[130] So war es denn Tag geworden über der dunklen Tat, Tag für die Unschuld, und Mitleid mit Abscheu, Blutesliebe[130] mit Weibesliebe, Sieg mit Vernichtung rangen in des erschütterten Mädchens Brust.
»Lebt er noch, Judith?« fragte jener scheu und leise. – Sie neigte schweigend den Kopf. – »Gott sei gelobt!« rief er, sich in die Höhe richtend und schon wieder gefaßt, ja hoffnungsvoll um sich blickend. – »Im Kerker, August!« mahnte die Schwester. »Zehn Jahre im Kerker. Auf dein Gewissen, zehn Jahre von einem Menschenleben, zu jenem andern Leben, das –.« – »Er wird noch gute Tage sehen«, unterbrach er sie, indem er mit hastigen Schritten im Zimmer auf und nieder ging. »Er wird frei werden, er ist unschuldig. Ich, ich bin der Elende, mein Leben ist vergiftet. Weißt du, was Blut ist, Judith? Gift ist es, Gift! Das klebt, das ätzt, das sengt, das löscht kein Tropfen. Laudanum, sagen sie, Laudanum scheucht das Gespenst. Glaub's nicht, Schwester, glaube es nicht. Ja, es ruht, aber es wacht auf, es schleicht, es springt, hui! Es ist da!« – »Unglücklicher!« murmelte Judith bewegt.
»Ich wußte es nicht, Schwester,« sagte er, je mehr und mehr geläufig, »das von dem Simon meine ich. Erst vor drei Monaten erfuhr ich's durch den Löbbeke aus Nammen. Es geht dem Löbbeke schlecht, Dithel, herzlich schlecht. Warum blieb er nicht hüben, der dumme Narr. Allzu gerieben wir drüben für solchen Schlag; Pfeffer und Salz im Schädel und von Gemüt nicht die Spur. Mir ist's geglückt, Dithel. Nicht in der Südsee, – tolle Zumutung, Dithel, dein Botany-Bay. Gottlob, daß ich ihm echappiert! – aber drüben herum in Ost und West. Musik gemacht, Gold gegraben, Stuben gemalt, den Doktor gespielt, Vorlesungen, Erbauungsstunden, Tischrücken, Geisterklopfen, ein flottes Leben, Dithel, nur – nur –.« –[131] »Nur der Wurm im Herzen!« fiel Judith ein mit bitterem Klang. – »Ich tat es nicht mit Absicht. Gewiß, gewiß nicht mit Absicht; aus Zufall, Schwester, aus Versehn –!« – »Ein Messer in der Hand, ein Zufall? Unter freiem Himmel ein Messer in eines Freundes Brust, ein Versehn?« – »Das Messer, ja, ja, das Messer, – ich hatte, – ich wollte, – die Hitze, der Ärger –! – Aber die Mutter, die arme, alte Mutter, wann ist sie gestorben, Dithel?« – »Diesen Morgen, in schweren Gebresten. Ihr letztes Gesicht war ihr Sohn, – der Mörder; ihr letzter Segen für den unschuldigen Büßer.« – »Ich ahnete es nicht, Schwester; straf mich Gott, ich ahnete es nicht. Erst durch den Löbbeke aus Nammen. Auf der Flucht, während der Fahrt – wenn der Verdacht auf ihn fiele? dachte ich wohl. Aber Unsinn, Unsinn! Ein Wort, und er ist rein. Wessen war das Messer, wessen der Stock?« – »Ein Messer und ein Stock wie tausend andere. Sie mochten des Müllers sein, ich selber habe sie für des Müllers genommen.« – »Und wenn auch Messer und Stock, aber die Tasche –.« – »Die Tasche, welche Tasche?« schrie Judith auf, von einem neuen, grellen Lichte geblendet. – »Nein, nein, nichts von einer Tasche! Ich meine – der Trunk, der Streit, der –.«
Er sprang auf einen andern Gegenstand über, auf seinen Sohn. Er pries sein Ansehn, das ihn an seine selige Schöne gemahnte. Tränen stiegen ihm in die Augen; er dankte der Schwester mit bewegten Worten für alles, was sie für die Waise getan; er baute Luftschlösser für ihre Zukunft. Seine bösen Erinnerungen waren eingeschlummert, und Judith mußte sich überwinden, sie mit Hartnäckigkeit wieder aufzurütteln, den erschütternden Auftritt[132] von Simons Verhaftung und Selbstbeschuldigung ihm vor Augen zu führen. Sein erregbarer Sinn blieb nicht unempfänglich selber für der Darstellerin knappe, gepreßte Art, die der seinigen so ungleich war. Unter den lebhaftesten Ausbrüchen der Verzweiflung raste er im Zimmer umher, erging sich in begeisterten Ergüssen über das, was er nicht anders als ein Freundschaftsopfer erfaßte. »Herz ohnegleichen!« rief er aus, »Simon, herrliche Edeltanne! Du sollst nicht gefällt werden, nicht im Schatten des Dickichts verkümmern! Frei und hoch wird deine Krone ragen über alle, alle! Ein armer Sünder, für den du eingetreten,« er schlug mit der geballten Faust gegen seine Brust, »aber,« den Kopf stolz in den Nacken werfend, »aber ein Mann, ein Mann wie du! Kaum hört er von deinem Opfer, zehn Jahre zu spät, weh' ihm. Hinüber! ruft er, hinüber! Heute noch, diese Stunde! O, ihr blöden Richter, schwachherzige Pedanten, so handelt ein Freund, so handeln Freunde! Kein Neugebornes war schuldloser als dieser Mann, – ich, ich bin der Mörder!«
»Das wolltest du, Bruder? Dich freiwillig stellen, August?« rief Judith zweifelnd und doch mit glänzenden Augen. – »Ich wollte es, bei Gott! Noch am selbigen Abend wollte ich hinüber!« – »Und – du willst es noch?« – Die Antwort verzögerte sich etliche Sekunden; die gedämpfte Stimmung, in der sie gegeben ward, steigerte sich indessen im Verlauf wenn nicht zu dem früheren Schwunge, so doch zu einer gleichen Lebhaftigkeit. – »Es war keine Schiffsgelegenheit an dem Tage, Dithel, auch am nächsten und übernächsten nicht. Ich hatte Zeit zur Überlegung. Eine Idee schoß mir durch den Kopf, neu, einzig, noch[133] nicht dagewesen. Ich malte das Schaubild, entwarf die Geschichte, brachte sie in Verse, setzte sie in Musik, berechnet, zugestutzt für das Volk, versteht sich, aber gelungen, Dithel, ich sage dir, gelungen. Das Gewitter kam dazwischen. Bild und Texte sind zerstört. Wir müssen auf ein neues spekulieren. Es sollte nicht sein. Ich bin Fatalist, Judith, das heißt, ich bestehe nicht auf meinem Kopf, wenn das Schicksal mir in die Quere tritt. Hätte ich die Erzählung vollenden, nur beginnen können, – es blieb beim Titel leider, aber schon der Titel wie das Bild lockten gewaltig, – der Bezug wäre mit Händen gegriffen worden. ›Der Simon!‹ hätte man geschrieen, ›Simon der Quellenfinder unschuldig, freiwillig büßend für eines andern Missetat!‹ Ort und Stunde dazu: Jubilatemarkt, der zehnte Jahrestag, – alles wohlberechnet, fein ausgetüftelt, Dithel! – Der Rumor wäre unwiderstehlich geworden. Der Täter galt für tot, – eine Seeschlange hatte ihn verschlungen laut Bild und Text. Der Erzähler war längst wieder fort zu Schiff. Die Behörden hätten eine neue Untersuchung angestellt, Simon die Wahrheit zugestanden –.«
»Hätte Simon die Wahrheit gestehen wollen, er brauchte nicht auf deine Narreteidinge zu warten«, unterbrach ihn die entrüstete Schwester. – Die Wirkung dieses Einwandes war die unerwartetste, sie hatte den erfinderischen Retter urplötzlich abgekühlt. »Warum tat er es nicht?« versetzte er, den Kopf übermütig in den Nacken werfend. »Warum gestand er die Wahrheit nicht? Der Täter war verschollen, verkommen, Gott weiß! Jedenfalls in Sicherheit. Ihm schadete er nicht, wenn er sagte: ›Jener tat's!‹ Ihm nützte es nicht, daß er sprach: ›Ich[134] tat's im Rausch!‹ oder so ungefähr. Unsinn, Narrheit, Schwärmerei, deutsch, damned dutch, ein Schwabenstreich, Romanenheldentum! Warum tat er es?« – Judith schwieg, empört bis ins Mark. Und dennoch auch sie, und sie am allerwenigsten konnte diese Frage von sich weisen. Warum tat er es? Verdiente dieser Mensch dieses Opfer? Und was nützte es ihm, daß er es brachte, oder was schadete es ihm, hätte er es nicht gebracht? Er war kein Schwärmer, kein Romanenheld, er war eine innige, sanfte, besonnene Natur. Schwach vielleicht, aber dann ja um so weniger –! – Warum tat er es? – Sie setzte sich an das Fenster, vergrub den Kopf in die Hände und merkte nur noch mit halbem Ohr auf des Bruders irrlichternde Sprünge.
»Warum tat er es?« wiederholte derselbe, »und warum glaubte man ihm? Es lag kein Grund zutage für seine Tat, nicht Rache, Neid, – oder – oder sonst eine wilde Begier. Er mied den Streit und scheute vor Blut. Er war keines Menschen Feind. Den – den Müller kannte er kaum, hatte zum ersten Male in jener Nacht seine Schwelle betreten, und dieser Besuch selber, nicht eine Seele wußte darum. Hinten in der Kammer am Wasser hatten sie gesessen alle drei, kein menschliches Auge sie gesehen. Sie hatten getrunken, es ist wahr, und er war berauscht. Warum nicht? Es war nicht der erste Rausch, in dem man ihn gesehen, und er hatte keinen zornigen Rausch, wie der Müller, der, notabene, keinen hatte an diesem Tag. Er wurde weiß, still, traurig, wenn er trank. Jeder wußte es. Er ist neben der Leiche gefunden worden, bleich, struppig, starr und steif, mit allen Anzeichen der Seelenangst; aber er brauchte nur zu sagen: ›Der Müller[135] hat mich den Damm hinabgestoßen, als ich die Ringenden auseinander reißen wollte. Ich lag betäubt, erwachte erst diesen Augenblick; was Wunder, sieht man mich verstört vor dem Entsetzlichen, das ich nicht geahnt? Das Messer, das ich aus seiner Brust gezogen, ist es mein Messer etwa? Nein, des andern, ich kenne es; brauchte ich einen Reisestock mit bleiernem Knopf, brauchte ihn der Müller? – Nein, der andere; seht, meine Taschen sind leer, das Geld –!‹« – Der Mensch hatte sich wie ein Advokat in einen fremden Kriminalfall hineingeredet, der zu ihm selber nicht in der entferntesten Beziehung stand. Vor dem letzten Argumente stockte er; eine Blutwoge streifte über sein Gesicht, er atmete jach auf, riß mit der Faust an den Brustklappen seines Rockes und stand ein paar Minuten wie gebannt. Dann hob er seine Wanderung durch das Zimmer wieder an und begann endlich von neuem in verändertem Tone, mit glühendem, persönlichem Eifer, so als ob er eine Heldentat im Schilde führe: »Ich komme, Freund, ich bin da! Ehe diese Woche zu Ende läuft, bist du frei. Wärst du der erste Gefangene, der hinter Mauern und Riegeln entkommen? Kinderspiel das! Ich kenne Schliche und Kniffe, tausend derlei Geschichten habe ich gelesen, gehört. Noch gestern auf dem Markt das Bild neben meinem Stand, haarsträubend, aber wahr, wahr! Vierzehn Eideshelfer gegen den Nonnenschänder, die höchste Wette harrt, die Wyd, die Freischöffen speien aus vor ihm – und doch entkommt er noch. Freilich, er wird wieder eingefangen, aber gab es Dampfschiffe und Eisenbahnen zu Femezeiten? Ich befreie dich, Simon, wir fliehen. Fort für immer aus diesem dummen, faulen Land. Du kommst uns nach, Dithel, und mein[136] Sylv, mein Sylv! Die Mutter ist tot, du verkaufst die Klus; auch der Simon ist arm: sein Quellenblick ein unschätzbares Kapital. Eine Waldnatur, – als Knabe schon, hinüber, Simon, hinüber! Nennt ihr das Wälder hierzuland? Liliputen, verkümmerte Zwerge, erbärmliche Halme eure Eichen; jenseits, schau, schau, das ist Wald! Und die Schachte drüben! Kohlen für Millionen Jahre, Eisen und Gold, ja Gold! In das Goldland, Dithel! Ein Krösus wird er, ein Nabob! Und du, Dithel, er hat dich liebgehabt vom Buben ab: ›Ich werde sie ewig lieben!‹ sagte er noch in der letzten Nacht und weinte dazu, und, und –.« – »Genug des Irrsinns!« unterbrach ihn Judith mit so scharfem Gebot, daß in der Tat der unerschöpfliche Fluß ins Stocken geriet.
Er langte ein Buch von dem Regal, setzte sich auf den Rand seines Bettes und blätterte. Keines sprach ein Wort eine lange Pause hindurch. Plötzlich schreckte er in die Höhe, das Buch entfiel ihm, denn eine eiskalte Hand hatte in die seinige gegriffen, und die Schwester stand vor ihm leichenblaß, mit unerschütterlichem Blicke sich in den seinen bohrend. »Wirst du deine Missetat bekennen, August?« fragte sie, »einfach, öffentlich, vor Gericht und Zeugen?« – Er las einen drohenden Entschluß in ihren Zügen und sank zitternd auf das Bett zurück. Dennoch faßte er sich noch einmal und sagte entschieden, indem er nach seiner Weise den Kopf übermütig in den Nacken warf: »Die Tat bekennen, mich selber ans Messer liefern? Nimmermehr!« – »So tue ich es«, versetzte sie mit eisiger Ruhe. »Du bist ein Gefangener in diesem Zimmer, bis die Gerichte dich abholen werden.«
Er kannte seine Schwester, er wußte, daß sie nie ein[137] Wort gesprochen als in wohlbedachtem Ernst. Todesschauer überrieselten ihn, er stürzte zu ihren Füßen und umklammerte ihre Kniee. »Deinen Bruder angeben!« schrie er, »aufs Schafott bringen deiner Mutter Sohn!« – Auch Judith schauderte. Doch sagte sie gefaßt und mit milderem Klang, als er an ihr gewohnt: »Strafe sühnt, August; was du hienieden büßest, wird dir jenseits angerechnet werden. Und nicht mit dem Leben wirst du die Untat zu büßen haben. Jahre sind über sie hingegangen, sie wurde im Eifer verübt, ohne Vorbedacht. Du bist freiwillig zur Rechtfertigung eines Freundes zurückgekehrt. Der Schuldige wird die Zelle betreten, die der Schuldlose verläßt.« – Der unglückliche Mensch wand sich am Boden wie ein Wurm; einzeln, wimmernd rangen sich die Worte aus seiner Brust, zum erstenmal zeigte seine Stimmung den Ausdruck wahrhaftiger Seelenqual. »Und die Schmach, die Schande,« ächzte er; »der Rausch entschuldigt – ein Mord schändet nicht – aber ein Raub – ein Dieb –.« – »Ein Dieb?« fuhr Judith auf. »Wer sagt ein Dieb? Wer ist ein Dieb?«
»Ich, Dithel, ich«, stöhnte er in aufrichtiger Armensünderangst und doch mit einem fast kindischen Ausdruck der Hoffnung, als ob das Schandgeständnis ihn retten müsse. »Ich, ich raubte ihm das Geld, mein Geld, dein Geld, Schwester, das er mir im Spiele wieder abgewonnen. Nun weißt du es, Dithel, nun höre, wie es kam. Der Simon wartete auf mich in der Mühle zum Abschied. Wir saßen in der Kammer hinten am Wasser alle drei. Der Müller braute einen Grog. Er vertrug ihn stark wie keiner; heißer, purer Kognak, Dithel. Von dir sprach er, als hätte er dich im Sack. Von Hochzeit und Wirtschaft[138] sprach er. Der Simon saß stumm wie ein Geist, wollte erst nicht trinken, dann trank er doch. Auf dein Wohl ein Glas, Dithel, auf meines und dann weiter in der Verzweiflung mehr als wir beide zusammen. Ich wußte, wie ihm zumute war, er dauerte mich. Aber du hättest ihn doch nicht genommen, Dithel, einen Fremden, der Gnadenbrot auf der Klus genossen, und gegen deine anderen Freier einen armen Teufel mit seiner Waldhütte und den paar Stücken elende Rodung. Ich hielt's mit dem andern, Dithel, mit dem Reichen, du weißt es ja; du wärst mit ihm fertig geworden, und ich hatte einen Anhalt, wenn ich wiederkam. Denn ans Wiederkommen dachte ich lange, ehe ich ging. Ich stimmte ihm zu, ich munterte ihn auf; wir stießen auf Schwägerschaft an, und der Simon goß ein Glas nach dem andern in den Leib, als ob er seine Ohren totzusaufen gedächte. Der Müller brachte die Würfel, ohne die es in der Mühle nicht abging. Der Simon wollte mich abhalten, seine Hand zitterte, seine Stimme lallte nur noch. ›Um den Ring!‹ sagte der Müller. Er meinte den Trauring der sächsischen Muhme, den du mir zum Andenken in der Fremde angesteckt, Dithel. Seinen Verlobungsring nannte er ihn. Er hielt ein Goldstück dagegen. Der Simon stöberte nach einem Satz; seine Tasche war leer.
Hin war der Ring. Ich hatte Blut geleckt; weiter, weiter, Stück für Stück von dem, was ich eben in Empfang genommen! Zuletzt noch die Tasche. Alles hin! Zum ersten Male blickte ich auf. Ich war allein mit dem Müller, der Simon fort, ohne daß ich's gemerkt. Jetzt meine Angst. Ich flehte den Müller um Hülfe, er lachte mich aus. Ich wollte eine Verschreibung ausstellen, er[139] höhnte noch lauter. Die Uhr schlägt drei. ›Es ist Zeit,‹ sagt er, ›komm!‹ streicht das Geld in meine Katze, steckt noch von dem seinigen dazu und schnallt sie um. Was er im Schilde führte, Gott weiß. Die Reise mit dir machen, Dithel, im letzten Augenblicke dein Jawort erkaufen. Einen Plan hatte er gewiß. Er ging voran, ich folgte ihm wie ein totgeschossener Mann. Ich wollte fort, ich mußte fort; ich fürchtete mich vor dem Turm und vor dir, Dithel, vor dir, nach dem, was ich zu guter Letzt noch eingebrockt; ich wußte meinem Leibe keinen Rat. Ich flehte, ich versprach; ich bedrohte ihn um betrügerisches Spiel und böswilligen Vorbedacht. Sein eiskalter Spott machte mich toll. Wir standen auf dem Querwege über dem Damm; von dem Bahnhofe herüber regte sich's. Ich stürzte ihm zu Füßen, ich betete ihn schier an; ich war außer mir. Kein Erbarmen. Der Teufel kam über mich. Es gibt einen Teufel, einen Teufel leibhaftig, glaub's, Dithel, glaub's. Er stand hinter mir, er blies mir ein, zerrte mich in die Höh, stieß mich vorwärts, gab mir Kraft, mir, dem Rohr gegen den hagebüchenen Klotz. Wie ein Strauchräuber stürzte ich über ihn und forderte das Geld mit Gewalt. Schon halte ich die Katze aufgehenkelt in meiner Hand, nur der Riemen hat sich in einem Rockknopf festgenestelt, ich greife nach meinem Messer, den Riemen loszuschneiden. In dem Augenblick springt der Simon aus den Weiden zu uns herauf. Wie er dahin gekommen, weiß Gott. Er wirft sich zwischen uns. Aber der Rausch, der Rausch, der noch nicht verflogen! Er taumelt, ein Stoß, und er prallt den Abhang hinunter, reißt den Müller, den er gepackt, im Sturze zu Boden. Ich habe Luft, ein Schnitt, die Tasche ist in meiner Hand. Er in die Höh, und über mich her[140] wie ein Rasender. Ein Faustschlag mir ins Auge, hin ist's, hin! – Der Schmerz, die Wut – das Messer steckt in seiner Brust. Noch einmal wirft er sich über mich, ein Hieb über seinen Kopf – und fort, fort!«
»Darf ich das bekennen, Schwester?« fragte der Unglückliche nach einem schweren Atemzug. »Deines Vaters Sohn ein Straßenräuber, deines Pfleglings Vater ein Mörder und Dieb? Bekennen vor Amt und Zeugen? Das Märchen vom Schattenriß, den der scheidende Bruder dem reichen Bewerber verweigert und dem armen mit seinem Segen zum Andenken verehrt, der Sang von Liebe und Eifersucht, den ich zurechtgestutzt, herzbeweglich für gemeines Volk, aber vor Gericht und Zeugen – Unsinn! Die Kreuz- und Querfragen, Dithel; das Gurtende am Knopfloch, über das man sich so schwer zur Ruhe gegeben! Den Simon traf kein Verdacht der Beraubung; er hatte den Platz nicht verlassen und keinen Pfennig in der Tasche. Aber ich, verschrieen als Spieler, die Nacht außer dem Hause, im Augenblicke der Flucht – der geständige Mörder ist entlarvt, ein Dieb.«
Das Geständnis war zu Ende; wahr, klar, anschaulich, unter dem Zeugnis der Seelenangst des Bekenners, der sich nicht von seinen Knieen erhoben und schwerlich im Leben in so einfältiglicher Weise geredet hatte. Aber Judith, die Ehrenstolze, Ehrenreine, saß noch lange wie von einem Keulenschlage betäubt. Den Argwohn des Mordes hatte sie im Laufe der Jahre ertragen lernen, er war von dem geliebten Manne auf den nächsten im Blut zurückgewichen, ja zurück. Aber ein Dieb! Wahrheit die heimliche Ahnung, die sie nimmer auszudenken gewagt! Zu dem Verbrechen die Schande über ihrer Väter Haus![141] Zu viel, zu viel! – Und dennoch! – »Es muß sein«, sagte sie, sich erhebend, mit Todeskälte.
Die letzte Hoffnung war dem Elenden geschwunden. »Du willst, du willst?« schrie er auf und klammerte sich an ihre Kleider, als ob er sie gleich jetzt von dem verräterischen Schritte zurückhalten müsse. »Ich bin dein Bruder, Judith, dein einziger Bruder. Du kannst einen Liebsten haben, kannst Mann und Kinder haben, aber einen Bruder nimmer! Willst du deinen Bruder anklagen, Rabenherz?« – »Es muß sein«, sagte Judith wie vorhin. – Er ließ das Gesicht auf den Boden sinken und lag eine Weile ohne Zeichen des Lebens. Jählings aber zuckt es wie elektrische Schläge durch den Leib des Zitteraals. Die Schwester fürchtet einen Rückfall seiner Krämpfe. Nein, er springt in die Höhe, katzengeschwind ist er an der Türe, er will entfliehn. Judith reißt ihn zurück, schleudert ihn zu Boden, schließt und zieht den Schlüssel ab, steht vor der Tür, ein unerbittlicher Posten. – Wieder eine Pause ohne Maß, für sie wie für ihn. Er liegt, sie steht, regungslos. Und siehe da, noch einmal richtet er sich in die Höhe, streckt sich so lang er vermag, wirft den Kopf in den Nacken, ein umgewandelter Mann; kein Zug der vorigen Zerknirschung, er lacht, ja er lacht!
»Wohl bekomm's Ihnen, Madame«, sagt er höhnend. »Ich gönne Ihnen dieses Heldentum. Ich heiße James Brown. Was schiert mich der Frobelgust vom Klushof? Er ist umgekommen im Schiffbruch, ich war dabei, ich beschwör's, ich, James Brown aus Massachusetts, United States. Was schiert mich der Klushof und seine Ehre. Sperren Sie mich ein, Madame. Lassen Sie mich arretieren, rekognoszieren, wie es Ihnen beliebt. Findet jemand[142] eine Ähnlichkeit zwischen Mister Brown aus Massachusetts und dem August Frobel, der vor zehn Jahren von dem Klushofe verschwand? Hatte der Frobel ein Hinkebein, hatte er einen Kahlkopf, nur ein Auge etwa? Der, den ich, James Brown, als August Frobel auf dem Schiffe gekannt, ich, James Brown, der war ein schmucker Lockenkopf, heil vom Wirbel bis zur Zehe und zwei Augen, klar wie die einer Forelle. Zeugnis gegen Zeugnis, meine Herren Richter. Ein Frauenzimmer, das seinen alten Liebsten in Freiheit haben will, gegen den Bürger eines freien Staats und seinen rechtsgültigen Paß, visiert von Gesandten und Konsuln Ihres eignen Königreichs. Verurteilen Sie den August Frobel in contumaciam zu Kerker und Schwert, als Mörder, als Dieb, nach Ihrem Ermessen, meine Herren. Mister James Brown empfiehlt sich, er reist auf dem Kontinent, auf den Inseln in seinem Vaterlande drüben, wo es ihm beliebt. Salve!« – Er hob nach dieser Rede das Buch vom Boden auf, setzte sich ruhig auf den Tisch und begann zu lesen. Judith stand wie eine Säule mit vor Wut zusammengeschnürter Brust, die Lippen blutend unter dem scharfen Kniff ihrer Zähne, minuten-, stundenlang, sie wußte es nicht.
»Interessante Lektüre, wie es scheint«, erweckte sie endlich des Fremden Stimme. »Ritter Kunz von Dortmund oder der Femwrogige, ein Roman; kennen Sie ihn, Madame?« – Das Maß war voll. »Femwrogiger Schandbube!« schrie sie mit einem Haß, wie sie ihn im Leben noch nicht empfunden, indem sie das Buch aus seinen Händen schlug. »Nicht daß du's tatest, gichtmundiger Gesell, aber bekennen und leugnen in einem Atemzug, Possen reißen, Lotterschriften lesen, während ein anderer –.« – Sie konnte[143] nicht weiter, die Brust drohte ihr zu springen; sie stürzte zum Fenster und riß es auf, ringend um Atem und Luft. In diesem Augenblicke wurde das Hoftor geöffnet, ihre Leute ohne Zweifel, die zurückkehrten. Sie verließ das Zimmer, dessen Tür sie hinter sich verschloß.
Ausgewählte Ausgaben von
Judith, die Kluswirtin
|
Buchempfehlung
Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro