Zweiter Auftritt


[9] Iphigenie. Arkas.


ARKAS.

Der König sendet mich hieher und heut

Der Priesterin Dianens Gruß und Heil.

Dies ist der Tag, da Tauris seiner Göttin

Für wunderbare neue Siege dankt.

Ich eile vor dem König und dem Heer,

Zu melden, daß er kommt und daß es naht.

IPHIGENIE.

Wir sind bereit, sie würdig zu empfangen,

Und unsre Göttin sieht willkommnem Opfer

Von Thoas' Hand mit Gnadenblick entgegen.

ARKAS.

O fänd' ich auch den Blick der Priesterin,

Der werten, vielgeehrten, deinen Blick,

O heil'ge Jungfrau, heller, leuchtender,

Uns allen gutes Zeichen! Noch bedeckt

Der Gram geheimnisvoll dein Innerstes;

Vergebens harren wir schon Jahre lang

Auf ein vertraulich Wort aus deiner Brust.

Solang' ich dich an dieser Stätte kenne,

Ist dies der Blick, vor dem ich immer schaudre;

Und wie mit Eisenbanden bleibt die Seele

Ins Innerste des Busens dir geschmiedet.

IPHIGENIE.

Wie's der Vertriebnen, der Verwaisten ziemt.

ARKAS.

Scheinst du dir hier vertrieben und verwaist?

IPHIGENIE.

Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?

ARKAS.

Und dir ist fremd das Vaterland geworden.

IPHIGENIE.

Das ist's, warum mein blutend Herz nicht heilt.

In erster Jugend, da sich kaum die Seele

An Vater, Mutter und Geschwister band,

Die neuen Schößlinge, gesellt und lieblich,

Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts

Zu dringen strebten, leider faßte da

Ein fremder Fluch mich an und trennte mich

Von den Geliebten, riß das schöne Band

Mit ehrner Faust entzwei. Sie war dahin,

Der Jugend beste Freude, das Gedeihn

Der ersten Jahre. Selbst gerettet, war[9]

Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust

Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.

ARKAS.

Wenn du dich so unglücklich nennen willst,

So darf ich dich auch wohl undankbar nennen.

IPHIGENIE.

Dank habt ihr stets.

ARKAS.

Doch nicht den reinen Dank,

Um dessentwillen man die Wohltat tut;

Den frohen Blick, der ein zufriednes Leben

Und ein geneigtes Herz dem Wirte zeigt.

Als dich ein tief geheimnisvolles Schicksal

Vor so viel Jahren diesem Tempel brachte,

Kam Thoas dir als einer Gottgegebnen

Mit Ehrfurcht und mit Neigung zu begegnen,

Und dieses Ufer ward dir hold und freundlich

Das jedem Fremden sonst voll Grausens war,

Weil niemand unser Reich vor dir betrat,

Der an Dianens heil'gen Stufen nicht

Nach altem Brauch ein blutges Opfer fiel.

IPHIGENIE.

Frei atmen macht das Leben nicht allein.

Welch Leben ist's, das an der heil'gen Stätte,

Gleich einem Schatten um sein eigen Grab,

Ich nur vertrauern muß? Und nenn' ich das

Ein fröhlich selbstbewußtes Leben, wenn

Uns jeder Tag, vergebens hingeträumt,

Zu jenen grauen Tagen vorbereitet,

Die an dem Ufer Lethes, selbstvergessend,

Die Trauerschar der Abgeschiednen feiert?

Ein unnütz Leben ist ein früher Tod:

Dies Frauenschicksal ist vor allen meins.

ARKAS.

Den edlen Stolz, daß du dir selbst nicht gnügest,

Verzeih' ich dir, so sehr ich dich bedaure:

Er raubet den Genuß des Lebens dir.

Du hast hier nichts getan seit deiner Ankunft?

Wer hat des Königs trüben Sinn erheitert?

Wer hat den alten grausamen Gebrauch,

Daß am Altar Dianens jeder Fremde

Sein Leben blutend läßt, von Jahr zu Jahr

Mit sanfter Überredung aufgehalten

Und die Gefangnen vom gewissen Tod[10]

Ins Vaterland so oft zurück geschickt?

Hat nicht Diane, statt erzürnt zu sein,

Daß sie der blut'gen alten Opfer mangelt,

Dein sanft Gebet in reichem Maß erhört?

Umschwebt mit frohem Fluge nicht der Sieg

Das Heer? und eilt er nicht sogar voraus?

Und fühlt nicht jeglicher ein besser Los,

Seitdem der König, der uns weis' und tapfer

So lang' geführet, nun sich auch der Milde

In deiner Gegenwart erfreut und uns

Des schweigenden Gehorsams Pflicht erleichtert?

Das nennst du unnütz, wenn von deinem Wesen

Auf Tausende herab ein Balsam träufelt?

Wenn du dem Volke, dem ein Gott dich brachte,

Des neuen Glückes ew'ge Quelle wirst

Und an dem unwirtbaren Todesufer

Dem Fremden Heil und Rückkehr zubereitest?

IPHIGENIE.

Das Wenige verschwindet leicht dem Blick,

Der vorwärts sieht, wie viel noch übrig bleibt.

ARKAS.

Doch lobst du den, der, was er tut, nicht schätzt?

IPHIGENIE.

Man tadelt den, der seine Taten wägt.

ARKAS.

Auch den, der wahren Wert zu stolz nicht achtet,

Wie den, der falschen Wert zu eitel hebt.

Glaub' mir und hör' auf eines Mannes Wort,

Der treu und redlich dir ergeben ist:

Wenn heut' der König mit dir redet, so

Erleichtr' ihm, was er dir zu sagen denkt.

IPHIGENIE.

Du ängstest mich mit jedem guten Worte:

Oft wich ich seinem Antrag mühsam aus.

ARKAS.

Bedenke, was du tust und was dir nützt.

Seitdem der König seinen Sohn verloren,

Vertraut er wenigen der Seinen mehr,

Und diesen wenigen nicht mehr wie sonst.

Mißgünstig sieht er jedes Edlen Sohn

Als seines Reiches Folger an, er fürchtet

Ein einsam hülflos Alter, ja vielleicht

Verwegnen Aufstand und frühzeit'gen Tod.

Der Skythe setzt ins Reden keinen Vorzug,

Am wenigsten der König. Er, der nur[11]

Gewohnt ist, zu befehlen und zu tun,

Kennt nicht die Kunst, von weitem ein Gespräch

Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken.

Erschwer's ihm nicht durch ein rückhaltend Weigern,

Durch ein vorsätzlich Mißverstehen. Geh

Gefällig ihm den halben Weg entgegen.

IPHIGENIE.

Soll ich beschleunigen, was mich bedroht?

ARKAS.

Willst du sein Werben eine Drohung nennen?

IPHIGENIE.

Es ist die schrecklichste von allen mir.

ARKAS.

Gib ihm für seine Neigung nur Vertraun.

IPHIGENIE.

Wenn er von Furcht erst meine Seele löst.

ARKAS.

Warum verschweigst du deine Herkunft ihm?

IPHIGENIE.

Weil einer Priesterin Geheimnis ziemt.

ARKAS.

Dem König sollte nichts Geheimnis sein;

Und ob er's gleich nicht fordert, fühlt er's doch

Und fühlt es tief in seiner großen Seele,

Daß du sorgfältig dich vor ihm verwahrst.

IPHIGENIE.

Nährt er Verdruß und Unmut gegen mich?

ARKAS.

So scheint es fast. Zwar schweigt er auch von dir;

Doch haben hingeworfne Worte mich

Belehrt, daß seine Seele fest den Wunsch

Ergriffen hat, dich zu besitzen. Laß,

O überlaß ihn nicht sich selbst! damit

In seinem Busen nicht der Unmut reife

Und dir Entsetzen bringe, du zu spät

An meinen treuen Rat mit Reue denkest.

IPHIGENIE.

Wie? Sinnt der König, was kein edler Mann,

Der seinen Namen liebt, und dem Verehrung

Der Himmlischen den Busen bändiget,

Je denken sollte? Sinnt er, vom Altar

Mich in sein Bette mit Gewalt zu ziehn?

So ruf' ich alle Götter und vor allen

Dianen, die entschloßne Göttin, an

Die ihren Schutz der Priesterin gewiß

Und Jungfrau einer Jungfrau gern gewährt.

ARKAS.

Sei ruhig! Ein gewaltsam neues Blut

Treibt nicht den König, solche Jünglingstat

Verwegen auszuüben. Wie er sinnt,

Befürcht' ich andern, harten Schluß von ihm,[12]

Den unaufhaltbar er vollenden wird:

Denn seine Seel' ist fest und unbeweglich.

Drum bitt' ich dich, vertrau' ihm, sei ihm dankbar,

Wenn du ihm weiter nichts gewähren kannst.

IPHIGENIE.

O sage, was dir weiter noch bekannt ist.

ARKAS.

Erfahr's von ihm. Ich seh' den König kommen.

Du ehrst ihn, und dich heißt dein eigen Herz,

Ihm freundlich und vertraulich zu begegnen.

Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort

Der Frauen weit geführt.

IPHIGENIE allein.

Zwar seh' ich nicht,

Wie ich dem Rat des Treuen folgen soll;

Doch folg' ich gern der Pflicht, dem Könige

Für seine Wohltat gutes Wort zu geben,

Und wünsche mir, daß ich dem Mächtigen,

Was ihm gefällt, nur Wahrheit sagen möge.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 9-13.
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