1. Frühling

[122] Und wenn die Primel schneeweiß blickt

Am Bach, am Bach auf dem Wiesengrund,

Und wenn vom Baum die Kirschblüt' nickt,

Und die Vögelein pfeifen im Wald allstund:

Da flickt der Fischer das Netz in Ruh',

Denn der See liegt heiter im Sonnenglanz,

Da sucht das Mädel die roten Schuh'

Und schnürt das Mieder sich eng zum Tanz

Und denket still,

Ob der Liebste, der Liebste nicht kommen will.


Es klingt die Fiedel, es brummt der Baß,

Der Dorfschulz sitzt im Schank beim Wein;

Die Tänzer drehn sich ohn' Unterlaß

An der Lind', an der Lind', im Abendschein.

Und geht's nach Haus um Mitternacht,

Glühwürmchen trägt das Laternchen vor,

Da küsset der Bube sein Dirnel sacht

Und sagt ihr leis ein Wörtchen ins Ohr,

Und sie denken beid':

O du fröhliche, selige Maienzeit!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 122.
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