Dritter Auftritt

[368] GENIEN treten rasch auf und stellen sich ihm zu beiden Seiten.

Wandelt der Mond und bewegt sich der Stern,

Junge wie Alte, sie schlafen so gern;[368]

Leuchtet die Sonne nach löblichem Brauch,

Junge wie Alte, sie schlafen wohl auch.

EPIMENIDES.

Ein heitres Lied, ihr Kinder; doch voll Sinn.

Ich kenn' euch wohl! Sobald ihr scherzend kommt,

Dann ist es Ernst, und wenn ihr ernstlich sprecht,

Vermut' ich Schalkheit. Schlafen, meint ihr, schlafen?

An meine Jugend wollt ihr mich erinnern.

Auf Kretas Höhn, des Vaters Herde weidend,

Die Insel unter mir, ringsum das Meer,

Den Tageshimmel von der einzigen Sonne,

Von tausenden den nächtigen erleuchtet

Da strebt's in meiner Seele, dieses All,

Das herrliche, zu kennen; doch umsonst:

Der Kindheit Bande fesselten mein Haupt.

Da nahmen sich die Götter meiner an,

Zur Höhle führten sie den Sinnenden,

Versenkten mich in tiefen langen Schlaf.

Als ich erwachte, hört' ich einen Gott:

»Bist vorbereitet«, sprach er, »wähle nun!

Willst du die Gegenwart und das, was ist,

Willst du die Zukunft sehn, was sein wird?« Gleich

Mit heiterm Sinn verlangt' ich zu verstehn,

Was mir das Auge, was das Ohr mir beut.

Und gleich erschien durchsichtig diese Welt,

Wie ein Kristallgefäß mit seinem Inhalt.

Den schau' ich nun so viele Jahre schon;

Was aber künftig ist, bleibt mir verborgen.

Soll ich vielleicht nun schlafen, sagt mir an,

Daß ich zugleich auch Künftiges gewahre?

GENIEN.

Wärest du fieberhaft, wärest du krank,

Wüßtest dem Schlafe du herzlichen Dank;

Zeiten, sie werden so fieberhaft sein,

Laden die Götter zum Schlafen dich ein.

EPIMENIDES.

Zum Schlafen? jetzt? – Ein sehr bedeutend Wort.

Zwei euresgleichen sind's, wo nicht ihr selbst,

Sind Zwillingsbrüder, einer Schlaf genannt,

Den andern mag der Mensch nicht gerne nennen;[369]

Doch reicht der Weise einem wie dem andern

Die Hand mit Willen – also, Kinder, hier!


Er reicht ihnen die Hände, welche sie anfassen.


Hier habt ihr mich! Vollziehet den Befehl

Ich lebte nur, mich ihm zu unterwerfen.

GENIEN.

Wie man es wendet und wie man es nimmt,

Alles geschieht, was die Götter bestimmt!

Laß nur den Sonnen, den Monden den Lauf,

Kommen wir zeitig und wecken dich auf.


Epimenides steigt, begleitet von den Knaben, die Stufen hinan, und als die Vorhänge sich öffnen, sieht man ein prächtiges Lager, über demselben eine wohlerleuchtende Lampe. Er besteigt es; man sieht ihn sich niederlegen und einschlafen. Sobald der Weise ruht, schließen die Knaben zwei eherne Pfortenflügel, auf welchen man den Schlaf und Tod, nach antiker Weise, vorgestellt sieht. Fernes Donnern.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 368-370.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Des Epimenides Erwachen
Goethes Werke: Band IV. Faust. Paralipomena zu Faust. Prometheus. Künstlers Erdewallen. Künstlers Apotheose. Elpenor. Des Epimenides Erwachen. Pandora. Nausikaa
Werke in sechs Einzelbänden: Werke, Bd.2, Dramen: Faust I und II. Die Laune des Verliebten. Götz von Berlichingen. Clavigo. Stella. Egmont. ... Pandora. Des Epimenides Erwachen: nur Bd. 2

Buchempfehlung

Jean Paul

Vorschule der Ästhetik

Vorschule der Ästhetik

Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«

418 Seiten, 19.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon