X

[171] O Wanderstecken, du Aaronsstab, der für die Rotte der Murrer den stillenden Born aus dem Felsen schlägt! Wie vor dem freien Strom der Luft alles heimliche Ungeziefer flüchtet, wie die Brust sich hebt und dehnt.

Zum ersten Male sah und hörte ich das Meer, glitt ich inmitten der beiden Elemente, die uns ein dichterisches Bild der Unendlichkeit geben, der Unendlichkeit, an deren Wesen der Gedanke zum Narren wird. Das Treiben auf dem Schiff, im Hafen, alles war mir neu, und danach das Fußfassen auf diesem gesegneten Erdenfleck im Ozean.

Ich kannte außer meiner Heimat nur den unwirtlichsten Teil des deutschen Nordens und die kulturelle Trübsal mit dem Sklavenmüßiggang von Polen, gegen welche mein vaterländischer Grund, trotz seiner wurmenden Versäumnis, sich mir bei jeder Heimkehr wie ein blühendes Gartenbeet abgehoben hatte. Nun betrat ich diesen Inselboden mit seiner hochentwickelten Anbauung und Industrie, mit[171] einem Bürgertum, das in stolzer Freiheit um die Weltherrschaft ringt. Welch eine Lust für den Mann, welcher, als Freund, der Natur in die Hand zu arbeiten trachtet, für den Mann, welcher, als Freund, der Menschheit seine Handbreit Scholle um ein Bruchteil lebenspendender, als er sie betreten, hinterlassen möchte; diese Straßen und Kanäle, diese geschonten Parks und Triften, welche Lust für den Forstwirt der armen Heide.

Gott sei Dank, daß es für den Mann noch Pflichten und Genüsse gibt über denen des Ehegatten und Familienvaters, eine Welt außerhalb seiner vier Pfähle und des sogenannten Gemüts! In dem freien Bewegungsrecht, darin liegt das seiner Erstgeburt vor dem häuslich beschränkten Weibe. Seltsam, daß ich innerhalb dieser beengenden vier Pfähle doch niemals einer weiblichen Kalmäusernatur begegnet war, wie der männlichen in der Freiheit doch so mancher! Diese contradictio in adjecto fiel mir jedoch nicht ein. Ich hätte lachen mögen über den moralischen Topfgucker und Stubenhocker, der ich geworden war; als welch ein weitherziger Gesell dachte ich in meine Heimat zurückzukehren, welche neuen Aufgaben würde ich erfassen; wie freute ich mich, die Episteln, die ich bei jeder Schiffsgelegenheit meinem herzigen Frauchen in seine Einsamkeit sandte, nachzulesen und Blatt für Blatt zu einem buntheiteren Bilderbuche zusammenzufassen.

Daß des Frauchens pattes de mouche um so seltener und kürzer gefaßt waren, kümmerte mich nicht. »Das Kind gedeiht – es lallt – es hat einen Zahn – es läuft – es ist ein Engelchen, und ich bin so glücklich,« viel mehr enthielten Loris Briefe nicht. Aber war das nicht auch genug? Von dem gehaßten, gefürchteten Nebenbuhler keine Rede,[172] kein Gedanke an ihn in mir, nur der weise, großherzige Fürst und Gönner lebte in meiner Seele.

Und dieses Wohlgefühl unter einem sprudelnden Lebensborn währte nahezu zwei Jahr, um dann jäh durch einen sengenden Strahl vernichtet zu werden – auf ewig.

Ich weilte im schottischen Hochlande, als der Strahl niederfuhr. Ein veraltetes Zeitungsblatt, zufällig mir in die Hände fallend, enthielt die Kunde von dem Tode des Herzogs, dem raschen Tode seines Geschlechts. Tausende und Abertausende hat diese Kunde getroffen wie die des persönlichsten Verlustes, wie das Verschütten eines kaum erschlossenen Segenquells. Mich, – nein, ich übertreibe nicht, – mich hat sie getroffen wie ein verübter Mord mit allen Qualen eines eingeschläferten Gewissens. Wehe dem Schuldigen, welcher die Knie des Wohltäters, den er gehaßt, nicht mehr reumütig umfassen kann! O, Tod, Tod! du Erleuchter, du Verklärer! Flügel hätte ich mir anheften mögen, um dort zu sein, wo Er nicht mehr war, und mußte wochenlang warten, die Gelegenheiten abpassen, mich im Sturme verschlagen, durch Sandwellen schleifen lassen, bevor ich meine trauernde Heimstatt erreichte.

Ich hatte eine rückkehrende Stafette benutzt, welche den Regimentswechsel verschiedenen kleinen Höfen offiziell kundgetan und mich überholte, um meiner Frau Tag und Stunde wissen zu lassen, an welchen sie, bei gutem Reiseglück, mich erwarten durfte; und zu berechneter Zeit hielt denn auch meine Extrachaise vor der städtischen Posthalterei. Das kurfürstliche Wappen prangte an Stelle des herzoglichen über der Torfahrt; unter derselben schwenkte der alte Bäsler, ein gemütlicher Kumpan nach Sachsenart, der Postmeister, wie er im Buche steht, seine Pudelmütze mir zum Willkommen.[173] Ich drückte ihm, keines Wortes mächtig, die Hand, in Erwartung eines weheleidigen Ausbruchs. Und wirklich stieg, indem er nach dem neuen Wappen deutete, eine Träne in seinen Augen auf, vielleicht die erste, welche keine weinselige war. In der nächsten Minute jedoch lachte er die Träne hinweg und rief in echter Postmeisterlaune:

»Gratulor, Hofjägermeisterchen! Gratulor, Glückspilz, der Ihr seid!«

»Ja so,« fuhr er darauf fort, als er meine verwunderte Miene bemerkte. »Ja so, Ihr wißt es noch nicht! Der Allerhöchste letzte Wille ist vorigen Sonnabend publiziert worden. Euer Junkerchen hat den Talhof in der Residenz geerbt. Eine Staatswirtschaft, sage ich Euch; ein Rittergut Spaß dagegen. Des guten Johann Puppe! Potz Velten! Unsereiner hat wohl auch einmal seinen Turkel. Wenn einer aber drei- und viermal einen hat – –«

Ich hörte den gemütlichen Gratulanten nicht zu Ende. Wie zweideutig zwinkerten bei der These vom Glück seine lachenden Äugelchen! Ich hatte mir einen Wagen bestellen wollen; nun stürmte ich voran, als würde ich gehetzt. Er war wieder los, der Feind, der Höllengeist im Hirn. Meines Weibes Sohn – Sein Erbe. Mein Sohn – oder – –?

O, vor einem Zweifler besteht keine Wohltat, keine Hoheit, besteht nicht einmal der Allversöhner Tod!

Vor dem Hause des Hegemeisters, an welchem der neue Heimweg vorüberführte, hielt meine Kalesche. Ich war erwartet worden und von weitem erkannt; denn aus dem Hause kam eine weibliche Gestalt mir entgegen – Lori!

Ja, Lori, aber nicht flatternd mit ausgespannten Armen, wie wenn ich früherhin nach kurzer Entfernung heimkehrte,[174] nein, ernst und gemessen wie eine Leidtragende, eine Witwe schreitet im schleppenden Trauerkleid. Und schattenblaß sah sie aus. War sie nicht auch noch gewachsen in den Jahren, daß ich sie nicht gesehen, diesen Jahren der Erfahrung?

»Ach, unser Herr!« schluchzte sie, indem sie den Kopf an meine Brust lehnte.

Unser Herr! Die Klage um ihn – ihr Willkommen!

Engel und Teufel rangen um den Obsieg in des elendesten Menschen Brust.

»Hast du ihn wiedergesehen?« fragte ich.

Sie schüttelte traurig den Kopf. Ich richtete ihn in die Höhe und blickte während einer langen Stille in die großen, tränenschweren Augen. Dann sprach ich: »Du hast eine Heimlichkeit mir vorenthalten, Lori. Fasse ein Herz! Vertraue heute, heute, wo – Er nicht mehr ist, sie mir an. Nicht die Gattin dem Gatten, aber das Kind dem Vater.«

Sie sah zu mir auf mit einem Blick, in welchem die natürliche Unschuld sich zu des Weibes höchstem Adel verklärt hatte.

»Die Gattin dem Gatten,« sagte sie mit fester Stimme.

Dann löste sie langsam das Kettchen von ihrem Halse, reichte mir das Medaillon und sprach: »Öffne!«

Ich drückte die Kapsel auf. Ein Papierstreifen fiel in meine zitternde Hand – die großen Züge des Herrn:

»Gott segne dich, Kind, daß du mich nicht verstandest. Du sollst mein Folgeengel sein!«

Ich war vernichtet. Ich fragte nicht: Hast du ihn geliebt? Ich sah es ja. Wäre es denn auch möglich gewesen, den Herrlichen nicht zu lieben, nicht so zu lieben[175] wie sie? Lori aber sagte, indem sie das Kleinod wieder an ihrem Halse befestigte:

»Er irrte, Christian,« – zum ersten Male nannte sie mich statt des gewohnten Kosenamens mit dem des Mannes. – »Ich habe ihn verstanden. Als du, nachdem er mich verlassen hatte, mir gegenübertratest, Zorn in Rede und Blick, den ersten Zorn, da verstand ich ihn und – mich selbst. –«

»Und du haßtest mich, Lori – mich, den – –«

»Hassen?« unterbrach sie mich. »Meinen Wohltäter hassen? den edlen, gütigen Mann? ich, sein Kind, seine Frau?«

»Lori!« rief ich, stürzte vor ihr nieder und umklammerte ihre Knie, »Lori, dieser Mann ist – –«

Das grausame Geständnis verhallte unter einem markerschütternden Aufschrei, der aus dem geöffneten Fenster gellte, eines Kindes Schrei! Lori riß sich von mir los und eilte in das Haus. Ich wankte ihr nach.

Sie hatte ihren Knaben von dem Arme der Wärterin genommen; er wurde von Krämpfen durchzuckt; ein blutrotes Mal zeichnete sich an seinem rechten Ohr, der Narbe gleich, die an dem meinen seit jenem Krall zurückgeblieben. Die Lippen waren blau, die Händchen geballt, die Augen wie verglast auf die des schwarzen Hauskaters geheftet, der aus der Kammer geschlichen und mit einem Satz auf den Tisch gesprungen war, an dem der Knabe gespielt hatte.

»Mein Kind!« schrie ich, indem ich ihn an mich riß; »mein Sohn!«

Dieser Sohn war der Katzenjunker.[176]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 171-177.
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