DIE HIMMELSROSE

[192] Die schönheit die ich schaute überfliesset

Gewiss nicht unser maass allein – ich merke

Dass nur ihr schöpfer völlig sie geniesset.


Von hier ab (geb ich zu) lässt mich die stärke

So wie nur je an einem punkt gezittert

Lust- oder trauer-dichter bei dem werke.


Wie sonnenschein in einem aug das flittert

So macht in meinem geiste das vor-schweben

Des süssen lächelns dass er in sich splittert.


Vom ersten tag an wo ich sie im leben

Gesehen bis zu diesem hohen spiele

War ihr zu folgen meinem sang gegeben.


Doch jezt muss ich abstehn mit meinem kiele

Von ihrer schönheit und ich leg ihn nieder

Wie jeder künstler angelangt am ziele.[192]


Wie ich sie lasse nun · für höhere lieder

Als meiner tuba die nun des gewichtes

Mich bald entlediget – begann sie wieder


Als führer froh am ende des verrichtes:

Wir sind getreten aus dem lezten triebe

Des weltenrings zu dem des reinen lichtes.


Wir sind im geistigen licht dem licht voll liebe

Der liebe wahren gutes voll entzücken

Entzücken vor dem keine wonne bliebe!


Nun siehst du beide heiligen heere rücken

Vom paradies: die einen schon umkleidet

Wie sie sich für den lezten richter schmücken.


Wie wenn ein unverhoffter blitz durchschneidet

Der augen fähigkeit und das verscheuchte

Gesicht die stärksten dinge nicht mehr scheidet:


So überströmte mich lebendige leuchte

Und hielt mich so umhüllt von allen seiten

Mit ihrem scheine dass ich blind mir deuchte.[193]


›Der hohe spender dieser seligkeiten

Hebt zu sich auf stets mit dergleichen segen

Um für sein licht die fackeln zu bereiten.‹


Nicht schneller aber flüsterte entgegen

Mir dieses kurze wort als ich erkannte

Dass macht mir wuchs die nicht in mir gelegen.


Und meines schauens neue kraft entbrannte

Dass nun – wie grosse reinheit er erlange –

Kein strahl mehr wäre der mein auge bannte.


Und ich sah licht mit eines flusses gange

Vom glanze blitzend durch zwei ufer dringen

In ihrem wunderbaren frühlingsprange ·


Sah von der flut nach allen seiten springen

Und auf die blumen fallen helle funken

Rubinen gleich die sich mit gold umschlingen.


Dann wiederum als ob von düften trunken

Vertieften sie sich in der wunderwelle

Und dieser stieg und jener war versunken.[194]


›Der hohe wunsch der nun dich drängt zur helle

Wird dir zu kennen was du schautest taugen

Und mich erfreun je mehr er in dir schwelle.


Doch erst musst du an jenen wassern saugen

Bevor der grosse durst dich nicht mehr dränge.‹

So sprach zu mir die sonne meiner augen


Und fügte zu: Das fliessende gepränge ·

Topase · farben heitrer frühlingskinder ·

Sind nur der wahrheit schattende behänge.


Doch nicht als wären diese dinge minder!

Den mangel nimm allein zu deinem teile!

Für solche glorie bist du noch ein blinder.


So dreht kein kind mit einer grösseren eile

Den kopf und sucht die milch die lang entnommne

Wenn es verschlafen die gewohnte weile


Als ich mich wandte und um das beklommne

Gesicht zu stärken neigt ich mich den wogen

Die strömen dass sich jeder vervollkommne.[195]


Als kaum ich übers wasser hingezogen

Mit meinen lidern merkten die nun scharfen

Dass seine linie wechselte zum bogen.


Wie menschen die verborgen unter larven

Als andre kommen wenn sie mit den stoffen

Die nicht gebührende gestalt verwarfen:


So ward vom wechsel grössrer pracht betroffen

Nun flor und funke – so dass ich gesehen

Die beiden himmelshöfe klar und offen.


O glanz des Herrn durch welchen ich gesehen

Des wahren königreiches triumphieren

Gib kraft zu sagen mir was ich gesehen!


Ein licht ist in den oberen revieren

Das unser schöpfer denen all bereitet

Die ganz in seinem anschaun sich verlieren:


Das in gestalt des kreises sich verbreitet –

Und schlösse sich sein aussenring zusammen

Es wär als sonnengürtel zu geweitet.[196]


Es ist geschaffen nur aus lautren flammen

Und trifft der ersten Sphäre höchste ränder

Wo sein und wirken ihm allein entstammen.


Wie sich ein felsen an dem seegeländer

Bespiegelt gleichsam sich im schmucke sehend

Des saftigen grüns und blumiger gewänder:


So sah ich ringsum überm lichte drehend

All die sich spiegeln in viel tausend sitzen

Die heimgekehrt sind dieser welt entgehend ..


Und wenn nun schon die untren sprossen blitzen

Von solcher pracht – wie mag sich dann erst breiten

Die rose bis zu ihren obern spitzen.


Und weder in den höhen noch den weiten

Verwirrt ich mich: ich habe ganz besessen

Das wie und wieviel aller herrlichkeiten.


Hier wird das nah und fern nicht mehr gemessen

Denn wo Gott selber unvermittelt schaltet

Ist das natürliche gesetz vergessen.[197]


Zum gelb der ewigen Rose die entfaltet

Sich hebt und duftet – düfte von dem ruhme

Der sonne die in ewigem frühling waltet:


Da zog mich schweigend hin der seligen Blume

Als ob sie zu mir reden wollte: Schaue

Der weissen kleider zahl im heiligtume!


Sieh unsre stadt wie sie sich wölbend baue!


Himmel · XXX. Gesang · 19–130.

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 192-198.
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