Eilftes Kapitel

[128] Das nußbraune Mädchen


Nachdem Wilhelm seinen Auftrag umständlich und genau ausgerichtet, versetzte Lenardo mit einem Lächeln: »So sehr ich Ihnen verbunden bin für das, was ich durch Sie erfahre, so muß ich doch noch eine Frage hinzufügen. Hat Ihnen die Tante nicht am Schluß noch anempfohlen, mir eine unbedeutend scheinende Sache zu berichten?« Der andere besann sich einen Augenblick. »Ja«, sagte er darauf, »ich entsinne mich. Sie erwähnte eines Frauenzimmers, das sie Valerine nannte. Von dieser sollte ich Ihnen sagen, daß sie glücklich verheiratet sei und sich in einem wünschenswerten Zustande befinde.«

»Sie wälzen mir einen Stein vom Herzen«, versetzte Lenardo. »Ich gehe nun gern nach Hause zurück, weil ich nicht fürchten muß, daß die Erinnerung an dieses Mädchen mir an Ort und Stelle zum Vorwurf gereiche.«

»Es ziemt sich nicht für mich zu fragen, welch Verhältnis Sie zu ihr gehabt«, sagte Wilhelm; »genug, Sie können ruhig sein, wenn Sie auf irgendeine Weise an dem Schicksal des Mädchens teilnehmen.«[128]

»Es ist das wunderlichste Verhältnis von der Welt«, sagte Lenardo; »keinesweges ein Liebesverhältnis, wie man sich's denken könnte. Ich darf Ihnen wohl vertrauen und erzählen, was eigentlich keine Geschichte ist. Was müssen Sie aber denken, wenn ich Ihnen sage, daß mein zauderndes Zurückreisen, daß die Furcht, in unsere Wohnung zurückzukehren, daß diese seltsamen Anstalten und Fragen, wie es bei uns aussehe, eigentlich nur zur Absicht haben, nebenher zu erfahren, wie es mit diesem Kinde stehe.

Denn glauben Sie«, fuhr er fort, »ich weiß übrigens sehr gut, daß man Menschen, die man kennt, auf geraume Zeit verlassen kann, ohne sie verändert wiederzufinden, und so denke ich auch bei den Meinigen bald wieder völlig zu Hause zu sein. Um dies einzige Wesen war es mir zu tun, dessen Zustand sich verändern mußte und sich, Dank sei es dem Himmel, ins Bessere verändert hat.«

»Sie machen mich neugierig«, sagte Wilhelm. »Sie lassen mich etwas ganz Besonderes erwarten.«

»Ich halte es wenigstens dafür«, versetzte Lenardo und fing seine Erzählung folgendermaßen an.

»Die herkömmliche Kreisfahrt durch das gesittete Europa in meinen Jünglingsjahren zu bestehen, war ein fester Vorsatz, den ich von Jugend auf hegte, dessen Ausführung sich aber von Zeit zu Zeit, wie es zu gehen pflegt, verzögerte. Das Nächste zog mich an, hielt mich fest, und das Entfernte verlor immer mehr seinen Reiz, je mehr ich davon las oder erzählen hörte. Doch endlich, angetrieben durch meinen Oheim, angelockt durch Freunde, die sich vor mir in die Welt hinausbegeben hatten, ward der Entschluß gefaßt, und zwar geschwinder, ehe wir es uns alle versahen.

Mein Oheim, der eigentlich das Beste dazu tun mußte, um die Reise möglich zu machen, hatte sogleich kein anderes Augenmerk. Sie kennen ihn und seine Eigenheit, wie er immer nur auf eines losgeht und das erst zustande bringt, und inzwischen alles andere ruhen und schweigen muß; wodurch er denn freilich vieles geleistet hat, was über die Kräfte eines Particuliers zu gehen scheint. Diese Reise kam ihm einigermaßen unerwartet; doch wußte er sich sogleich[129] zu fassen. Einige Bauten, die er unternommen, ja sogar angefangen hatte, wurden eingestellt, und weil er sein Erspartes niemals angreifen will, so sah er sich als ein kluger Finanzmann nach andern Mitteln um. Das Nächste war, ausstehende Schulden, besonders Pachtreste, einzukassieren; denn auch dieses gehörte mit zu seiner Art und Weise, daß er gegen Schuldner nachsichtig war, solange er bis auf einen gewissen Grad selbst nichts bedurfte. Sein Geschäftsmann erhielt die Liste; diesem war die Ausführung überlassen. Vom einzelnen erfuhren wir nichts; nur hörte ich im Vorbeigehen, daß der Pachter eines unserer Güter, mit dem der Oheim lange Geduld gehabt hatte, endlich wirklich ausgetrieben, seine Kaution zu kärglichem Ersatz des Ausfalls innebehalten und das Gut anderweit verpachtet werden sollte. Es war dieser Mann von Art der ›Stillen im Lande‹, aber nicht, wie seinesgleichen, dabei klug und tätig; wegen seiner Frömmigkeit und Güte zwar geliebt, doch wegen seiner Schwäche als Haushalter gescholten. Nach seiner Frauen Tode war eine Tochter, die man nur das nußbraune Mädchen nannte, ob sie schon rüstig und entschlossen zu werden versprach, doch viel zu jung, um entschieden einzugreifen; genug, es ging mit dem Mann rückwärts, ohne daß die Nachsicht des Onkels sein Schicksal hätte aufhalten können.

Ich hatte meine Reise im Sinn, und die Mittel dazu mußt' ich billigen. Alles war bereit, das Packen und Loslösen ging an, die Augenblicke drängten sich. Eines Abends durchstrich ich noch einmal den Park, um Abschied von den bekannten Bäumen und Sträuchen zu nehmen, als mir auf einmal Valerine in den Weg trat: denn so hieß das Mädchen; das andere war nur ein Scherzname, durch ihre bräunliche Gesichtsfarbe veranlaßt. Sie trat mir in den Weg.«

Lenardo hielt einen Augenblick nachdenkend inne. »Wie ist mir denn?« sagte er; »hieß sie auch Valerine? Ja doch«, fuhr er fort; »doch war der Scherzname gewöhnlicher. Genug, das braune Mädchen trat mir in den Weg und bat mich dringend, für ihren Vater, für sie ein gutes Wort bei meinem Oheim einzulegen. Da ich wußte, wie die Sache[130] stand, und ich wohl sah, daß es schwer, ja unmöglich sein würde, in diesem Augenblick etwas für sie zu tun, so sagte ich's ihr aufrichtig und setzte die eigne Schuld ihres Vaters in ein ungünstiges Licht.

Sie antwortete mir darauf mit so viel Klarheit und zugleich mit so viel kindlicher Schonung und Liebe, daß sie mich ganz für sich einnahm und daß ich, wäre es meine eigene Kasse gewesen, sie sogleich durch Gewährung ihrer Bitte glücklich gemacht hätte. Nun waren es aber die Einkünfte meines Oheims; es waren seine Anstalten, seine Befehle; bei seiner Denkweise, bei dem, was bisher schon geschehen, war nichts zu hoffen. Von jeher hielt ich ein Versprechen hochheilig. Wer etwas von mir verlangte, setzte mich in Verlegenheit. Ich hatte mir es so angewöhnt abzuschlagen, daß ich sogar das nicht versprach, was ich zu halten gedachte. Diese Gewohnheit kam mir auch diesmal zustatten. Ihre Gründe ruhten auf Individualität und Neigung, die meinigen auf Pflicht und Verstand, und ich leugne nicht, daß sie mir am Ende selbst zu hart vorkamen. Wir hatten schon einigemal dasselbe wiederholt, ohne einander zu überzeugen, als die Not sie beredter machte, ein unvermeidlicher Untergang, den sie vor sich sah, ihr Tränen aus den Augen preßte. Ihr gefaßtes Wesen verließ sie nicht ganz; aber sie sprach lebhaft, mit Bewegung, und indem ich immer noch Kälte und Gelassenheit heuchelte, kehrte sich ihr ganzes Gemüt nach außen. Ich wünschte die Szene zu endigen; aber auf einmal lag sie zu meinen Füßen, hatte meine Hand gefaßt, geküßt, und sah so gut, so liebenswürdig flehend zu mir herauf, daß ich mir in dem Augenblick meiner selbst nicht bewußt war. Schnell sagte ich, indem ich sie aufhob: ›Ich will das Mögliche tun, beruhige dich, mein Kind!‹ und so wandte ich mich nach einem Seitenwege. ›Tun Sie das Unmögliche!‹ rief sie mir nach. – Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte, aber ich sagte: ›Ich will‹, und stockte. ›Tun Sie's!‹ rief sie auf einmal, mit einem Ausdruck von himmlischer Hoffnung. Ich grüßte sie und eilte fort.

Den Oheim wollte ich nicht zuerst angehen, denn ich kannte ihn nur zu gut, daß man ihn an das Einzelne nicht[131] erinnern durfte, wenn er sich das Ganze vorgesetzt hatte. Ich suchte den Geschäftsträger; er war weggeritten; Gäste kamen den Abend, Freunde, die Abschied nehmen wollten. Man spielte, man speiste bis tief in die Nacht. Sie blieben den andern Tag, und die Zerstreuung verwischte jenes Bild der dringend Bittenden. Der Geschäftsträger kam zurück, er war geschäftiger und überdrängter als nie. Jedermann fragte nach ihm. Er hatte nicht Zeit, mich zu hören: doch machte ich einen Versuch, ihn festzuhalten; allein kaum hatte ich jenen frommen Pachter genannt, so wies er mich mit Lebhaftigkeit zurück: ›Sagen Sie dem Onkel um Gottes willen davon nichts, wenn Sie zuletzt nicht noch Verdruß haben wollen.‹ – Der Tag meiner Abreise war festgesetzt; ich hatte Briefe zu schreiben, Gäste zu empfangen, Besuche in der Nachbarschaft abzulegen. Meine Leute waren zu meiner bisherigen Bedienung hinreichend, keineswegs aber gewandt, das Geschäft der Abreise zu erleichtern. Alles lag auf mir; und doch, als mir der Geschäftsmann zuletzt in der Nacht eine Stunde gab, um unsere Geldangelegenheiten zu ordnen, wagte ich nochmals, für Valerinens Vater zu bitten.

›Lieber Baron‹, sagte der bewegliche Mann, ›wie kann Ihnen nur so etwas einfallen? Ich habe heute ohnehin mit Ihrem Oheim einen schweren Stand gehabt; denn was Sie nötig haben, um sich hier loszumachen, beläuft sich weit höher, als wir glaubten. Dies ist zwar ganz natürlich, aber doch beschwerlich. Besonders hat der alte Herr keine Freude, wenn die Sache abgetan scheint und noch manches hintennachhinkt; das ist nun aber oft so, und wir andern müssen es ausbaden. Über die Strenge, womit die ausstehenden Schulden eingetrieben werden sollen, hat er sich selbst ein Gesetz gemacht; er ist darüber mit sich einig, und man möchte ihn wohl schwer zur Nachgiebigkeit bewegen. Tun Sie es nicht, ich bitte Sie! es ist ganz vergebens.‹

Ich ließ mich mit meinem Gesuch zurückschrecken, jedoch nicht ganz. Ich drang in ihn, da doch die Ausführung von ihm abhänge, gelind und billig zu verfahren. Er versprach alles, nach Art solcher Personen, um für den Augenblick in Ruhe zu kommen. Er ward mich los; der Drang,[132] die Zerstreuung wuchs! ich saß im Wagen und kehrte jedem Anteil, den ich zu Hause haben konnte, den Rücken.

Ein lebhafter Eindruck ist wie eine andere Wunde; man fühlt sie nicht, indem man sie empfängt. Erst später fängt sie an zu schmerzen und zu eitern. Mir ging es so mit jener Begebenheit im Garten. Sooft ich einsam, sooft ich unbeschäftigt war, trat mir jenes Bild des flehenden Mädchens, mit der ganzen Umgebung, mit jedem Baum und Strauch, dem Platz, wo sie knieete, dem Weg, den ich einschlug, mich von ihr zu entfernen, das Ganze zusammen wie ein frisches Bild vor die Seele. Es war ein unauslöschlicher Eindruck, der wohl von andern Bildern und Teilnahmen beschattet, verdeckt, aber niemals vertilgt werden konnte. Immer erneut trat er in jeder stillen Stunde hervor, und je länger es währte, desto schmerzlicher fühlte ich die Schuld, die ich gegen meine Grundsätze, meine Gewohnheit auf mich geladen hatte, obgleich nicht ausdrücklich, nur stotternd, zum ersten mal in solchem Falle verlegen.

Ich verfehlte nicht, in den ersten Briefen unsern Geschäftsmann zu fragen, wie die Sache gegangen. Er antwortete dilatorisch. Dann setzte er aus, diesen Punkt zu erwidern; dann waren seine Worte zweideutig, zuletzt schwieg er ganz. Die Entfernung wuchs, mehr Gegenstände traten zwischen mich und meine Heimat; ich ward zu manchen Beobachtungen, mancher Teilnahme aufgefordert; das Bild verschwand, das Mädchen fast bis auf den Namen. Seltener trat ihr Andenken hervor, und meine Grille, mich nicht durch Briefe, nur durch Zeichen mit den Meinigen zu unterhalten, trug viel dazu bei, meinen frühern Zustand mit allen seinen Bedingungen beinahe verschwinden zu machen. Nur jetzt, da ich mich dem Hause nähere, da ich meiner Familie, was sie bisher entbehrt, mit Zinsen zu erstatten gedenke, jetzt überfällt mich diese wunderliche Reue – ich muß sie selbst wunderlich nennen – wieder mit aller Gewalt. Die Gestalt des Mädchens frischt sich auf mit den Gestalten der Meinigen, und ich fürchte nichts mehr, als zu vernehmen, sie sei in dem Unglück, in das ich sie gestoßen, zugrunde gegangen; denn mir schien mein Unterlassen ein Handeln zu ihrem Verderben, eine Förderung[133] ihres traurigen Schicksals. Schon tausendmal habe ich mir gesagt, daß dieses Gefühl im Grunde nur eine Schwachheit sei, daß ich früh zu jenem Gesetz, nie zu versprechen, nur aus Furcht der Reue, nicht aus einer edlern Empfindung getrieben worden. Und nun scheint sich eben die Reue, die ich geflohen, an mir zu rächen, indem sie diesen Fall statt tausend ergreift, um mich zu peinigen. Dabei ist das Bild, die Vorstellung, die mich quält, so angenehm, so liebenswürdig, daß ich gern dabei verweile. Und denke ich daran, so scheint der Kuß, den sie auf meine Hand gedrückt, mich noch zu brennen.«

Lenardo schwieg, und Wilhelm versetzte schnell und fröhlich: »So hätte ich Ihnen denn keinen größern Dienst erzeigen können als durch den Nachsatz meines Vortrags wie manchmal in einem Postskript das Interessanteste des Briefes enthalten sein kann. Zwar weiß ich nur wenig von Valerinen: denn ich erfuhr von ihr nur im Vorbeigehen; aber gewiß ist sie die Gattin eines wohlhabenden Gutsbesitzers und lebt vergnügt, wie mir die Tante noch beim Abschied versicherte.«

»Schön«, sagte Lenardo: »nun hält mich nichts ab. Sie haben mich absolviert, und wir wollen sogleich zu den Meinigen, die mich ohnehin länger, als billig ist, erwarten.« Wilhelm erwiderte darauf: »Leider kann ich Sie nicht begleiten: denn eine sonderbare Verpflichtung liegt mir ob, nirgends länger als drei Tage zu verweilen und die Orte, die ich verlasse, in einem Jahr nicht wieder zu betreten. Verzeihen Sie, wenn ich den Grund dieser Sonderbarkeit nicht aussprechen darf.«

»Es tut mir sehr leid«, sagte Lenardo, »daß wir Sie so bald verlieren, daß ich nicht auch etwas für Sie mitwirken kann. Doch da Sie einmal auf dem Wege sind, mir wohlzutun, so könnten Sie mich sehr glücklich machen, wenn Sie Valerinen besuchten, sich von ihrem Zustand genau unterrichteten und mir alsdann schriftlich oder mündlich – der dritte Ort einer Zusammenkunft wird sich schon finden – zu meiner Beruhigung ausführliche Nachricht erteilten.«

Dieser Vorschlag wurde weiter besprochen; Valerinens Aufenthalt hatte man Wilhelmen genannt. Er übernahm es,[134] sie zu besuchen; ein dritter Ort wurde festgesetzt, wohin der Baron kommen und auch den Felix mitbringen sollte, der indessen bei den Frauenzimmern zurückgeblieben war.

Lenardo und Wilhelm hatten ihren Weg, nebeneinander reitend, auf angenehmen Wiesen unter mancherlei Gesprächen eine Zeitlang fortgesetzt, als sie sich nunmehr der Fahrstraße näherten und den Wagen des Barons einholten, der, von seinem Herrn begleitet, die Heimat wiederfinden sollte. Hier wollten die Freunde sich trennen, und Wilhelm nahm mit wenigen, freundlichen Worten Abschied und versprach dem Baron nochmals baldige Nachricht von Valerinen.

»Wenn ich bedenke«, versetzte Lenardo, »daß es nur ein kleiner Umweg wäre, wenn ich Sie begleitete, warum sollte ich Valerinen nicht selbst aufsuchen? warum nicht selbst von ihrem glücklichen Zustande mich überzeugen? Sie waren so freundlich, sich zum Boten anzubieten; warum wollten Sie nicht mein Begleiter sein? Denn einen Begleiter muß ich haben, einen sittlichen Beistand, wie man sich rechtliche Beistände nimmt, wenn man dem Gerichtshandel nicht ganz gewachsen zu sein glaubt.«

Die Einreden Wilhelms, daß man zu Hause den so lange Abwesenden erwarte, daß es einen sonderbaren Eindruck machen möchte, wenn der Wagen allein käme, und was dergleichen mehr war, vermochten nichts über Lenardo, und Wilhelm mußte sich zuletzt entschließen, den Begleiter abzugeben, wobei ihm wegen der zu fürchtenden Folgen nicht wohl zumute war.

Die Bedienten wurden daher unterrichtet, was sie bei der Ankunft sagen sollten, und die Freunde schlugen nunmehr den Weg ein, der zu Valerinens Wohnort führte. Die Gegend schien reich und fruchtbar und der wahre Sitz des Landbaues. So war denn auch in dem Bezirk, welcher Valerinens Gatten gehörte, der Boden durchaus gut und mit Sorgfalt bestellt. Wilhelm hatte Zeit, die Landschaft genau zu betrachten, indem Lenardo schweigend neben ihm ritt. Endlich fing dieser an: »Ein anderer an meiner Stelle würde sich vielleicht Valerinen unerkannt zu nähern suchen; denn es ist immer ein peinliches Gefühl, vor die Augen[135] derjenigen zu treten, die man verletzt hat; aber ich will das lieber übernehmen und den Vorwurf ertragen, den ich von ihren ersten Blicken befürchte, als daß ich mich durch Vermummung und Unwahrheit davor sicherstelle. Unwahrheit kann uns ebensosehr in Verlegenheit setzen als Wahrheit; und wenn wir abwägen, wie oft uns diese oder jene nutzt, so möchte es doch immer der Mühe wert sein, sich ein für allemal dem Wahren zu ergeben. Lassen Sie uns also getrost vorwärtsgehen; ich will mich nennen und Sie als meinen Freund und Gefährten einführen.«

Nun waren sie an den Gutshof gekommen und stiegen in dem Bezirk desselben ab. Ein ansehnlicher Mann, einfach gekleidet, den sie für einen Pachter halten konnten, trat ihnen entgegen und kündigte sich als Herrn des Hauses an. Lenardo nannte sich, und der Besitzer schien höchst erfreut, ihn zu sehen und kennen zu lernen. »Was wird meine Frau sagen«, rief er aus, »wenn sie den Neffen ihres Wohltäters wiedersieht! Nicht genug kann sie erwähnen und erzählen, was sie und ihr Vater Ihrem Oheim schuldig ist.«

Welche sonderbare Betrachtungen kreuzten sich schnell in Lenardos Geist. »Versteckt dieser Mann, der so redlich aussieht, seine Bitterkeit hinter ein freundlich Gesicht und glatte Worte? Ist er imstande, seinen Vorwürfen eine so gefällige Außenseite zu geben? Denn hat mein Oheim nicht diese Familie unglücklich gemacht? und kann es ihm unbekannt geblieben sein? Oder«, so dachte er sich's mit schneller Hoffnung, »ist die Sache nicht so übel geworden, als du denkst? denn eine ganz bestimmte Nachricht hast du ja doch niemals gehabt.« Solche Vermutungen wechselten hin und her, indem der Hausherr anspannen ließ, um seine Gattin holen zu lassen, die in der Nachbarschaft einen Besuch machte.

»Wenn ich Sie indessen, bis meine Frau kommt, auf meine Weise unterhalten und zugleich meine Geschäfte fortsetzen darf, so machen Sie einige Schritte mit mir aufs Feld und sehen sich um, wie ich meine Wirtschaft betreibe: denn gewiß ist Ihnen, als einem großen Gutsbesitzer, nichts angelegener als die edle Wissenschaft, die[136] edle Kunst des Feldbaues.« Lenardo widersprach nicht; Wilhelm unterrichtete sich gern; und der Landmann hatte seinen Grund und Boden, den er unumschränkt besaß und beherrschte, vollkommen gut inne; was er vornahm, war der Absicht gemäß; was er säete und pflanzte, durchaus am rechten Ort; er wußte die Behandlung und die Ursachen derselben so deutlich anzugeben, daß es ein jeder begriff und für möglich gehalten hätte, dasselbe zu tun und zu leisten: ein Wahn, in den man leicht verfällt, wenn man einem Meister zusieht, dem alles bequem von der Hand geht.

Die Fremden erzeigten sich sehr zufrieden und konnten nichts als Lob und Billigung erteilen. Er nahm es dankbar und freundlich auf, fügte jedoch hinzu: »Nun muß ich Ihnen aber auch meine schwache Seite zeigen, die freilich an jedem zu bemerken ist, der sich einem Gegenstand ausschließlich ergibt.« Er führte sie auf seinen Hof, zeigte ihnen seine Werkzeuge, den Vorrat derselben sowie den Vorrat von allem erdenklichen Geräte und dessen Zubehör. »Man tadelte mich oft«, sagte er dabei, »daß ich hierin zu weit gehe; allein ich kann mich deshalb nicht schelten. Glücklich ist der, dem sein Geschäft auch zur Puppe wird, der mit demselbigen zuletzt noch spielt und sich an dem ergötzt, was ihm sein Zustand zur Pflicht macht.«

Die beiden Freunde ließen es an Fragen und Erkundigungen nicht fehlen. Besonders erfreute sich Wilhelm an den allgemeinen Bemerkungen, zu denen dieser Mann aufgelegt schien, und verfehlte nicht, sie zu erwidern; indessen Lenardo, mehr in sich gekehrt, an dem Glück Valerinens, das er in diesem Zustande für gewiß hielt, stillen Teil nahm, obgleich mit einem leisen Gefühl von Unbehagen, von dem er sich keine Rechenschaft zu geben wußte.

Man war schon ins Haus zurückgekehrt, als der Wagen der Besitzerin vorfuhr. Man eilte ihr entgegen; aber wie erstaunte, wie erschrak Lenardo, als er sie aussteigen sah. Sie war es nicht, es war das nußbraune Mädchen nicht, vielmehr gerade das Gegenteil; zwar auch eine schöne, schlanke Gestalt, aber blond, mit allen Vorteilen, die Blondinen eigen sind.[137]

Diese Schönheit, diese Anmut erschreckte Lenardon. Seine Augen hatten das braune Mädchen gesucht; nun leuchtete ihm ein ganz anderes entgegen. Auch dieser Züge erinnerte er sich; ihre Anrede, ihr Betragen versetzten ihn bald aus jeder Ungewißheit: es war die Tochter des Gerichtshalters, der bei dem Oheim in großem Ansehen stand, deshalb denn auch dieser bei der Ausstattung sehr viel getan und dem neuen Paare behülflich gewesen. Dies alles und mehr noch wurde von der jungen Frau zum Antrittsgruße fröhlich erzählt, mit einer Freude, wie sie die Überraschung eines Wiedersehens ungezwungen äußern läßt. Ob man sich wiedererkenne, wurde gefragt; die Veränderungen der Gestalt wurden beredet, welche merklich genug bei Personen dieses Alters gefunden werden. Valerine war immer angenehm, dann aber höchst liebenswürdig, wenn Fröhlichkeit sie aus dem gewöhnlichen gleichgültigen Zustande herausriß. Die Gesellschaft ward gesprächig und die Unterhaltung so lebhaft, daß Lenardo sich fassen und seine Bestürzung verbergen konnte. Wilhelm, dem der Freund geschwind genug von diesem seltsamen Ereignis einen Wink gegeben hatte, tat sein mögliches, um diesem beizustehen; und Valerinens kleine Eitelkeit, daß der Baron, noch ehe er die Seinigen gesehen, sich ihrer erinnert, bei ihr eingekehrt sei, ließ sie auch nicht den mindesten Verdacht schöpfen, daß hier eine andere Absicht oder ein Mißgriff obwalte.

Man blieb bis tief in die Nacht beisammen, obgleich beide Freunde nach einem vertraulichen Gespräch sich sehnten, das denn auch sogleich begann, als sie sich in dem Gastzimmer allein sahen.

»Ich soll, so scheint es«, sagte Lenardo, »meine Qual nicht loswerden. Eine unglückliche Verwechslung des Namens, merke ich, verdoppelt sie. Diese blonde Schönheit habe ich oft mit jener Braunen, die man keine Schönheit nennen durfte, spielen sehen; ja ich trieb mich selbst mit ihnen, obgleich so vieles älter, in den Feldern und Gärten herum. Beide machten nicht den geringsten Eindruck auf mich, ich habe nur den Namen der einen behalten und ihn der andern beigelegt. Nun finde ich die, die mich nichts[138] angeht, nach ihrer Weise über die Maßen glücklich, indessen die andere, wer weiß wohin, in die Welt geworfen ist.«

Den folgenden Morgen waren die Freunde beinahe früher auf als die tätigen Landleute. Das Vergnügen, ihre Gäste zu sehen, hatte Valerinen gleichfalls zeitig geweckt. Sie ahnete nicht, mit welchen Gesinnungen sie zum Frühstück kamen. Wilhelm, der wohl einsah, daß ohne Nachricht von dem nußbraunen Mädchen Lenardo sich in der peinlichsten Lage befinde, brachte das Gespräch auf frühere Zeiten, auf Gespielen, aufs Lokal, das er selbst kannte, auf andere Erinnerungen, so daß Valerine zuletzt ganz natürlich darauf kam, des nußbraunen Mädchens zu erwähnen und ihren Namen auszusprechen.

Kaum hatte Lenardo den Namen Nachodine gehört, so entsann er sich dessen vollkommen; aber auch mit dem Namen kehrte das Bild jener Bittenden zurück, mit einer solchen Gewalt, daß ihm das Weitere ganz unerträglich fiel, als Valerine mit warmem Anteil die Auspfändung des frommen Pachters, seine Resignation und seinen Auszug erzählte, und wie er sich auf seine Tochter gelehnt, die ein kleines Bündel getragen. Lenardo glaubte zu versinken. Unglücklicher- und glücklicherweise erging sich Valerine in einer gewissen Umständlichkeit, die, Lenardon das Herz zerreißend, ihm dennoch möglich machte, mit Beihülfe seines Gefährten, einige Fassung zu zeigen.

Man schied unter vollen, aufrichtigen Bitten des Ehepaars um baldige Wiederkunft und einer halben, geheuchelten Zusage beider Gäste. Und wie dem Menschen, der sich selbst was Gutes gönnt, alles zum Glück schlägt, so legte Valerine zuletzt das Schweigen Lenardos, seine sichtbare Zerstreuung beim Abschied, sein hastiges Wegeilen zu ihrem Vorteil aus und konnte sich, obgleich treue und liebevolle Gattin eines wackern Landmanns, doch nicht enthalten, an einer wiederaufwachenden oder neuentstehenden Neigung, wie sie sich's auslegte, ihres ehemaligen Gutsherrn einiges Behagen zu finden.

Nach diesem sonderbaren Ereignis sagte Lenardo: »Daß wir, bei so schönen Hoffnungen, ganz nahe vor dem Hafen scheitern, darüber kann ich mich nur einigermaßen trösten,[139] mich nur für den Augenblick beruhigen und den Meinen entgegengehen, wenn ich betrachte, daß der Himmel Sie mir zugeführt hat, Sie, dem es bei seiner eigentümlichen Sendung gleichgültig ist, wohin und wozu er seinen Weg richtet. Nehmen Sie es über sich, Nachodinen aufzusuchen und mir Nachricht von ihr zu geben. Ist sie glücklich, so bin ich zufrieden; ist sie unglücklich, so helfen Sie ihr auf meine Kosten. Handeln Sie ohne Rücksichten, sparen, schonen Sie nichts.«

»Nach welcher Weltgegend aber«, sagte Wilhelm lächelnd, »hab' ich denn meine Schritte zu richten? Wenn Sie keine Ahnung haben, wie soll ich damit begabt sein?«

»Hören Sie!« antwortete Lenardo. »In voriger Nacht, wo Sie mich als einen Verzweifelnden rastlos auf und ab gehen sahen, wo ich leidenschaftlich in Kopf und Herzen alles durcheinanderwarf, da kam ein alter Freund mir vor den Geist, ein würdiger Mann, der, ohne mich eben zu hofmeistern, auf meine Jugend großen Einfluß gehabt hat. Gern hätt' ich mir ihn, wenigstens teilweise, als Reisegefährten erbeten, wenn er nicht wundersam durch die schönsten Kunst- und altertümlichen Seltenheiten an seine Wohnung geknüpft wäre, die er nur auf Augenblicke verläßt. Dieser, weiß ich, genießt einer ausgebreiteten Bekanntschaft mit allem, was in dieser Welt durch irgendeinen edlen Faden verbunden ist; zu ihm eilen Sie, ihm erzählen Sie, wie ich es vorgetragen, und es steht zu hoffen, daß ihm sein zartes Gefühl irgend einen Ort, eine Gegend andeuten werde, wo sie zu finden sein möchte. In meiner Bedrängnis fiel es mir ein, daß der Vater des Kindes sich zu den Frommen zählte, und ich ward im Augenblick fromm genug, mich an die moralische Weltordnung zu wenden und zu bitten: sie möge sich hier zu meinen Gunsten einmal wunderbar gnädig offenbaren.«

»Noch eine Schwierigkeit«, versetzte Wilhelm, »bleibt jedoch zu lösen: wo soll ich mit meinem Felix hin? denn auf so ganz ungewissen Wegen möcht' ich ihn nicht mit mir führen und ihn doch auch nicht gerne von mir lassen; denn mich dünkt, der Sohn entwickele sich nirgends besser als in Gegenwart des Vaters.«[140]

»Keineswegs!« erwiderte Lenardo, »dies ist ein holder väterlicher Irrtum: der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis zu seinem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen Fehlern er sich freut; deswegen die Alten schon zu sagen pflegten: ›Der Helden Söhne werden Taugenichtse‹, und ich habe mich weit genug in der Welt umgesehen, um hierüber ins klare zu kommen. Glücklicherweise wird unser alter Freund, an den ich Ihnen sogleich ein eiliges Schreiben verfasse, auch hierüber die beste Auskunft geben. Als ich ihn vor Jahren das letztemal sah, erzählte er mir gar manches von einer pädagogischen Verbindung, die ich nur für eine Art von Utopien halten konnte; es schien mir, als sei, unter dem Bilde der Wirklichkeit, eine Reihe von Ideen, Gedanken, Vorschlägen und Vorsätzen gemeint, die freilich zusammenhingen, aber in dem gewöhnlichen Laufe der Dinge wohl schwerlich zusammentreffen möchten. Weil ich ihn aber kenne, weil er gern durch Bilder das Mögliche und Unmögliche verwirklichen mag, so ließ ich es gut sein, und nun kommt es uns zugute; er weiß gewiß Ihnen Ort und Umstände zu bezeichnen, wie Sie Ihren Knaben getrost vertrauen und von einer weisen Leitung das Beste hoffen können.«

Im Dahinreiten sich auf diese Weise unterhaltend, erblickten sie eine edle Villa, die Gebäude im ernst-freundlichen Geschmack, freien Vorraum und in weiter, würdiger Umgebung wohlbestandene Bäume; Türen und Schaltern aber durchaus verschlossen, alles einsam, doch wohlerhalten anzusehn. Von einem ältlichen Manne, der sich am Eingang zu beschäftigen schien, erfuhren sie, dies sei das Erbteil eines jungen Mannes, dem es von seinem in hohem Alter erst kurz verstorbenen Vater soeben hinterlassen worden.

Auf weiteres Befragen wurden sie belehrt: dem Erben sei hier leider alles zu fertig, er habe hier nichts mehr zu tun und das Vorhandene zu genießen sei gerade nicht seine Sache; deswegen er sich denn ein Lokal näher am Gebirge ausgesucht, wo er für sich und seine Gesellen Mooshütten baue und eine Art von jägerischer Einsiedelei anlegen wolle. Was den Berichtenden selbst betraf, vernahmen sie, er sei der mitgeerbte Kastellan, sorge aufs genaueste für Erhaltung[141] und Reinlichkeit, damit irgendein Enkel, in die Neigung und Besitzung des Großvaters eingreifend, alles finde, wie dieser es verlassen hat.

Nachdem sie ihren Weg einige Zeit stillschweigend fortgesetzt, begann Lenardo mit der Betrachtung, daß es die Eigenheit des Menschen sei, von vorn anfangen zu wollen; worauf der Freund erwiderte, dies lasse sich wohl erklären und entschuldigen, weil doch, genau genommen, jeder wirklich von vorn anfängt. »Sind doch«, rief er aus, »keinem die Leiden erlassen, von denen seine Vorfahren gepeinigt wurden; kann man ihm verdenken, daß er von ihren Freuden nichts missen will?«

Lenardo versetzte hierauf: »Sie ermutigen mich zu gestehen, daß ich eigentlich auf nichts gerne wirken mag als auf das, was ich selbst geschaffen habe. Niemals mocht' ich einen Diener, den ich nicht vom Knaben heraufgebildet, kein Pferd, das ich nicht selbst zugeritten. In Gefolg dieser Sinnesart will ich denn auch gern bekennen, daß ich unwiderstehlich nach uranfänglichen Zuständen hingezogen werde, daß meine Reisen durch alle hochgebildeten Länder und Völker diese Gefühle nicht abstumpfen können, daß meine Einbildungskraft sich über dem Meer ein Behagen sucht und daß ein bisher vernachlässigter Familienbesitz in jenen frischen Gegenden mich hoffen läßt, ein im stillen gefaßter, meinen Wünschen gemäß nach und nach heranreifender Plan werde sich endlich ausführen lassen.«

»Dagegen wüßt' ich nichts einzuwenden«, versetzte Wilhelm, »ein solcher Gedanke, ins Neue und Unbestimmte gewendet, hat etwas Eigenes, Großes. Nur bitt' ich zu bedenken, daß ein solches Unternehmen nur einer Gesamtheit glücken kann. Sie gehen hinüber und finden dort schon Familienbesitzungen, wie ich weiß; die Meinigen hegen gleiche Plane und haben sich dort schon angesiedelt; vereinigen Sie sich mit diesen umsichtigen, klugen und kräftigen Menschen, für beide Teile muß sich dadurch das Geschäft erleichtern und erweitern.«

Unter solchen Gesprächen waren die Freunde an den Ort gelangt, wo sie nunmehr scheiden sollten. Beide setzten sich nieder, zu schreiben; Lenardo empfahl seinen Freund dem[142] oberwähnten sonderbaren Mann, Wilhelm trug den Zustand seines neuen Lebensgenossen den Verbündeten vor, woraus, wie natürlich, ein Empfehlungsschreiben entstand; worin er zum Schluß auch seine mit Jarno besprochene Angelegenheit empfahl und die Gründe nochmals auseinandersetzte, warum er von der unbequemen Bedingung, die ihn zum ewigen Juden stempelte, baldmöglichst befreit zu sein wünsche.

Beim Auswechseln dieser Briefe jedoch konnte sich Wilhelm nicht erwehren, seinem Freund nochmals gewisse Bedenklichkeiten ans Herz zu legen.

»Ich halte es«, sprach er, »in meiner Lage für den wünschenswertesten Auftrag, Sie, edler Mann, von einer Gemütsunruhe zu befreien und zugleich ein menschliches Geschöpf aus dem Elende zu retten, wenn es sich darin befinden sollte. Ein solches Ziel kann man als einen Stern ansehen, nach dem man schifft, wenn man auch nicht weiß, was man unterwegs antreffen, unterwegs begegnen werde. Doch darf ich mir dabei die Gefahr nicht leugnen, in der Sie auf jeden Fall noch immer schweben. Wären Sie nicht ein Mann, der durchaus sein Wort zu geben ablehnt, ich würde von Ihnen das Versprechen verlangen, dieses weibliche Wesen, das Ihnen so teuer zu stehen kommt, nicht wiederzusehen, sich zu begnügen, wenn ich Ihnen melde, daß es ihr wohlgeht; es sei nun, daß ich sie wirklich glücklich finde oder ihr Glück zu befördern imstande bin. Da ich Sie aber zu einem Versprechen weder vermögen kann noch will, so beschwöre ich Sie bei allem, was Ihnen wert und heilig ist, sich und den Ihrigen und mir, dem neuerworbenen Freund zuliebe, keine Annäherung, es sei unter welchem Vorwand es wolle, zu jener Vermißten sich zu erlauben; von mir nicht zu verlangen, daß ich den Ort und die Stelle, wo ich sie finde, die Gegend, wo ich sie lasse, näher bezeichne oder gar ausspreche: Sie glauben meinem Wort, daß es ihr wohl geht, und sind losgesprochen und beruhigt.«

Lenardo lächelte und versetzte: »Leisten Sie mir diesen Dienst, und ich werde dankbar sein. Was Sie tun wollen und können, sei Ihnen anheimgegeben, und mich überlassen Sie der Zeit, dem Verstande und wo möglich der Vernunft.«[143]

»Verzeihen Sie«, versetzte Wilhelm; »wer jedoch weiß, unter welchen seltsamen Formen die Neigung sich bei uns einschleicht, dem muß es bange werden, wenn er voraussieht, ein Freund könne dasjenige wünschen, was ihm in seinen Zuständen, seinen Verhältnissen notwendig Unglück und Verwirrung bringen müßte.«

»Ich hoffe«, sagte Lenardo, »wenn ich das Mädchen glücklich weiß, bin ich sie los.«

Die Freunde schieden, jeder nach seiner Seite.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 8, Hamburg 1948 ff, S. 128-144.
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Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

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