[132] Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt von mancherlei Gedanken, sitzend und vor sich hinsehend zugebracht hatte, schlenderte Philine singend zur Haustüre heraus, setzte sich[132] zu ihm, ja man dürfte beinahe sagen, auf ihn, so nahe rückte sie an ihn heran, lehnte sich auf seine Schultern, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt. Sie bat ihn, er möchte ja bleiben und sie nicht in der Gesellschaft allein lassen, in der sie vor langer Weile sterben müßte; sie könne nicht mehr mit Melina unter einem Dache ausdauern und habe sich deswegen herüberquartiert.
Vergebens suchte er sie abzuweisen, ihr begreiflich zu machen, daß er länger weder bleiben könne noch dürfe. Sie ließ mit Bitten nicht ab, ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens.
»Sind Sie toll, Philine?« rief Wilhelm aus, indem er sich loszumachen suchte, »die öffentliche Straße zum Zeugen solcher Liebkosungen zu machen, die ich auf keine Weise verdiene! Lassen Sie mich los, ich kann nicht und ich werde nicht bleiben.«
»Und ich werde dich festhalten«, sagte sie, »und ich werde dich hier auf öffentlicher Straße so lange küssen, bis du mir versprichst, was ich wünsche. Ich lache mich zu Tode«, fuhr sie fort; »nach dieser Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiß für deine Frau von vier Wochen, und die Ehemänner, die eine so anmutige Szene sehen, werden mich ihren Weibern als ein Muster einer kindlich unbefangenen Zärtlichkeit anpreisen.«
Eben gingen einige Leute vorbei, und sie liebkoste ihn auf das anmutigste, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle des geduldigen Ehemannes zu spielen. Dann schnitt sie den Leuten Gesichter im Rücken und trieb voll Übermut allerhand Ungezogenheiten, bis er zuletzt versprechen mußte, noch heute und morgen und übermorgen zu bleiben.
»Sie sind ein rechter Stock!« sagte sie darauf, indem sie von ihm abließ, »und ich eine Törin, daß ich so viel Freundlichkeit an Sie verschwende.« Sie stand verdrießlich auf und ging einige Schritte; dann kehrte sie lachend zurück und rief: »Ich glaube eben, daß ich darum in dich vernarrt bin, ich will nur gehen und meinen Strickstrumpf holen, daß ich[133] etwas zu tun habe. Bleibe ja, damit ich den steinernen Mann auf der steinernen Bank wiederfinde.«
Diesmal tat sie ihm Unrecht; denn so sehr er sich von ihr zu enthalten strebte, so würde er doch in diesem Augenblicke, hätte er sich mit ihr in einer einsamen Laube befunden, ihre Liebkosungen wahrscheinlich nicht unerwidert gelassen haben.
Sie ging, nachdem sie ihm einen leichtfertigen Blick zugeworfen, in das Haus. Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen in ihm erregt; doch hob er sich, ohne selbst recht zu wissen, warum, von der Bank, um ihr nachzugehen.
Er war eben im Begriff, in die Türe zu treten, als Melina herbeikam, ihn bescheiden anredete und ihn wegen einiger im Wortwechsel zu hart ausgesprochenen Ausdrücke um Verzeihung bat. »Sie nehmen mir nicht übel«, fuhr er fort, »wenn ich in dem Zustande, in dem ich mich befinde, mich vielleicht zu ängstlich bezeige; aber die Sorge für eine Frau, vielleicht bald für ein Kind, verhindert mich von einem Tag zum andern, ruhig zu leben und meine Zeit mit dem Genuß angenehmer Empfindungen hinzubringen, wie Ihnen noch erlaubt ist. Überdenken Sie, und wenn es Ihnen möglich ist, so setzen Sie mich in den Besitz der theatralischen Gerätschaften, die sich hier vorfinden. Ich werde nicht lange Ihr Schuldner und Ihnen dafür ewig dankbar bleiben.«
Wilhelm, der sich ungern auf der Schwelle aufgehalten sah, über die ihn eine unwiderstehliche Neigung in diesem Augenblicke zu Philinen hinüberzog, sagte mit einer überraschten Zerstreuung und eilfertigen Gutmütigkeit: »Wenn ich Sie dadurch glücklich und zufrieden machen kann, so will ich mich nicht länger bedenken. Gehn Sie hin, machen Sie alles richtig. Ich bin bereit, noch diesen Abend oder morgen früh das Geld zu zahlen.« Er gab hierauf Melinan die Hand zur Bestätigung seines Versprechens und war sehr zufrieden, als er ihn eilig über die Straße weggehen sah; leider aber wurde er von seinem Eindringen ins Haus zum zweitenmal und auf eine unangenehmere Weise zurückgehalten.
Ein junger Mensch mit einem Bündel auf dem Rücken[134] kam eilig die Straße her und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich für Friedrichen erkannte.
»Da bin ich wieder!« rief er aus, indem er seine großen blauen Augen freudig umher und hinauf an alle Fenster gehen ließ; »wo ist Mamsell? Der Henker mag es länger in der Welt aushalten, ohne sie zu sehen!«
Der Wirt, der eben dazugetreten war, versetzte: »Sie ist oben«, und mit wenigen Sprüngen war er die Treppe hinauf, und Wilhelm blieb auf der Schwelle wie eingewurzelt stehen. Er hätte in den ersten Augenblicken den Jungen bei den Haaren rückwärts die Treppe herunterreißen mögen; dann hemmte der heftige Krampf einer gewaltsamen Eifersucht auf einmal den Lauf seiner Lebensgeister und seiner Ideen, und da er sich nach und nach von seiner Erstarrung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben noch nicht empfunden hatte.
Er ging auf seine Stube und fand Mignon mit Schreiben beschäftigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund das Geschriebene zu korrigieren gegeben. Sie war unermüdet und faßte gut; aber die Buchstaben blieben ungleich und die Linien krumm. Auch hier schien ihr Körper dem Geist zu widersprechen. Wilhelm, dem die Aufmerksamkeit des Kindes, wenn er ruhigen Sinnes war, große Freude machte, achtete diesmal wenig auf das, was sie ihm zeigte; sie fühlte es und betrübte sich darüber nur desto mehr, als sie glaubte, diesmal ihre Sache recht gut gemacht zu haben.
Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gängen des Hauses auf und ab und bald wieder an die Haustüre. Ein Reiter sprengte vor, der ein gutes Ansehn hatte, und der bei gesetzten Jahren noch viel Munterkeit verriet. Der Wirt eilte ihm entgegen, reichte ihm als einem bekannten Freunde die Hand und rief: »Ei, Herr Stallmeister, sieht man Sie auch einmal wieder!«
»Ich will nur hier füttern«, versetzte der Fremde, »ich muß gleich hinüber auf das Gut, um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu lassen. Der Graf kömmt morgen mit seiner Gemahlin, sie werden sich eine Zeitlang drüben aufhalten,[135] um den Prinzen von *** auf das beste zu bewirten, der in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier aufschlägt.«
»Es ist schade, daß Sie nicht bei uns bleiben können«, versetzte der Wirt; »wir haben gute Gesellschaft.« Der Reitknecht, der nachsprengte, nahm dem Stallmeister das Pferd ab, der sich unter der Türe mit dem Wirt unterhielt und Wilhelmen von der Seite ansah.
Dieser, da er merkte, daß von ihm die Rede sei, begab sich weg und ging einige Straßen auf und ab.
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Wilhelm Meisters Lehrjahre
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