Neuntes Kapitel

[181] Das Verhältnis des Barons zu den Schauspielern hatte seit ihrem Aufenthalte im Schlosse verschiedene Veränderungen erlitten. Im Anfange gereichte es zu beiderseitiger Zufriedenheit; denn indem der Baron das erste Mal in seinem Leben eines seiner Stücke, mit denen er ein Gesellschaftstheater schon belebt hatte, in den Händen wirklicher Schauspieler und auf dem Wege zu einer anständigen Vorstellung sah, war er von dem besten Humor, bewies sich freigebig und kaufte bei jedem Galanteriehändler, deren sich manche einstellten, kleine Geschenke für die Schauspielerinnen und wußte den Schauspielern manche Bouteille Champagner extra zu verschaffen; dagegen gaben sie sich auch mit seinen Stücken alle Mühe, und Wilhelm sparte keinen Fleiß, die herrlichen Reden des vortrefflichen Helden, dessen Rolle ihm zugefallen war, auf das genaueste zu memorieren.

Indessen hatten sich doch auch nach und nach einige Mißhelligkeiten eingeschlichen. Die Vorliebe des Barons für gewisse Schauspieler wurde von Tag zu Tag merklicher, und notwendig mußte dies die übrigen verdrießen. Er erhob seine Günstlinge ganz ausschließlich und brachte dadurch Eifersucht und Uneinigkeit unter die Gesellschaft. Melina, der sich bei streitigen Fällen ohnehin nicht zu helfen wußte, befand sich in einem sehr unangenehmen Zustande. Die Gepriesenen nahmen das Lob an, ohne sonderlich dankbar zu sein, und die Zurückgesetzten ließen auf allerlei Weise ihren Verdruß spüren und wußten ihrem erst hochverehrten Gönner den Aufenthalt unter ihnen auf eine oder die andere Weise unangenehm zu machen; ja es war ihrer Schadenfreude keine geringe Nahrung, als ein gewisses Gedicht, dessen Verfasser man nicht kannte, im Schlosse viel Bewegung verursachte. Bisher hatte man sich immer, doch auf[181] eine ziemlich feine Weise, über den Umgang des Barons mit den Komödianten aufgehalten, man hatte allerlei Geschichten auf ihn gebracht, gewisse Vorfälle ausgeputzt und ihnen eine lustige und interessante Gestalt gegeben. Zuletzt fing man an zu erzählen, es entstehe eine Art von Handwerksneid zwischen ihm und einigen Schauspielern, die sich auch einbildeten, Schriftsteller zu sein, und auf diese Sage gründet sich das Gedicht, von welchem wir sprachen, und welches lautete, wie folgt:


Ich armer Teufel, Herr Baron,

Beneide Sie um Ihren Stand,

Um Ihren Platz so nah am Thron,

Und um manch schön Stück Ackerland,

Um Ihres Vaters festes Schloß,

Um seine Wildbahn und Geschoß.


Mich armen Teufel, Herr Baron,

Beneiden Sie, so wie es scheint,

Weil die Natur vom Knaben schon

Mit mir es mütterlich gemeint.

Ich ward mit leichtem Mut und Kopf

Zwar arm, doch nicht ein armer Tropf.


Nun dächt' ich, lieber Herr Baron,

Wir ließen's beide, wie wir sind:

Sie blieben des Herrn Vaters Sohn,

Und ich blieb' meiner Mutter Kind.

Wir leben ohne Neid und Haß,

Begehren nicht des andern Titel,

Sie keinen Platz auf dem Parnaß,

Und keinen ich in dem Kapitel.


Die Stimmen über dieses Gedicht, das in einigen fast unleserlichen Abschriften sich in verschiedenen Händen befand, waren sehr geteilt, auf den Verfasser aber wußte niemand zu mutmaßen, und als man mit einiger Schadenfreude sich darüber zu ergötzen anfing, erklärte sich Wilhelm sehr dagegen.

»Wir Deutschen«, rief er aus, »verdienten, daß unsere Musen in der Verachtung blieben, in der sie so lange geschmachtet[182] haben, da wir nicht Männer vom Stande zu schätzen wissen, die sich mit unserer Literatur auf irgendeine Weise abgeben mögen. Geburt, Stand und Vermögen stehen in keinem Widerspruch mit Genie und Geschmack, das haben uns fremde Nationen gelehrt, welche unter ihren besten Köpfen eine große Anzahl Edelleute zählen. War es bisher in Deutschland ein Wunder, wenn ein Mann von Geburt sich den Wissenschaften widmete, wurden bisher nur wenige berühmte Namen durch ihre Neigung zu Kunst und Wissenschaft noch berühmter; stiegen dagegen manche aus der Dunkelheit hervor und traten wie unbekannte Sterne an den Horizont, so wird das nicht immer so sein, und wenn ich mich nicht sehr irre, so ist die erste Klasse der Nation auf dem Wege, sich ihrer Vorteile auch zur Erringung des schönsten Kranzes der Musen in Zukunft zu bedienen. Es ist mir daher nichts unangenehmer, als wenn ich nicht allein den Bürger oft über den Edelmann, der die Musen zu schätzen weiß, spotten, sondern auch Personen von Stande selbst mit unüberlegter Laune und niemals zu billigender Schadenfreude ihresgleichen von einem Wege abschrecken sehe, auf dem einen jeden Ehre und Zufriedenheit erwartet.«

Es schien die letzte Äußerung gegen den Grafen gerichtet zu sein, von welchem Wilhelm gehört hatte, daß er das Gedicht wirklich gut finde. Freilich war diesem Herrn, der immer auf seine Art mit dem Baron zu scherzen pflegte, ein solcher Anlaß sehr erwünscht, seinen Verwandten auf alle Weise zu plagen. Jedermann hatte seine eigenen Mutmaßungen, wer der Verfasser des Gedichtes sein könnte, und der Graf, der sich nicht gern im Scharfsinn von jemand übertroffen sah, fiel auf einen Gedanken, den er sogleich zu beschwören bereit war: das Gedicht könnte sich nur von seinem Pedanten herschreiben, der ein sehr feiner Bursche sei, und an dem er schon lange so etwas poetisches Genie gemerkt habe. Um sich ein rechtes Vergnügen zu machen, ließ er deswegen an einem Morgen diesen Schauspieler rufen, der ihm in Gegenwart der Gräfin, der Baronesse und Jarnos das Gedicht nach seiner Art vorlesen mußte und dafür Lob, Beifall und ein Geschenk einerntete und die Frage[183] des Grafen, ob er nicht sonst noch einige Gedichte von früheren Zeiten besitze, mit Klugheit abzulehnen wußte. So kam der Pedant zum Rufe eines Dichters, eines Witzlings und in den Augen derer, die dem Baron günstig waren, eines Pasquillanten und schlechten Menschen. Von der Zeit an applaudierte ihm der Graf nur immer mehr, er mochte seine Rolle spielen, wie er wollte, so daß der arme Mensch zuletzt aufgeblasen, ja beinahe verrückt wurde und darauf sann, gleich Philinen ein Zimmer im Schlosse zu beziehen.

Wäre dieser Plan sogleich zu vollführen gewesen, so möchte er einen großen Unfall vermieden haben. Denn als er eines Abends spät nach dem alten Schlosse ging und in dem dunkeln, engen Wege herumtappte, ward er auf einmal angefallen, von einigen Personen festgehalten, indessen andere auf ihn wacker losschlugen und ihn im Finstern so zerdraschen, daß er beinahe liegenblieb und nur mit Mühe zu seinen Kameraden hinaufkroch, die, so sehr sie sich entrüstet stellten, über diesen Unfall ihre heimliche Freude fühlten und sich kaum des Lachens erwehren konnten, als sie ihn so wohl durchwalkt und seinen neuen braunen Rock über und über weiß, als wenn er mit Müllern Händel gehabt, bestäubt und befleckt sahen.

Der Graf, der sogleich hiervon Nachricht erhielt, brach in einen unbeschreiblichen Zorn aus. Er behandelte diese Tat als das größte Verbrechen, qualifizierte sie zu einem beleidigten Burgfrieden und ließ durch seinen Gerichtshalter die strengste Inquisition vornehmen. Der weißbestäubte Rock sollte eine Hauptanzeige geben. Alles, was nur irgend mit Puder und Mehl im Schlosse zu schaffen haben konnte, wurde mit in die Untersuchung gezogen; jedoch vergebens.

Der Baron versicherte bei seiner Ehre feierlich: jene Art zu scherzen habe ihm freilich sehr mißfallen, und das Betragen des Herrn Grafen sei nicht das freundschaftlichste gewesen, aber er habe sich darüber hinauszusetzen gewußt, und an dem Unfall, der dem Poeten oder Pasquillanten, wie man ihn nennen wolle, begegnet, habe er nicht den mindesten Anteil.[184]

Die übrigen Bewegungen der Fremden und die Unruhe des Hauses brachten bald die ganze Sache in Vergessenheit, und der unglückliche Günstling mußte das Vergnügen, fremde Federn eine kurze Zeit getragen zu haben, teuer bezahlen.

Unsere Truppe, die regelmäßig alle Abende fortspielte und im ganzen sehr wohl gehalten wurde, fing nun an, je besser es ihr ging, desto größere Anforderungen zu machen. In kurzer Zeit war ihnen Essen, Trinken, Aufwartung, Wohnung zu gering, und sie lagen ihrem Beschützer, dem Baron, an, daß er für sie besser sorgen und ihnen zu dem Genusse und der Bequemlichkeit, die er ihnen versprochen, doch endlich verhelfen solle. Ihre Klagen wurden lauter, und die Bemühungen ihres Freundes, ihnen genugzutun, immer fruchtloser.

Wilhelm kam indessen, außer in Proben und Spielstunden, wenig mehr zum Vorscheine. In einem der hintersten Zimmer verschlossen, wozu nur Mignon und dem Harfner der Zutritt gerne verstattet wurde, lebte und webte er in der shakespearischen Welt, so daß er außer sich nichts kannte noch empfand.

Man erzählt von Zauberern, die durch magische Formeln eine ungeheure Menge allerlei geistiger Gestalten in ihre Stube herbeiziehen. Die Beschwörungen sind so kräftig, daß sich bald der Raum des Zimmers ausfüllt, und die Geister, bis an den kleinen gezogenen Kreis hinangedrängt, um denselben und über dem Haupte des Meisters in ewig drehender Verwandlung sich bewegend vermehren. Jeder Winkel ist vollgepfropft und jedes Gesims besetzt. Eier dehnen sich aus, und Riesengestalten ziehen sich in Pilze zusammen. Unglücklicherweise hat der Schwarzkünstler das Wort vergessen, womit er diese Geisterflut wieder zur Ebbe bringen könnte. – So saß Wilhelm, und mit unbekannter Bewegung wurden tausend Empfindungen und Fähigkeiten in ihm rege, von denen er keinen Begriff und keine Ahnung gehabt hatte. Nichts konnte ihn aus diesem Zustande reißen, und er war sehr unzufrieden, wenn irgend jemand zu kommen Gelegenheit nahm, um ihn von dem, was auswärts vorging, zu unterhalten.[185]

So merkte er kaum auf, als man ihm die Nachricht brachte, es sollte in dem Schloßhofe eine Exekution vorgehen und ein Knabe gestäupt werden, der sich eines nächtlichen Einbruchs verdächtig gemacht habe und, da er den Rock eines Perückenmachers trage, wahrscheinlich mit unter den Meuchlern gewesen sei. Der Knabe leugne zwar auf das hartnäckigste, und man könne ihn deswegen nicht förmlich bestrafen, wolle ihm aber als einem Vagabunden einen Denkzettel geben und ihn weiterschicken, weil er einige Tage in der Gegend herumgeschwärmt sei, sich des Nachts in den Mühlen aufgehalten, endlich eine Leiter an eine Gartenmauer angelehnt habe und herübergestiegen sei.

Wilhelm fand an dem ganzen Handel nichts sonderlich merkwürdig, als Mignon hastig hereinkam und ihm versicherte, der Gefangene sei Friedrich, der sich seit den Händeln mit dem Stallmeister von der Gesellschaft und aus unsern Augen verloren hatte.

Wilhelm, den der Knabe interessierte, machte sich eilends auf und fand im Schloßhofe schon Zurüstungen. Denn der Graf liebte die Feierlichkeit auch in dergleichen Fällen. Der Knabe wurde herbeigebracht: Wilhelm trat dazwischen und bat, daß man innehalten möchte, indem er den Knaben kenne und vorher erst verschiedenes seinetwegen anzubringen habe. Er hatte Mühe, mit seinen Vorstellungen durchzudringen, und erhielt endlich die Erlaubnis, mit dem Delinquenten allein zu sprechen. Dieser versicherte, von dem Überfall, bei dem ein Akteur sollte gemißhandelt worden sein, wisse er gar nichts. Er sei nur um das Schloß herumgestreift und des Nachts hereingeschlichen, um Philinen aufzusuchen, deren Schlafzimmer er ausgekundschaftet gehabt und es auch gewiß würde getroffen haben, wenn er nicht unterwegs aufgefangen worden wäre.

Wilhelm, der zur Ehre der Gesellschaft das Verhältnis nicht gerne entdecken wollte, eilte zu dem Stallmeister und bat ihn, nach seiner Kenntnis der Person und des Hauses diese Angelegenheit zu vermitteln und den Knaben zu befreien.

Dieser launige Mann erdachte unter Wilhelms Beistand eine kleine Geschichte, daß der Knabe zur Truppe gehört[186] habe, von ihr entlaufen sei, doch wieder gewünscht, sich bei ihr einzufinden und aufgenommen zu werden. Er habe deswegen die Absicht gehabt, bei Nachtzeit einige seiner Gönner aufzusuchen und sich ihnen zu empfehlen. Man bezeugte übrigens, daß er sich sonst gut aufgeführt, die Damen mischten sich darein, und er ward entlassen.

Wilhelm nahm ihn auf, und er war nunmehr die dritte Person der wunderbaren Familie, die Wilhelm seit einiger Zeit als seine eigene ansah. Der Alte und Mignon nahmen den Wiederkehrenden freundlich auf, und alle drei verbanden sich nunmehr, ihrem Freunde und Beschützer aufmerksam zu dienen und ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7, Hamburg 1948 ff, S. 181-187.
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