[299] Der Morgen dämmerte, die Mettenglocken läuteten. Zitternd und schwankend vollbrachte der gekränkte Vater seinen sonntägigen Pilgergang. Heimgekehrt von Sophiens Grabe, schrieb er den folgenden Brief:
»Wenn ich mich an Dir vergangen habe, mein Sohn, einst in unväterlicher Säumnis und jüngst in unväterlichem Zorn, so habe ich dafür gebüßt in dieser Nacht, da ich Deine Flucht erfuhr. Vergib mir, Joseph, wie ich Dir vergebe, und wie Gott, der Herr, Dir und mir vergeben möge. Ja, ich vergebe Dir, flehe Dich an, beschwöre Dich nur um eines: rette Ehre und Frieden Dir selber, mir und Deiner angelobten Braut. Fühlst Du Dich noch zu jung, um Dich fürs Leben zu binden, hegst Du das Verlangen, die Welt zu sehn, reise so lange und so weit Dich gelüstet, aber versprich heimzukehren und halte Wort. Weißt Du einen ehrbaren Beruf, der Deinen Neigungen besser zusagt als der Deiner schlichten Vorfahren, so ergreife ihn, aber halte ihn fest. Zähle in allem auf den Beistand Deines Vaters, spare ihm kein Opfer, Du bist sein einziges Kind. Nur spare ihm und Dir selbst die Schmach des Verrats und unauslöschlicher Sünde.«
Und sechs Monate später schrieb er noch einmal:[299]
»Joseph, Du hast die Hand, welche der Vater Dir bot, nicht ergriffen, sein flehendes Wort nicht erwidert. Heute spreche ich das letzte. Es ist der Sterbetag Deiner Mutter. Ich habe ihr in meinem Herzen gelobt, für Dich einzutreten und Dich höher zu halten als mich selbst. Dieses Gelöbnis werde ich erfüllen. Vom heutigen Tage an warte ich sechs Monate bis zu der Stunde, wo Deine Flucht jährig wird, auf Deine Heimkehr oder ein Geständnis Deiner Reue. Warte ich vergebens, so ist mein Entschluß gefaßt, ich tue meine Pflicht. Nicht vermag ich der armen, beschimpften Braut den Gatten zu geben, der sie schützt und liebt bis ans Ende seiner Tage. Aber einen Vater und ein Vaterhaus habe ich ihr versprochen, und einen Vater und ein Vaterhaus wird sie finden. Noch einmal: Schreibst Du nicht binnen heute und sechs Monden, so wird Magdalenens Mutter mein Weib und Magdalene meine Tochter vor Gott und der Welt. Nun wähle, Joseph; zuvor aber höre: Du kennst die angstvollen Abschiedsworte Deiner seligen Mutter; Du weißt, daß sie flehte: ›Nur nicht die Eine, nur die Eine nicht!‹ Nun wohl, diese Eine, vor der ihr bangte in ihrer Todesstunde, um Deinetwillen, Joseph, bangte, diese Eine ist keine andere als die Frau, die ich nun dennoch zu Deiner zweiten Mutter machen werde. Gott ist mein Zeuge, Joseph, ich tue diesen Schritt für Dich, nicht für mich. Um, soviel an mir ist, Dein Unrecht zu sühnen, um im Geiste Deiner Mutter zu handeln, verletze ich das Wort, das sie sterbend von mir forderte, das ich in der Stille meines Herzens ihr ins Jenseits mit hinübergegeben habe. Mein Herz möchte brechen unter der Last dieser Pflicht. Erspare sie mir, mein Sohn; kehre um, kehre heim, gib uns allen den Frieden wieder, den auch[300] Du, ja Du zumeist, nicht mehr Dein eigen nennen wirst.«
Diese beiden Briefe, heute noch wohlerhalten und ein teurer Familienschatz, sind der Höhepunkt in David Hallers Leben. Was zwischen ihnen lag, durfte ich übergehn. Ohne meine Schilderung, Leser, sahst du Lenchens blasse Wangen und ihrer Mutter rotverweinte Augen, hörtest die Trostworte und Stichelreden teilnehmender Freunde und maltest den Aufruhr in der Bürgerschaft über diesen nie dagewesenen Fall dir aus. Ohne meine Versicherung wußtest du aber auch, daß der umsichtige Vater keinen Weg unbeschritten gelassen hat, um eine zuverlässige Kunde über den Geflüchteten zu erhalten. Seine Reisen führten zu keinem Ziel; den Briefen folgte keine Antwort, und nur auf indirektem Wege erlangte er endlich eine Auskunft, welche die letzte Hoffnung vernichtete.
So tat denn David Haller den Schritt, durch welchen er des Sohnes Untreue zu sühnen glaubte; er tat ihn mit freudiger Ruhe um Gottes willen. Am zweiten Christtage wurde die Frau seine Gattin, deren Besitz er einst seinem Vater geopfert hatte, und das Mädchen seine Tochter, dem er um seines Sohnes willen entsagt.
Und damit wäre ich denn an dem Punkte angelangt, auf den ich schon einmal gedeutet habe als meiner Geschichte goldenen Schnitt. Von welcher Seite ich mir diesen Punkt betrachte, da funkelt er wie im Sonnenstrahl. Wäre meine Geschichte ein Roman, bei dieser zweiten Hochzeit müßte sie enden, da sie aber meines Urgroßvaters Leben schildern soll, habe ich ihr noch ein Kapitel zuzufügen.
Im Hallerschen Hause begann nun wieder ein Treiben wie nach dem ersten Ehebunde; die Stiefkinder wurden[301] erzogen und versorgt wie einst die Geschwister, Haus und Geschäft nach den früheren Grundsätzen geführt; Sophiens feiner, stiller Sinn, nachwirkend durch ihren Gatten, blieb beider dauernder Regulator, denn niemals hat eine Hausfrau ihrem Eheherrn mit freudigerem Gehorsam gedient als Christiane ihrem David.
Und auch Lenchen lebte wieder auf, da des Vaters Fürsorge ihr den Wechsel von Tätigkeit und Zerstreuung gewährte, deren sie zum Wohlsein bedurfte. Sie lernte wieder plaudern und lachen, sie tanzte mit den jungen Bürgersöhnen beim großen Vogelschießen und mancher anderen frohen Gelegenheit, und an Freiern hat es der schönen Stieftochter des reichen Haller, dessen einziger Sohn in der Fremde verschollen war, wahrhaftig nicht gefehlt. Für keinen aber hatte sie ein Herz. Sie nannte den Namen des Jünglings nicht wieder, dem sie ihre Treue bis zum Tode verlobt hatte, aber sie bewahrte diese Treue, und im heimlichen Seelenkämmerlein, da, wo die Hoffnung wohnt, blieb sie des verlorenen Joseph Braut.
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Die Geschichte meines Urgroßvaters
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