieb, hätte er ihr die stolze Staatsvisite lieber geschenkt und den Taler für das dicknäsige Früchtchen von Enkel nicht zum Fenster hinausgeworfen.
In noch weit höherem Maße fand die neue Herrin, daß sie sich den Umweg über das Talgut hätte sparen können, und auch der friedfertige Pastor Blümel zog unbefriedigt von dannen, da zu einer erhofften Wiederanknüpfung mit seinem ungetreuen Beichtsohne die Gelegenheit keineswegs günstig gewesen war. Seine Patronin hatte nicht ohne Absicht der Überraschung erwähnt, die sie aller Welt, also auch der Pfarrfamilie, durch den Gutskauf bereitet habe. Das aber hatte der kluge Bauer ja schon lange erspürt oder erfahren. Seine »Bosheit« auf die einstigen Freunde war von weit älterem Datum, und so blieb es auch zwischen Talgut und Pastorei bei der eingenisteten Entzweiung.
Während dieser ungemütlichen Zusammenkunft trabte Held Dezimus in höchster Beseligung heimwärts. Bild um Bild tauchte die Zauberwelt, in welcher er einen Tag lang geschwelgt hatte, vor seinen Blicken wieder auf. Dem Wunder folgte der Zweifel. Am Ende hatte er die Herrlichkeit[233] nur geträumt oder in einem Märchenbuche gelesen. Aber nein doch, nein! Er trug ja auf seinem Leibe des Sonnengottes stolzes Junkerkleid, unter dem Arme zusammengerollt seinen eigenen Bauernkittel und in der Hand die duftende Gardenia. Er war der Märchenprinz. Er hob den Kopf höher, als er ihn gestern gehoben; sein Herz klopfte stolzer, als es gestern geklopft; er sah sich gleichsam in eine neue Konstellation versetzt; funkelnde Erdenlichter schlossen eine Kette, zwischen welcher sein Stern fortan eitel lustig sich drehen werde. Dämmernd, wie es nicht nur Kindern geschieht, spürte er das Regen bisher ungeahneter Dämonen.
Hüte dich, armer, zehnter Hirtensohn! Du wirst nie in deinem Leben wieder der Held eines Märchenabenteuers sein, wirst nie wieder in einer Wappenkutsche von einem jungen Sonnengotte viere lang vom Bocke gefahren werden und einer berühmten Künstlerin zu Füßen sitzen; von den Erdenlichtern, in deren Kreise du dich eitel lustig drehen siehst, könnte manches als Irrwisch dich in einen Sumpf verlocken. Nur an den ewigen Himmelslichtern, Dezimus, an ihnen halte fest!
Da die Weinbergstür unter Verschluß gehalten wurde, hatte er nach der Überfahrt den Umweg durch das Dorf zu nehmen; vorüber an dem Hutmannshause, das heute noch wandelbarer als an dem Tage, wo er darin zur Welt gekommen, an dem Felsen klebte und von einer ebenso dürftigen Familie wie damals bewohnt wurde. Dezimus kannte seinen Ursprung, ohne ihn je als ein Leid empfunden zu haben. Noch keinmal, sooft er an dieser elenden Herberge vorübergekommen, waren ihm die Waisen eingefallen, die vor ihm unter dem nämlichen Dache dem nämlichen Blute entsprungen waren. In seinem heutigen Hochgefühl würden sie ihm noch weniger eingefallen sein.[234]
Da öffnete sich die Tür, und ein Kind in den Armen wiegend, trat das weiße Fräulein über ihre Schwelle. Er hätte ihr entgegenlaufen, ihr die bevorstehende Überraschung ankündigen mögen; allein der lange, ernsthafte Blick, mit welchem sie zu ihm hinübersah, bannte seinen Schritt. Vielleicht war es nur das bunte Junkerkleid, das sie in Verwunderung setzte; vielleicht verglich sie aber auch in ihrer nachdenklichen Art dieses durch die Liebe gerettete Kind mit dem siechen Wurm, den sie in der vorigen Minute auf der Streu sich hatte winden sehen und den sie zur Beschwichtigung in das Freie trug.
Und als ob es diesem Mädchen bestimmt sei, die verborgensten Lebenskeime in dem Knaben zu erwecken, drang sein stiller Blick ihm in das Herz. Zum ersten Male fühlte er sich gemahnt an die Brüder, die in der Welt umherirrten, vielleicht gestorben, verdorben waren, er wußte nicht, wo und wie. Es war kein Blutessehnen, das sich in ihm regte. Aber er sah sich zurückgedrängt auf seinen natürlichen Grund, und eine Aufgabe für seine Mannesjahre hatte sich angebahnt.
Der Propst, der zur nächsten Frönerhütte vorangeschritten war, winkte Lydia zu sich heran; sie legte das Kind in seiner Mutter Arm und eilte an Dezimus vorüber dem Vater nach. Von der Höhe herab flog jubelnd, mit ausgebreiteten Armen das liebe Röschen, das den verloren gegangenen Bruder im Kahne stehend erkannt hatte. Es gab einen und dann noch einen zweiten lauten, bunten Tagesschluß, in welchem Dezimus seines weißen Fräuleins still mahnenden Blick vergaß. Als er aber nach der Gutsherrin Abreise zum ersten Male wieder durch die Schlucht in das Tal hinunterstieg, stand er wie erstarrt: das Hutmannshaus war verschwunden; abgetragen bis auf den[235] Grund, die arme Frönerfamilie zeitweise in einem Nebenbau des Schlosses untergebracht.
Tag für Tag trieb es den Knaben nun hinunter an den leeren Platz, und Tag für Tag sah er etwas Neues entstehen. Der vorhängende Felsen wurde abgetragen, der gewonnene Raum geebnet, ein frischer Grund gelegt, Mauer um Mauer aufgezogen; noch vor Winters stand ein sauberes kleines Haus an Stelle des armen Nestes, in welchem er das Erdenlicht erblickt hatte. Im Laufe der Zeit wandelten, eine nach der anderen, sämtliche Frönerhütten sich in freundliche Wohnstätten um, wurde die Straße gepflastert, von Bäumen eingefaßt und so zu der nettesten im ganzen Dorfe hergestellt.
Es war nicht Fräulein Lydias frommer Liebessinn, welcher diese Umwandlung bewirkt oder auch nur angeregt hatte; es war Fräulein Thusneldas Schönheitssinn, der empört worden war, als sie bei der Auffahrt zu ihrem Väterschloß sich derartig von Verfall und Unflat umgeben sah. »Unter einem italienischen Himmel erträgt sich das allenfalls,« hatte sie zu Freund Blümel gesagt; »hier aber will ich selbst als Leiche diesen Ekelweg nicht noch einmal passieren.«
So griff sie denn tief in ihren Säckel, erhob den Ortspfarrer zu ihrem Schatzmeister, seine Gattin zu ihrer Werkführerin und spornte zur Eile. Denn wer über das siebenzigste Jahr hinaus sich noch eine Grabesstraße anlegen will, der darf nicht lange fackeln lassen.
Dezimus hatte diesen Zusammenhang bald genug erfahren. In seiner Phantasie aber schwebte das weiße Fräulein, so wie er es zum letzten Male aus seinem Geburtshause hatte treten sehen, als Engel des Trostes über der erneuerten Stätte. Und mit dem natürlichen Wege, auf welchen jener stille Blick wie ein Leitstern ihn gewiesen hatte, soll seine Knabenstufe abgeschlossen sein.[236]
Ausgewählte Ausgaben von
Stufenjahre eines Glücklichen
|
Buchempfehlung
Autobiografisches aus dem besonderen Verhältnis der Autorin zu Franz Grillparzer, der sie vor ihrem großen Erfolg immerwieder zum weiteren Schreiben ermutigt hatte.
40 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro