Sechster Auftritt

[40] ALCEST.

Ihr großen Geister sagt, daß keine Tugend sei;

Daß Liebe Wollust ist und Freundschaft Heuchelei.

Daß man kein einzig Herz, das widerstünde, findet;

Daß nur Gelegenheit die Tugend überwindet;

Daß es, wenn man in uns das Laster je vermißt,

Beim Jüngling Blödigkeit und Furcht beim Mädchen ist.

Es zittert, spottet ihr, die unerfahrne Jugend!

Doch ist dies Zittern nicht selbst ein Gefühl von Tugend?

Ist diese Sympathie, dies zärtliche Gefühl,

Dem niemand sich entzieht, nichts als ein Fibernspiel?

Wie süß verträumt ich nicht die jugendlichen Stunden

Einst in Sophiens Arm. Ich hatte nichts empfunden,

Bis mir der Druck der Hand, ihr Blick, ihr Kuß entdeckt,

Wie's einem Neuling ist, wenn er die Wollust schmeckt.

Uns führte keine Wahl, nicht die Vernunft zusammen;

Wir sahn einander an und stunden schon in Flammen.

Bist du der Liebe wert? ward da nicht lang gefragt,

Es war erst halb gefühlt und war schon ganz gesagt.

Wir lebten lange so die süßen Augenblicke.

Zuletzt verließ sie mich. Ich fluchte dem Geschicke;

Und schwur, daß Freundschaft, Lieb und Zärtlichkeit und Treu

Der Maskeradenputz verkappter Laster sei;

Und sucht, in dem Gewühl der körperlichen Triebe,

Den Tod des Vorurteils von Tugend und von Liebe.

Zuletzt verhärtete mich Wollust, Stolz und Zeit;

Ich glaubte mich geschützt vor aller Zärtlichkeit.

Stolz kehrt ich zu Sophien. Wie schön war sie geworden!

Ich stützte. Ha, ihr Mann ist doch vom großen Orden

Schon lange Ritter! Doch sie hat der Freunde mehr![40]

Es sei drum, wenn du kömmst, so macht sie's dir nicht schwer.

Ihr Sperren rührt mich nur, daß ich die Nase rümpfe!

Gnug das gewohnte Spiel vom Faun und von der Nymphe.

So dacht ich. Sah sie oft. Allein, da fühlt ich was.

Ihr lüderlichen Herrn, so sagt mir, was ist das,

Das hier mich immer schilt, hier immer für sie redet,

Mir alle Kühnheit raubt und jeden Anschlag tötet.

Sie nennt mich ihren Freund, eröffnet mir ihr Herz,

Ich schwur die Freundschaft ab, doch teil ich ihren Schmerz.

Sie schwört, sie habe mich als alle Menschen lieber;

Ha! denk ich, Lieb ist Tand, und freu mich doch darüber.

Sie liebt mich und verläßt doch ihre Tugend nie;

Die Tugend glaub ich nicht, und doch verehr ich sie.

Heut hofft ich ziemlich viel und wagte nichts zu nehmen.

So bös! und doch so feig, ich muß mich wahrlich schämen.

Entweder nennet mich: Weib! Tückisch ohne Kraft!

Wo nicht, so bin ich noch nicht völlig lasterhaft.

Was ist's, was treibt dich an, ihr Leben zu versüßen?

Ist's Lieb? Ist's Eigennutz? Gedenkst du zu genießen

Und willst es kaufen? Nein! ich weiß, es fehlt ihr Geld,

Und sie vertraut mir's nicht, das ist's, was mir gefällt.

Ich sinne jetzo nur auf ein versteckt Geschenke.

Ich habe just noch Geld. Gut, daß ich gleich dran denke,

Ich muß es zählen.


Er öffnet die Schatulle.


Was! Was seh ich! Teufel! leer!

Von hundert Spezies nicht fünfundzwanzig mehr.

Seit heute nachmittag! Wer konnte sie entwenden?

Die Schlüssel kamen nicht die Zeit aus meinen Händen.

Wer war im Zimmer? Ha! Sophie! Gedanke fort!

Mein Diener, o der liegt an einem sichern Ort,

Er schläft. Gleich will ich hin, ihn eilig aufzuwecken,

Ein Dieb beim Überfall verrät sich leicht durchs Schröcken.[41]


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 5, Berlin 1960 ff, S. 40-42.
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