1815

625.*


1815, Januar (?).


Bei den Proben der »Zenobia« von Calderon

Bei der ersten Theaterprobe zur »Zenobia« sollte Unzelmann, welcher den Soldaten spielte, das Unglück treffen, Goethes Zorn zu erregen. Er war einer der fleißigsten Schauspieler und ein Liebling Goethes, aber er gehörte auch zu denen, die sich durch ein Zorneswort des Meisters nicht einschüchtern ließen. Bei jener Probe nun trat Unzelmann mit der Rolle in der Hand auf die Scene und las dieselbe ab. Sogleich ertönte mächtig Goethes Stimme aus seiner Loge, die sich im Hintergrund des Parterre befand: »Ich bin es nicht gewohnt, daß man seine Aufgaben abliest!« Unzelmann entschuldigte sich mit dem Bemerken, daß seine Frau seit mehreren Tagen krank darniederliege und er deshalb nicht zum Lernen hätte kommen können. »Ei was!« rief Goethe: »der Tag hat vierundzwanzig[169] Stunden, die Nacht mit eingerechnet.« Unzelmann trat bis in das Proscenium vor und sagte: »Ew. Excellenz haben vollkommen recht: der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet. Aber ebensogut wie der Staatsmann und Dichter der Nachtruhe bedarf, ebensogut bedarf ihrer der arme Schauspieler, der öfters Possen reißen muß, wenn ihm das Herz blutet. Ew. Excellenz wissen, daß ich stets meiner Pflicht nachkomme, aber in solchem Falle bin ich wohl zu entschuldigen.« Diese kühne Rede erregte allgemeines Erstaunen und jeder stand erwartungsvoll, was nun kommen würde. Nach einer Pause rief Goethe mit kräftiger Stimme: »Die Antwort paßt! Weiter!«

In dieser Probe sollte noch ein Unglücklicher an die Reihe kommen, und dieser Unglückliche war ich [Eduard Genast]. Ich spielte den Hauptmann der Zenobia, der den Aurelianus gefangen zu nehmen und nur wenige Worte zu sprechen hat. Mit großer Sicherheit trat ich aus der vierten Coulisse heraus und schritt mit Würde, um die Heldenthat, die Gefangennahme des Aurelianus, zu vollbringen. Da ertönte es: »Schlecht! So nimmt man keinen Kaiser gefangen. Noch einmal!« Ich kam also noch einmal, dann zum dritten, vierten und fünften Mal, und immer blieb der Ausspruch derselbe, nur daß er bei jeder Wiederholung markiger wurde. Ganz zerknirscht wagte ich endlich die bescheidene Frage: »Excellenz, wie soll ich's denn nur machen?« – »Anders!« war die belehrende Antwort.[170] Ja, das war leicht gesagt, aber wie? Mein Herr Papa, der seinen Sitz rechts im Proscenium hatte, warf mir schon längst ingrimmige Blicke zu; ja, der hatte gut werfen, ich hätte mich lieber selbst hinauswerfen mögen, um der Qual und Schande zu entgehen. So trat ich denn den schauerlichen Gang zum sechsten Mal an, um dem Willen Goethes nachzukommen und es »anders« zu machen, aber es blieb beim alten. Da rief der Gewaltige: »Ich werde es Dir vormachen.« Nach einer Weile betrat er in seinem langen blauen Radmantel, den Hut halb schräg auf seinem Jupiterhaupte, die Bühne. Er nahm mir das Schwert aus der Hand, stellte mich als Zuschauer in den Vordergrund der Bühne und kam nun mit einem martialischen Gesicht und – ich kann's nicht anders bezeichnen – mit Hahnenschritten im raschesten Tempo auf den Aurelianus losgestürzt, das Schwert drohend über dessen Haupt schwingend. Das war allerdings ganz anders, wie ich es gemacht hatte, aber ich wußte nun, wie er es wollte und ahmte ihm treu nach. Da kniff er mich mit dem Zeige- und Mittelfinger, wie seine Art war, wenn er seine Zufriedenheit zu erkennen geben wollte, in die Backe, daß ich hätte laut aufschreien mögen, und ging dann wieder hinab in seine Loge. Mein Vater wandte sich mit einem sarkastisch-freundlichen Lächeln gegen mich und flüsterte mir über die Achsel zu: »Ich breche Dir den Hals, wenn Du es so machst!« Ich stand da, wie gewisse Thiere am[171] Berge, der Papa aber fuhr fort: »Wenn wir nach Hause kommen, werde ich Dir schon erklären, wie es Goethe meint.«

Bei der Hauptprobe sollte Goethe nochmals in Harnisch gebracht werden. Sein Princip war, diese gleichsam als die erste Vorstellung zu betrachten, darum durfte kein Unberufener während der Handlung auf der Scene stehen, oder auch nur den Kopf aus der Coulisse stecken. Letzteres Verbrechen ließ sich in dieser Probe ein ästhetischer Maschinist mit einem gewaltig dicken Schädel zu schulden kommen. Sogleich donnerte Goethe herauf: »Herr G'nast! Schaffen Sie mir den ungehörigen Kopf aus der ersten Coulisse rechts, der mit unanständiger Neugier sich in den Rahmen meines Bildes drängt.«[172]


626.*


1815, 31. Januar.


Über »Zenobia«

In Weimar bei Goethe nach der Vorstellung der »Großen Zenobia« des Calderon (30. Januar). Goethe sehr freundlich und gesprächig. Er legte besonders Gewicht auf den guten Humor, womit das Verhältniß zwischen Zenobia und Decius durchgeführt worden. – Calderon ein großer Dichter; nur eine gewisse freche Rhetorik müsse man ihm zugestehen. – »Der standhafte Prinz« standhaft nicht sowohl für den Glauben, als für Portugals Größe und Ehre.[172]


1668.*


1815, 25. März.


Mit Christian Gottlob von Voigt

Die Meinungen über Frankreichs Schicksal sind sehr schwankend. Ihro Excellenz Herr Geheimer Rath v. Goethe glaubt, daß eine neue Revolution in Paris sehr wahrscheinlich sei.[72]


627.*


1815, 18. April.


Mit Friedrich von Müller

und Heinrich Meyer

Ich begab mich heute zu Goethe, um ihm die mir anvertrauten Zeichnungen der Prinzeß Julie [Gräfin Julie von Egloffstein] vorzulegen. Dort traf ich auch den Hofrath Meyer. Zunächst legte ich die Zeichnungen vor, zu welchen der Zauberring [Ritterroman von Fouqué] die Sujets geliefert hatte. Nach einem sorgsamen Überblick äußerte sich Goethe: »Nun, das holde Kind soll höchlich gelobt sein. So viel reine Intention, so liebliche Anordnung, so zierlich nette Ausführung und so viel Freiheit in der Bewegung verrathen ein herrliches Naturell, das auf dem Wege der vollständigsten Ausbildung schon weit genug vorgeschritten ist.« Ja ja, fügte Meyer hinzu, es ist gar erfreulich, ein so hübsches Talent sich aus sich selbst heraus entwickeln zu sehen. Nur Studium der Perspective wäre noch zu wünschen und einige theoretische Aufklärung über Beleuchtung und Schatten. »Das ist's,« sprach Goethe, »aber kein Buch und selbst keine Intuition der Meisterwerke kann diesem Mangel abhelfen; es wäre erforderlich sich mündlich zu verständigen, zwei, drei ihr klar entwickelte Grundbegriffe würden Wunder thun und ihr schnell das Verständniß öffnen, worauf es noch ankommt, um auch die letzte Stufe der künstlerischen Ausbildung noch erklimmen zu können. Doch solche Offenbarung muß der Zufall herbeiführen, er ist ja immer[173] schönen Naturen günstig.« Meyer: Und so muß man auch bei einem so sinnigen Gemüthe nicht viel hofmeistern wollen. Ich möchte wohl sagen, der beste Rath für sie sei, sich ihrer innern Eingebung recht frei zu überlassen. Kenntniß der Anatomie und ganz probefeste Zeichnung von ihr zu fordern, wäre thöricht; aber wundern mag man sich wohl, daß dem ohngeachtet die Proportionen ihrer Figuren und Gruppen auch dem schärfern Blick so wenig Anstoß geben. Goethe: Sehen Sie nur, wie hübsch Bertha und Otto am Bache componirt sind. Dieß zierlich reine Mädchengesicht, diese allerliebste Wendung des Köpfchens und Oberleibs kann nur aus einer reinen Mädchenphantasie entsprungen sein. Wie weit ist sie nicht vorgerückt, seit wir zum letzten Male Proben ihres Talentes sahen. Die Stufe der Flaxmannischen Umrisse hat sie schon glücklich überschritten, und es richtig geahndet, wie jene bedeutsam leeren Räume auszuschütten wären. Sie darf zu jener niedern Stufe nicht wieder zurückkehren wollen und sie kann es auch nicht, so wenig als ein Kind wieder in Mutterleib zurück kann. Auf dem Bilde, wo dem alten Ritter von fern das holde Paar zueilt, hat sie zwar noch à la Flaxmann die mittleren Räume ganz leer gelassen, aber man sieht deutlich, daß sie nur verschmähte, etwas minder Bedeutsames hinzuzufügen und wohl richtig ahnen mochte, was eigentlich noch hingehöre. Es ist etwas so anmuthig Jungfräuliches in diesen Zeichnungen, so viel Einfachheit und Verachtung[174] überflüssiger Zierrath. Gerade so viel örtliche Unterlage als nöthig war zu individualisiren. Wie sauber sind z.B. das gothische Fenster und die Blätterranken gezeichnet, wo Bertha sich herausbiegt. Ich kenne den Zauberring nicht und werde ihn niemals lesen, denn das ist mir verboten von meinem Obern; aber dieses Bild hat Zauberreiz genug für mich, um es auch ganz isolirt zu verstehen und zu lieben. Sehen Sie den Brief hier unten, wie artig arglos angebracht, und das spähende Mädchenauge verräth doch hinlänglich, was sie so sehnend suche. Welch kräftigen Druckes hat der Bleistift der Zeichnerin dem Auge des Otto gegeben, wie er vor Frau Minnetrost kniet; ei ei, das schöne Kind muß doch auch wohl verliebte Augen schon in anmuthiger Nähe gesehen haben, weil sie dem Jüngling hier so glühende Liebesblicke einhauchen konnte. Wie rein ist die Seele, die sich auf Bertha's betendem Antlitz spiegelt! Aber der Türke hinter ihr ist auch schon ein ganz zahmer Türke geworden.

Ich holte nun auch die mir anvertrauten Landschaftszeichnungen herbei, und es ist schwer auzusprechen, wie viel heitern Genuß sie den beiden Kunstfreunden gewährten. Vorzüglich rühmten sie das ruhige tiefe Gemüth und die innigste Anschauung des äußerlich Bedeutenden, sodann die freie Behandlung schwieriger Gegenstände und die Liebe und reinliche Sorgfalt, mit der auch das kleinste Detail behandelt sei. Goethe: Hier, dieß kleine Blatt, so scheinbar unvollendet, so[175] herausgehoben, wie aus einem größern Ganzen; gleichsam ein Anklang, Probestückchen, es ist fürwahr mir das Erste und Liebste. Macht es denn wohl Friedrich je besser? Meyer: Und noch dazu lange nicht so anmuthig. Goethe: Seht nur doch diesen Faltenwurf an der sitzenden, lesenden weiblichen Figur, diese anmuthige Behandlung des Untertheils; sollte man nicht glauben, unser holdes Kind habe den Andreas del Sarto studirt? Wahrlich! wenn hier nicht das glücklichste Naturell sich ankündet, so giebt es niemals eins. Und wie großartig sind diese Felsenpartien behandelt, jene Linde, wie durchsichtig und üppig! In dieser Müllerin mit dem Kinde ist die individuellste Natur erlauscht und hier der isolirten ländlichen Hütte, die uns so stumm beredt in die freundlich kleine Thür einzutreten ladet, fehlt nur noch rechts etwas, mehr Freiheit des Blicks, etwas mehr Keckheit in der Begrenzung, um ganz vortrefflich zu sein. Sprecht nur, alter Herr (zu Meyer), Ihr hocherleuchteter Kritiker, wo ist denn sonst noch etwas zu tadeln? Was möchte man denn im geringsten anders wünschen. Meyer: Es ist eben alles recht, heiter und lieblich gedacht, und reinlich und zart ausgeführt, wie es einem wohlthun mag, es anzuschauen. Man sieht, ihr Instinct leitet sie ganz richtig und so soll sie ihm nur immer folgen und sich mehr und mehr an Mannichfaltigem versuchen, da sie des Einzelnen schon so Herrin ist. Goethe: Hat denn Scherer jemals so artige Figuren, so runde nette Compositionen[176] gemacht? Was an Rambergen Gutes ist, das sieht man in ihren Zeichnungen wohl hier und da durchblitzen, aber von seinen Fehlern finde ich nichts. Nun mit einem Worte schreiben Sie dem schönen lieben Kinde, es solle gar hoch gelobt sein, und es sei nur dies bitter und streng an ihr zu tadeln, daß sie uns so fern sei und so fern bleiben zu wollen Miene mache.

Aber sogleich gebe ich die freundlichen Zeichnungen nicht zurück, Ihr müßt sie schon einige Tage unter meinem Dache lassen, daß ich sie sehe und wieder sehe und mich recht heimlich ihrer freue.[177]


1519.*


1815, 24. (?) Mai.


Mit Gustav Schwab, Eduard Müller und Lempp


a.

Mit guten Empfehlungsschreiben versehen eilten sie zu Goethe. Er empfing sie freundlich; ganz in schwarz[339] gekleidet, stand der schöne Greis nahe an der Schwelle, erkundigte sich nach ihrem Reiseplan, hieß sie sitzen und setzte sich so vertraulich zu ihnen, daß bald alle Scheue verschwand und sie ihm getrost in die dunkelglühenden Augen unter der sparsam weißgelockten Stirn blickten. Er sprach mit ihnen über das Reisen, über Deutschland und über das Theater. Er war selbst im Begriff eine Reise anzutreten, lud aber die jungen Männer ein, wenn der Rückweg sie wieder über Weimar führen sollte, ihn zu besuchen.


b.

In Weimar war es sein [Schwab's] erstes, Goethe zu besuchen und er konnte es nicht wohl ablehnen, auch seine Reisebegleiter zu ihm mitzunehmen. Goethe empfing sie sehr freundlich, bedauerte aber, daß er ihnen nichts Angenehmes erweisen könne, da er im Begriff sei, eine Reise anzutreten; er lud sie aber ein, wenn sie wieder nach Weimar kämen, miteinander oder jeder einzeln, ihn gewiß nicht zu umgehen.[340]


628.*


1815, 12. Mai.


Mit Friedrich von Müller

und Heinrich Karl Friedrich Peucer

Ich kam Nachmittags 4 1/2 Uhr zu ihm und traf Peucern an. Nach einigen Mystificationen und humoristischen Ausfällen über die tragische Kunde von v. Müfflings Unfall in Lüttich, womit – wie er sagte – ich ihm vorgestern den Theaterspaß versalzen hätte, lenkte sich bald das Gespräch auf die bekannte Wiener Achtserklärung gegen Napoleon vom 13. März d. J. Goethe äußerte, er hoffe, Gentz habe als ein schlauer Fuchs das Volk dadurch nur elektrisiren wollen und den kecken Aufruf zum Reizmittel gebraucht, wohl wissend übrigens, daß es mit diesem Bann ganz dieselbe Bewandtniß[177] habe, wie mit dem vom Vatican herabgeschleuderten. Die deutsche Hypochondrie müsse von Zeit zu Zeit durch solche Theater-Coups aufgeregt werden und selbst falsche Siegesnachrichten seien oft dazu sehr dienlich, indem sie über die momentane Gefahr den Schleier der Hoffnung würfen.

Er nahm hiervon Gelegenheit von seinen in der Campagne 1792 und bei Mainz das Jahr darauf bestandenen Gefahren zu erzählen, insbesondere von der famosen Kanonade bei Valmy, wie da die Pferde, gleich Sturm umwogten Fichten, schnaubend hin- und hergeschwankt hätten, und wie ihm insbesondere das zarte Gesichtchen des Standard-Junkers von Bechtolsheim gar seltsam contrastirend erschienen sei. Rechts und links hätten die Kanonenkugeln den Koth der Straße den Pferden zugespritzt; doch das sei alles einerlei und nichts bedeutend, wenn man sich einmal der Gefahr geweiht habe.

Die naive Erzählung einer von ihm veranlaßten venetianischen Justizverhandlung (ad laudes), herbeigeführt durch eine Excursion über die Fideicommisse, stach sehr lieblich gegen jene Kriegsscene ab. Goethe hat doch eine ganz eigne Art zu beobachten und zu sehen, Alles gruppirt sich ihm gleich wie von selbst und wird dramatisch. Auch sagte er im vollen Selbstgefühl: »Wenn ich meine Augen ordentlich aufthue, dann sehe ich wohl auch was irgend zu sehen ist.«

Die Erinnerung an seine nahe Abreise nach Wiesbaden[178] entlockte ihm manche hübsche Darstellung seines dortigen geologisirend politischen Lebens. Nassau's Länder und Staaten wurden hoch gepriesen, und von einem reizenden jungen Mädchen [Philippine Lade], der Tochter eines Secretärs bei irgend einem Departement zu Wiesbaden, erzählt, die die höchsten Anlagen zur Declamation und zum theatralischen Spiel besitze. Sie habe ihm den Wassertaucher vordeclamirt, aber mit zu viel Malerei und Gesticulation; darauf habe er sie statt aller Kritik gebeten, es noch einmal zu thun, aber hinter einem Stuhle stehend und dessen Lehne mit beiden Händen festhaltend. Das schöne Kind habe bald Absicht und Wohlthat dieser Bitte empfunden und lebhaft dafür gedankt. Verwechsle man doch nicht, fuhr er fort, epische Darstellung mit lyrischer oder dramatischer.

»Wenn Maria Stuart sich dem bezaubernden Eindruck des Naturgenusses hingibt, ›laßt mich der neuen Freiheit genießen,‹ dann« – rief er aus – »gebraucht Euere Glieder und macht damit, was Ihr wollt und könnt; aber wenn Ihr erzählt oder bloß beschreibt, dann muß das Individuum verschwinden und nur starr und ruhig das Objective sprechen, wiewohl in die Stimme aller mögliche Wechsel und Gewalt gelegt werden mag.«

Solche Anklänge brachten das Gespräch bald auf Julie v. Egloffstein, die Goethe eine incalculable Größe nannte. Er habe ihr, durch den heillosen Lavater in[179] alle Mysterien eingeweiht, bald angesehen, daß sie sehr schön lesen müsse und daher gefürchtet, er werde verlesen sein, wenn er sie höre.[180]


629.*


1815, Mai (?).


Über den »Rehbock« von Kotzebue

Der »Rehbock« gefällt Goethe sehr; er hält ihn für eines Deiner besten Lustspiele. Bei den Proben ist er immer gegenwärtig gewesen und hat sich bald todtgelacht. Er schob auch seine Reise in das Bad auf, um es erst spielen zu sehen. Da die Damen zum Theil die Nase gerümpft, so, höre ich [Christiane Kotzebue], hat er ihnen seine Meinung darüber gesagt.[180]


619.*


1815, 14. Juni.


Mit de l'Aspées Schülerinnen

Bekanntlich hatte de l'Aspée, einer der besten Schüler Pestalozzi's, in Wiesbaden eine Elementarschule gegründet, welche ich [D. St. geb. Cramer] mit mehreren[142] meiner Gespielinnen besuchte. Um den Namenstag unseres hochverehrten und innig geliebten Lehrers zu feiern, hatten wir einmal einige Zeilen aufgesetzt, in denen wir ihm unsere Glückwünsche darzubringen gedachten. Da taucht plötzlich in uns der Gedanke auf, daß Goethe sich vielleicht bewegen ließe, unsere Zeilen in Verse umzusetzen. Schüchtern naht sich die Kinderschaar dem großen Manne und trägt ihm ihr Anlegen vor, indem sie ihm die niedergeschriebenen Sätze übergiebt. Darauf erwiderte Goethe zuerst mit einem gelinden Verweise, daß wir ihm ein zu kleines Stück Papier gebracht hätten; man müsse, fügt er hinzu, stets auf einem großen Stück Papier beginnen, der kleine Raum beenge auch die Gedanken. Nachdem wir hierauf ein größeres Blatt herbeigebracht, schrieb Goethe, während wir ihm staunend zuschauten, in kurzer Zeit auf dasselbe einige Strophen, die den Inhalt unserer Worte genau wiedergaben. Noch heute sehe ich im Geiste den großen Mann, wie er erst einzelne Worte in angemessenen Zwischenräumen niederschrieb und dann, die Silben mit der Federspitze zählend, die Lücken allmählich ausfüllte, zuletzt zeichnete er unter die Verse eine aufgehende Sonne und schrieb auf ihre Strahlen unsere Namen, die er sich von uns nennen ließ.[143]


630.*


1815, 27. Juli.


Bei Gerhard Kunibert Fochem

Herr v. Stein und Goethe sind vierundzwanzig Stunden länger [in Köln] geblieben und haben auch mir, begleitet von Wallraf und Maler Fuchs, einen anderthalbstündigen Besuch geschenkt. Goethe raisonnirte beständig und predigte dem Minister vor. Von den alten Bildern sagten beide, daß sie überaus schön und mein Manuscript [aus dem fünfzehnten Jahrhundert] etwas Künstliches wäre. Bei nichts indessen verweilten[180] sie so, wie auf dem andern Zimmer bei einem Raphael. Sie nahmen Stühle, standen wieder auf, setzten sich wieder; Goethe schüttelte den Kopf und sagte endlich, dies wäre ein königliches Bild – und dies alles in Gegenwart von Wallraf und Fuchs. Beim Weggehen sprach Goethe viel vom Verdienste, das ich mir durch die Rettung dieser alten Werke gemacht hätte, und welches von oben belohnt werden müßte .... .... Herr Goedeke, ein Kaufmann von hier, der sie in seinem Wagen herumfahren ließ und mein Nachbar ist, sagte mir nachher, daß Goethe sich geäußert hätte, die Sammlung des Herrn Boisserée überträfe die meinige nur in der Menge und ich hätte mit sehr großer Auswahl und Sachkenntniß gesammelt!!! .... Ich meinerseits ließ es auch nicht an Complimenten fehlen. Ich äußerte sehr lebhaft: es sei mein Stolz und mein Glück, zwei Männer zu besitzen, von denen ich mit einem der berühmtesten Classiker sagen dürfte: Unus sufficit orbi – ein Compliment, welches Goethe fast außer sich brachte. Dieser letzte ist zwar ein schon alter, aber gesetzter, fester, sinniger, sublimer Mann ..... Goethe lobte unser Bestreben in der Herausgabe des »Taschenbuchs [für Freunde altdeutscher Zeit und Kunst«] und sagte: »Nun das ist brav! Das heißt doch etwas gethan. Es fängt an zu tagen, und Sie haben das Verdienst, die Nebel zu durchbrechen. Fahren Sie fort! etc.« Ich hätte mich beinahe erkühnt, ihn um einen Beitrag zu bitten. Beim Abschiede versprachen sie, im Zurückkommen wieder bei[181] mir anzusprechen. Nur ein Theil verarge ich ihnen: sie waren so unhöflich mit ihren beschmutzten Stiefeln auf meine seidenen Stühle zu steigen, um die Bilder, besonders die Gefangennehmung in der Nähe zu betrachten.[182]


631.*


1815, 2. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Mittags kam ich [in Wiesbaden] zu Goethe; es war ein fröhlicher, herzlicher Empfang. Stein hatte ihn ersucht, an Hardenberg ein Memoire zu schreiben über die Kunst und die antiquarischen Angelegenheiten; darüber wollte er mich berathen. Er ging gleich darauf ein, daß es geradezu, ohne Steins Veranlassung zu erwähnen, geschehen müsse, um dem nächsten Parteiwesen zu entgehen. Ich erzählte ihm, wie er bei Hardenberg gut angeschrieben sei, nach den Äußerungen von Jordan, im Hauptquartier, über sein politisches Benehmen. Goethe ging gleich weiter, meinte, er könne ja das Memoire zugleich an Metternich schicken, er sei ihm ohnehin noch den Dank für den Orden schuldig. Hauptgrundsatz soll darin sein, daß die Kunstwerke und Alterthümer viel verbreitet würden, jede Stadt die ihrigen behalte und wieder bekomme, aber daß dabei geltend zu machen sei, daß ein Mittelpunkt gegeben werde, wovon aus über das Ganze gewacht würde. »Laßt Düsseldorf wieder etwas haben, wie es in seinen Sälen aufgestellt[182] war, wozu Alles in München? Laßt Köln, Bonn, ja Andernach etwas haben! Das ist schön und ein großes Beispiel, daß die Preußen den Petrus nach Köln zurückgeben. So stellt auch der Ingenieurgeneral Rauch alle römischen Alterthümer, die bei Köln gefunden werden, in seinem Hause auf, mit dem festen Willen, daß sie in Köln bleiben sollen.« Vom Domwerk, von Cornelius, dessen Faust, von Ruscheweih sehr schön gestochen, er bekommen habe, soll gesprochen werden; von Allem, was Einzelne gethan, und was nun zu erwarten, wenn die Unterstützung der Regierung zu Hülfe komme. »Gebt nur den Malern und Kunstbeflissenen zu leben und zu thun, so werden sich schon von selber Schüler bilden. Mit allen Zeichenschulen ist es doch nichts, es läuft am Ende nur auf Handwerk und Fabrik hinaus; ich weiß ja, wie es uns in Weimar geht; ich hüte mich wohl, das Jedem zu sagen, aber du lieber Gott, die Zeichenschule ist nur dazu da, daß die Leute die Kinder aus dem Hause kriegen, und für die Kinder ist sie nur da, daß sie daran vorbei gehen! Ich will sie auch wahrhaftig nicht daran hindern, ich weiß, was zu einer eigentlichen Kunstakademie gehört, aber das sind ganz andere Forderungen, als man machen kann.«

Ich sprach ihm von einer deutschen Gesellschaft für Alterthum und Kunst, wo es auf's Sammeln ankomme, und das Bedürfniß der Gemeinschaft am natürlichsten sei, und wodurch am ersten dergleichen Zusammenwirken zu Stande zu bringen wäre. Aber freilich müßte es[183] geschehen, ohne alle äußere Anstalt von Seiten der Regierung; nur Freiheit und Begünstigung bedürfe man, es müsse sich von selbst machen, da sein, ehe davon gesprochen würde.

Goethe ging auf Alles ein, erinnerte mich an das, was er von der englischen Gesellschaft der Naturforscher in der Farbenlehre erzählt hat u.s.w. Von der Farbenlehre waren wir auf den Magnetismus gekommen; ich hatte ihm von Schelver erzählt, von Neefs Bekanntschaft mit Major Meyer, und den Papieren der Frau v. N. »Er hasse dieses Treiben, weil die Menschen es zu weit führen, und doch sicherlich nie dahinter kommen, darum bekümmere er sich auch gar nicht darum, und wolle nichts davon wissen. Er ehre und erkenne die Erfahrung an, damit sei es aber auch abgethan. Es bedürfe, meinte er, fünfzig Jahre, ehe die Farbenlehre anerkannt werden könne, sie sei nur für die jungen, unbefangenen Menschen, mit den andern sei nichts anzufangen; die säßen bis an den Hals in ihrem System, und sei ihnen unbequem, sich einmal auch nur zum Versuch heraus zu bemühen. Darum sei er auch von Herzen grob gewesen; das gefalle doch wenigstens der Jugend, die dächte: Ei, der Alte weiß doch sonst auch Bescheid und kennt seinen Vortheil, er wird doch nicht ins Blaue hinein schelten und verrückt sein, sondern er muß einen Hinterhalt, Grund und Boden haben, wir wollen das doch näher betrachten und beleuchten. So kommen sie allmählich in die[184] Sache hinein; hätte ich es aber gelinder gemacht, so würden mich die jungen Kerls eben so wenig gehört und gelten gelassen haben. Ich habe mir meine Blockhäuser in die Physik hinein gebaut, so bei der Farbenlehre, so bei der Metamorphose der Pflanzen. Da kann mir keiner vorbei, ohne daß ich darauf schieße; um das Übrige bekümmere ich mich nicht. Jene Lehren habe ich auf Urphänomene gegründet, da bin ich schon zu Hause. Was hätte und müßte man alles herausfördern können, wenn man vierzig bis fünfzig Jahre alles was von außen herkömmt, bei Seite lassen könnte. Was möchte daraus geworden sein, wenn ich mit wenigen Freunden vor dreißig Jahren nach Amerika gegangen wäre und von Kant u.s.w. nichts gehört hätte? Was hat nicht der Winterl (in Pest) in der Chemie geleistet, weil er vierzig Jahre lang Lavoisier und alle neuen Entdeckungen und Fortschritte rein bei Seite gelassen. Erlebt hat er freilich die Anerkennung seines Verdienstes nicht, aber jetzt, da er acht Jahre todt ist, kömmt es allgemein dazu. Es ist eine große Entdeckung von ihm, daß es keine reine Säure, keine Base gebe, sondern daß man eines für das andere setzen könne. Die Chemie rückt jetzt mit großen, gewaltigen Schritten nach durch Berzelius, Strohmeier, Göttling, Döberreiner. Letzterer ein junger Mann in den Dreißigen, in Jena, hat Winterl in seinem Compendium große Ehre erwiesen; das will etwas sagen von einem jungen Mann in den Dreißigen, der kann es durchsetzen.«

[185] Dann kam er auf die verschiedene Begabung der Menschen; wie viele Talente und Genies bleiben durch Verhältnisse unentwickelt und zurückgehalten; wie viel Dummköpfe dagegen werden durch Verhältnisse, Erziehung und Künstelei in die Höhe auf Catheder u.s.w. gehoben.

Ich meinte, die menschlichen Gaben seien fast in allen Zeiten gleich, aber die Zeiten seien ungleich, und die Menschen unter sich ungleich, und die Verhältnisse. Goethe sagte: ein alter Hofgärtner [J. H. Seidel] in Dresden habe von selbst die Metamorphose der Pflanzen gefunden, und habe ihm dann mit Freuden davon erzählt, wie er gemerkt, daß er auch etwas davon wisse.

Goethe: Wunderliche Bedingtheit des Menschen auf seine Vorstellungsart, wie Kant sehr richtig mit Antinomie der Vorstellungsart ausdrückt; so muß es mir mit Gewalt abgenöthigt werden, wenn ich etwas für vulkanisch halten soll, ich kann nicht aus meinen Neptunismus heraus; das ist mir am auffallendsten gewesen am Laacher See und zu Mennig; sehen Sie, das hat mich so ruhig gelassen, daß ich, wie Abt Spangenberg, hätte sagen mögen: Wir wünschen der lieben Gemeinde unsere Ruhe und unsern Frieden! Da ist mir nun Alles so allmählich erschienen, das Loch mit seinen gelinden Hügeln und Buchenhainen; und warum sollte denn das Wasser nicht auch löcherige Steine machen können, wie die Bimssteine und die Mennigersteine? Daß das Gewässer, ehe es sich gesetzt, zuletzt noch einmal große Bewegung[186] gemacht, wie im ersten Anfang, warum das nicht? Es möchte dem Vulkanismus schwerer fallen, die Mennigersteine als Lava durchzuführen, und vollständig zu erklären, wie sie geflossen und dahin gekommen. Ja, wenn von Vulkanen die Rede, wie bei Nemi in Italien, da bin ich genöthigt, überzeugt und überwältigt, da glaube ich, und wenn ich einmal einen Vulkan anerkenne und vertheidige, dann will es auch was heißen; so in Böhmen, da habe ich bewiesen, wie ich mich eines Vulkans annehmen kann; aber hier hat Hamilton mehr gesehen, als zu sehen war, und dem hat dann der elende Deluc, der gar nichts davon versteht, nachgeschwatzt. Diese Antinomie der Vorstellungsart ist es nun, warum wir Menschen nie auf's Reine kommen können mit einem gewissen Maß von Wissen, sondern immer alte Wahrheiten und Irrthümer, auf eine neue Weise aussprechen; darum wir über viele Dinge uns nie ganz verständlich machen können, und ich daher oft zu mir sagen muß: darüber und darüber kann ich nur mit Gott reden, wie das in der Natur ist, und das; was geht es nun weiter die Welt an. Sie faßt entweder meine Vorstellungsart, oder nicht, und im letztern Falle hilft mir alle Menschheit nichts. Darum, über viele Dinge kann ich nur mit Gott reden.

Dann kamen wir auf die Geschichte von Goethes Ring mit dem Serapiskopf, worunter die Zahl INI steht. Er hatte dem Ring lange nachgestellt, konnte[187] ihn lange nicht haben; im März war er unwohl, ein Freund kömmt: rathen Sie ein Ungeheueres! – »Der jüngste Tag.« – Nein. – »Napoleon ist entflohen.« – Ja! Den andern Tag kam der Ring. Felix omen: Napoleon interiit.[188]


632.*


1815, 3. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Spaziergang von halb elf Uhr bis Mittag, mit Goethe, vor dem Kursaal, dann Essen daselbst. Nach Tisch spazierten wir am Teich, hinter dem Kursaal, lustige Leute segeln auf einem Boote.

Es muß nun ein Schema entworfen werden über den Bericht.

Die Gesellschaft kommt wieder zur Sprache, und daß ich ganz besonders seit vorigem Jahr meine Gedanken darauf gerichtet, und ihn in meinem Sinn zum Präsidenten gemacht habe. Gneisenau frug mich früher, warum ich mich immer zurückgehalten? Aus Mangel an Autorität und des wahren Augenblicks. Jetzt ist er da, die Sache macht sich ganz von selbst, es sind natürliche Forderungen. Übertreibungen einerseits, Armuth andererseits.

Der ganze Rhein von Basel herunter muß ins Spiel gezogen werden, das Elsaß, das Straßburger Münster mit seinem erhaltenen Werk und seiner Dotation, dagegen der Kölner Dom ganz verarmt ist.

[188] Goethe will seine Werke neu herausgeben, in zwanzig Bänden. Zwei Bände Gedichte, statt einem. Er spricht über seine Arbeiten. Die italienische Reise; Einseitigkeit; sein Haß gegen das Deutsche; die gothische Architektur; gegen das Klima u.s.w. ist darin ausgesprochen. Er hat vollständige Tagebücher und alle Briefe von den Freunden zurückerhalten, damit einen vollkommenen Kalender mit Rechnungen, Trinkgelder etc. zu Stande gebracht. Sicilien wurde kurz vor ihm von Bartels, der es beschreiben wollte, und andern bereist; Riedesels Buch führte er mit sich, da hatte er nicht die geringste Berichtigung zu machen. Alles ist aus dem Leben, und der Eindruck des Lebens, was er in seinen Briefen niedergelegt hat; das macht sich nun einmal hübsch. Neapel ebenfalls, unendlich heiter. Rom immer mühselig, ernsthaft; dabei nimmt er die Anleitung von Winckelmanns Geschichte immer zur Richtschnur auf seinen Wegen.

Die Reise ist meist ausgearbeitet, aber vorher muß noch der vierte Band von Dichtung und Wahrheit ausgeführt werden, wozu auch viel daliegt; dieser geht, bis der Verfasser nach Weimar kömmt.

Seine neueste Arbeit ist der Divan. Aneignung des Orientalismus; Napoleon, unsere Zeit, bieten reichen Stoff dazu. Timur, Dschengis-Chan, Naturkräften ähnlich, in einem Menschen erscheinend. Die Freiheit der Form ist abgerissen, einzeln; und doch bringt er von den Alten mehr Bildung und Bildlichkeit mit. Das[189] ist gerade das Einzige, was den Orientalen abgeht, die Bilder. Goethe sagt: »In so weit sei er so eitel und übertrieben, zu sagen, daß er darüber stehe, und das Alte und Neue verbinde.«

Er las mir eine sinnreiche Introduction, eine Exposition des ganzen Orientalismus und seines eigenen Verhaltens dazu vor. Dieß letztere zuerst anfangend, von dem Gegensatz der Zeit, und Trost suchend im Orient. Talismane, Amulete, Abraxas, Siegelring der Araber. Hafiz, der Korankundige, wurde zum Eigennamen des Dichters; Goethes Gedicht an ihn vergleicht sich mit ihm, weil er sich die Bibel angeeignet, wie das göttliche Angesicht sich auf das Tuch abgedrückt hat.

Gedicht an Diez, Orientalist in Berlin, Herausgeber des Buchs Kabus, und einer Schrift über die Tulpen, von ihm mit Gold beschrieben.

An alle Orientalisten sollen solche Lobgedichte folgen.

Ich erzählte ihm von Palästina, vom Grab der Maria, von der Verehrung der Mohamedaner dafür. Hadrian ließ die Statuen von Adonis und Venus auf die Geburtsstätte Jesu stellen. Goethe bemerkte, bei den Mohamedanern sei Maria die heilige Frau im höhern Paradies; dort auch vier Thiere. Ich meinte, wohl in Bezug auf die vier Flüsse?

Später klagte er über Unredlichkeit der Schlegel und Tiecks. »In den höchsten Dingen versiren und daneben Absichten haben und gemein sein, das ist[190] schändlich. Ach, und wenn Ihr nur wüßtet, wie es zugegangen. Wenn ich mit der italienischen Reise fertig bin, werde ich es ihnen einmal recht klar und grell aufdecken. Komme ich ja dann schon in die letzten achtziger Jahre und in den Anfang der neunziger, wo das ganze Treiben schon begann. Schiller war ein ganz Anderer, er war der letzte Edelmann, möchte man sagen, unter den deutschen Schriftstellern: sans tâche et sans reproche. Im Spinoza können wir es gleich nachschlagen, was es ist bei diesen Herren: es ist der Neid. Diesen und das Böse nennt er die Traurigkeit, und alles Liebe und Gute die Freude. Man müßte nur sagen mit allem Gleichmuth: wir sind betrübt über der Herren ihre Traurigkeit! Zu den Menschen habe ich immer eine wahre Wuth gehabt; im dritten Band findet sich davon schon der Anfang, aber im vierten wird es sich erst recht zeigen.«

»Ich führe,« sagte Goethe weiter, »die Ethik von Spinoza immer bei mir; er hat die Mathematik in die Ethik gebracht, so ich in die Farbenlehre, das heißt: da steht nichts im Hintersatz, was nicht im Vordersatz schon begründet ist.«

Dann kommt er auf den Faust; der erste Theil ist geschlossen mit Gretchens Tod, nun muß es par ricochet noch einmal anfangen; das sei recht schwer, dazu habe jetzt der Maler eine andere Hand, einen andern Pinsel, was er jetzt zu produciren vermöchte, würde nicht mit dem Frühern zusammen gehen. Ich erwiderte: Er[191] dürfe sich keine Skrupel darüber machen, ein anderer vermöchte sich in einen andern zu versetzen, wie viel eher doch der Meister in seine frühern Werke. – Goethe: »ich gebe es gerne zu, Vieles ist auch schon fertig.« – Ich frage nach dem Ende. – Goethe: »das sage ich nicht, darf es nicht sagen, aber es ist auch schon fertig, und sehr gut und grandios gerathen, aus der besten Zeit.« – Ich denke mir, der Teufel behalte Unrecht. – Goethe: »Faust macht im Anfang dem Teufel eine Bedingung, woraus Alles folgt.« – Faust bringt mich dazu, wie ich von Napoleon denke und gedacht habe. Der Mensch, der Gewalt über sich selbst hat und behauptet, leistet das Schwerste und Größte. Das ist in den Geheimnissen so schön ausgesprochen. Es war dann die Rede von den vielen Irrthümern in der Welt – und wieder von den glücklichen Blicken in der Wissenschaft – er sei überzeugt, es lasse sich Alles auf feste Principien bringen, wie die Mathematik.

»Alles ist Metamorphose im Leben, bei den Pflanzen und bei den Thieren, bis zum Menschen und bei diesem auch. Je vollkommener, je weniger Fähigkeit aus einer Form in die andere überzugehen.« – »Ach Gott, es ist Alles so einfach und immer dasselbe, es ist wahrhaftig keine Kunst unser Herrgott zu sein, es gehört nur ein einziger Gedanke dazu, wenn die Schöpfung da ist. Was vorher war, geht mich nichts an. Aber so einfach und so leicht der Gedanke ist, so schwer lassen[192] es sich die Menschen werden, Alles zu zerstückeln. – Ich meine, wie sollte das Zerstückelte auch anders als wieder selbst zerstückeln? Die Thorheit der indischen Büßer, wie sie die Einsiedelei suchen, ist nur ein Beweis, wie die Menschen immer, wenn sie etwas von der Wahrheit gemerkt, dann gleich wieder den irrigen Weg dahin einschlagen, das ist nun so die Welt.«

Das Gespräch fing eigentlich mit der Mineralogie an, wovon er mir Leonhards nächst erscheinendes Werk empfohlen.

Die Geheimnisse, sagte Goethe, habe er zu groß angefangen, wie so Vieles. – Die zwölf Ritter sollten die zwölf Religionen sein, und alles sich nachher absichtlich durcheinander wirren, das Wirkliche als Mährchen und dieß umgekehrt, als die Wirklichkeit erscheinen.

Nachmittags: Von der Eitelkeit, Freude am Dasein, am Nichtigen. Goethe: »Es ist kein so großes Übel als gemeinhin daraus gemacht wird; nicht so ernst zu nehmen, daß es erst wichtig wird, wie heut zu Tage geschieht.« – Er will in die Gesellschaft der verrückten Hofräthe aufgenommen werden. Er meint, der Spaß sei ganz allerliebst; das hätte Behrisch ganz ähnlich gesehen. Aber man müsse ihm ein gutes ob ins Diplom geben, ob varietatem scientiarum?


[Die Aufnahme in Dr. Ehrmann's »Orden der verrückten Hofräthe« erfolgte unter Angabe des Grundes, der mit ob angeführt wurde; bei Goethe: ob orientalismum occidentalem.][193]


633.*


1815, 4. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Heute habe ich den Bericht über deutsche Alterthümer, Kunst und Wissenschaft, am Rhein angefangen. Der Allgütige gebe sein Gedeihen zu dieser Arbeit! Goethe hat auch angefangen, und wie er sich ausdrückt: hat der heilige Geist ihm offenbart, daß wir die Entwürfe hier fertig machen, darum wir noch acht Tage hier bleiben müssen; in Frankfurt nähmen sie ihn in Anspruch und dann käme ich zu Willemer, so gebe es Wahlverwandtschaften. Wir besprachen die Verhältnisse der Frankfurter Freunde, das wurde ihm nun immer mehr und mehr recht. Er versicherte mich, Stein sei uns sehr gewogen und geneigt; er, Goethe, habe die größte und Haupttheilnahme für uns, in moralischer, artistischer, politischer, ökonomischer und aller Rücksichten. Er wisse es und fühle es recht vollkommen, was ich ihm sage, daß er durchaus von unserer Sammlung reden müsse, weil er sie gesehen, sonst urtheilten die Menschen, sein Schweigen sei ein Mißbilligen oder Nichtachten. Darum sei es so gut, daß sich alles mache, und sich zeige, wie alles reif sei; er las mir dieß alles vor. Nach Tisch besprach er die Fortsetzung des Divan, das Rosenöl; – »Behandelt die Weiber mit Nachsicht;« – Spiel in den Locken; Hans Adams Geburt; – der Tulbend; – Freude der Freigebigkeit. Versprechungen[194] des Liebhabers. Alle Pracht des Orients hat doch am Ende nichts Höheres wie die liebenden Herzen – Stolz der Armuth des Liebenden, und viele andere herrliche, prächtige und anmuthige Dinge. Ich sage Goethe, daß es mich an Faust erinnere, wegen der Großartigkeit und Kühnheit, und doch wieder in der Natürlichkeit und Einfachheit der Sache und in der Form und Sprache, was ihm dann ganz recht und lieb war.

Morgens. Goethe: was er näher kennen möchte, wäre das Verhältniß und der Weg der neuen katholisch gewordenen Protestanten. – Ich meine, die Philosophie der Geschichte der Menschheit (Herder, Müller), die Zeit der Gegenwart, die welthistorische Richtung, haben es gethan. Stolberg ist der Heros unter ihnen. – Goethe: Ja, es sei die Fülle der Menschheit in ihm; das Gemüth des Großen, das Naturell; selbst das Kindermachen, die eigentliche Fülle des Menschlichen (ein Poet sei er gerade deswegen nie gewesen). – Ich: Aber nun sei von der andern Seite das Übel, daß er keine Kritik habe, die Tradition stützen wolle, durch Gelehrsamkeit und Historie. – Goethe: »Ei, das ist gegen alle Überlieferung, diese nimmt man entweder an, und dann gibt man von vorn herein etwas zu, oder man nimmt sie gar nicht an und ist ein rechter kritischer Philister. Auf jenem Mittelweg aber verdirbt man es mit allen; und es ist ein Beweis, daß er von dieser Seite noch nicht einmal mit sich fertig ist. Die Protestanten dagegen fühlen das Leere, und wollen[195] nun einen Mysticismus machen, da ja gerade der Mysticismus entstehen muß. Dummes, absurdes Volk, verstehen ja nicht einmal, wie denn die Messe geworden ist, und es ist gerade als könne man eine Messe machen! So der Schubart [Gotthelf Heinrich von Schubert], der erbärmliche, mit seinem hübschen Talent, hübschen aperçus, spielt nun mit dem Tode, sucht sein Heil in der Verwesung, da er freilich selbst schon halb verwest ist, das heißt, buchstäblich die Schwindsucht hat. Da möchte man des Teufels werden; es ist aber gut, ich lasse sie machen, es geht zu Grunde, und das ist recht.«

Ich: und es ist ihnen mit dem Christenthum, wenn man's beim Licht betrachtet, doch nicht recht ernst, es läuft am Ende doch immer wieder auf alles und eines und eines und alles hinaus. Dagegen ich mir den Dualismus für unentbehrlich halte, daß dem Geist und Leib sein Recht widerfahre, und die Einheit als Ziel und Höchstes immer gefordert, verlangt werde! Wovon hier auf der Erde nicht die Rede sein kann, als wenn Gott selbst kömmt. Sie aber wollen dem Herrn Christus auf die Spur kommen und selbst Christusse machen. Goethe: »Ja, recht, das ist: sie selbst wollen ein kleiner Herr Christus sein; sie ließen den Leib als solchen gelten, würden ihn auch zu ehren wissen.« – Dieß Alles kam zur Sprache, bei Gelegenheit eines neuen dünnen Büchleins: über das Abendmahl, welches in Gießen erschienen, und das ihm der hier badende Verfasser gegeben.[196]


634.*


1815, 5. August.


Mit Sulpiz Boisserée


Morgens.

Goethe klagt, daß er zur Großfürstin von Oldenburg soll: »Sie haben nichts von mir, und ich nichts von ihnen, den Herrschaften.« Ich vergleiche die fürstlichen Personen und die vornehme Welt mit Gewässer, welches um uns herum anschwillt, ein Strom im See werden kann, worauf man schifft und segelt, sich aber auch wieder verlaufen kann. Man muß ihm nicht trauen, ist und bleibt Wasser. – Goethe: »Nun, zu hypochondrisch muß man sie nicht nehmen, aber so als Naturkräfte.« – Goethe speist bei der Großfürstin.


Nachmittags.

Staatsrath Süvern von Berlin kömmt an; Goethe veranlaßt mich, zu ihm zu gehen. Er ist mit dem ganzen kölnischen Schulwesen und Universitätswünschen von amtswegen bekannt. Er sagte unter anderem, Preußens Lage fordere große Festungen und Burgen, auch in geistiger Hinsicht, nicht nur zum Schutz, sondern auch zur Anziehung und dadurch zu allgemeinerer Wirkung.

Abends war ich mit Goethe und Oberbergrath Cramer auf dem Geisberg, es wurde oben gezecht in der Schenke. Der Wirth heißt Hastings; ein schöner,[197] freundlicher, blonder Aufwärter bediente uns. Ein Schwager von Cramer aus Hanau kam nach, das Töchterchen des alten Oberbergraths, etwa sechzehn Jahre alt, führte ihn zu uns, ein ganz einfaches, frisches Kind. Goethe neckte sie mit ihrer großen Pestalozzi'schen Rechenkunst, erzählte uns von der Schule hier, und ließ dem Mädchen keine Ruhe, bis sie sich selbst eine algebraische Aufgabe, aber in Zahlen gab, und die Auflösung machte. Es war eine verwickelte Aufgabe, drei unbekannte Zahlen, von denen nur die Verhältnisse unter sich angegeben waren. Mir wurde ganz schwindelig bei der Auflösung; vorerst war es einmal nicht möglich zu folgen; dann aber die Bestimmtheit, die Förmlichkeit, womit das Kind die trockenen Dinge aussprach, die man sonst nur in den mathematischen Hörsälen zu hören kriegt, und wie sich dieß arme Köpfchen was darauf zu gut that, mit den hohlen Zahlen und Verhältnissen herum zu wirthschaften, wie es gar selbst mit über diese Kunst sprach und vernünftelte, warum es Elementarunterricht genannt werde, da es doch, wie Goethe bemerkte, ganz darüber hinausginge, weil jeder alles selbst finde und erfinde: endlich über Buchstaben-Rechnungen, Gleichungen u.s.w. Das Alles, mit der festen, schulmeisterlichen Haltung, setzte mich wahrhaft in Schrecken. Gewitter am Himmel. Auf dem Rückweg Gespräch über orientalische Poesie. Hafiz ein anderer Voltaire. Ich bedaure die Orientalen, sie haben keine Musik und keine Bilder und nur Schrift[198] zur Verzierung; und die Baukunst ist bloßes Bedürfniß, ein elend Ding, ohne eigentlichen Kunstwerth.

Als wir im Dunkel gegen zehn Uhr nach Hause kamen, klagte Goethe seinen Jammer über dieß Pestalozzi'sche Wesen. Wie das ganz vortrefflich nach seinem ersten Zweck und Bestimmung gewesen, wo Pestalozzi nur die geringe Volksklasse im Sinne gehabt, die armen Menschen, die in einzelnen Hütten in der Schweiz wohnen, und die Kinder nicht in Schulen schicken können. Aber wie es das Verderblichste von der Welt werde, so bald es aus den ersten Elementen hinaus gehe, auf Sprache, Kunst und alles Wissen und Können angewandt werde, welches nothwendig ein Überliefertes voraussetze, und wo man nicht mit unbekannten Größen, leeren Zahlen und Formen zu Werk gehen könne. Und nun gar dazu der Dünkel, den dieses verfluchte Erziehungswesen errege; da sollte ich nur einmal die Dreistigkeit der kleinen Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden erschrecken, sondern ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respekt, alles weg, was die Menschen unter einander zu Menschen macht. »Was wäre denn aus mir geworden,« sagte er, »wenn ich nicht immer genöthigt gewesen wäre, Respect vor andern zu haben. Und diese Menschen mit ihrer Verrücktheit und Wuth, alles auf das einzelne Individuum zu reduciren, und lauter Götter der Selbstständigkeit zu sein; diese wollen ein Volk bilden und den wilden Schaaren widerstehen, wenn diese einmal sich der[199] elementarischen Handhaben des Verstandes bemächtigt haben, welches nun gerade durch Pestalozzi unendlich erleichtert ist. Wo sind da religiöse, wo moralische und philosophische Maximen, die allein schützen könnten?« Er fühlte recht eigentlich einen Drang, mir über alles dieses sein Herz auszuschütten, und ich selbst war von all diesem voll, es sprach mich gleich an, wie eine Meldung des jüngsten Tages, und die Furcht vor den Russen war mir beim Namen Sievers, den Cramer als einen der schärfsten Prüfer und größten Rühmer der hiesigen Schule genannt hatte, in ihrer ganzen Macht aufgestiegen. – So führten wir uns wechselseitig in das Gespräch hinein, und Goethe bat mich wiederholt um Gotteswillen, nicht in die Schule zu gehen, ich würde zu sehr erschrecken. Cramer hatte mir schon vor seiner Rückkehr gesagt, daß ihn das Pestalozzi'sche Wesen außerordentlich interessire und er immer davon spreche. Des Abends erzählte ich ihm, bei Gelegenheit der Russen, noch das Verhältniß von Kaiser Alexander und der Krüdener.[200]


635.*


1815, 6. (?) August.


Mit Sulpiz Boisserée

Vormittags war ich bei Goethe, er fragte nach Reinhard, da kamen wir auf das Reimarus'sche Theewesen, und daß ich darin gewesen. Ich erzählte ihm[200] in einem kurzen Abriß meine Lebensgeschichte; unser Verhältniß zur Familie; wie ich und Bertram zuerst allein waren, dann bald auch Melchior mit uns hielt, und die Pariser Reise Hauptangelegenheit und Vereinigungspunkt wurde. Dann von Schlegel's Vorlesungen in Paris und Köln, von unserem Kriegsstand gegen die ganze Stadt und alle Welt. Das gefiel ihm sehr, ich müsse es ihm einmal ausführlicher erzählen. Am meisten fiel ihm auf, daß ich zwei Jahre in dem Hamburger Theewasser gelebt. – »Nun da gehört doch eine gute Natur dazu, das zu überleben.« – Und noch mehr die Gnade Gottes, sagte ich. Er, Goethe, habe das auf alle interessante Menschen erpichte Raimarus'sche Wesen immer gemieden, an Jakobi genug gehabt; dafür hätten sie ihn auch schöne gehaßt, ihn einen scharfsinnigen Menschen genannt, der dann und wann gute Einfälle habe.[201]


636.*


1815, 7. (?) August.


Bei Goethe

Nachmittags, als Goethe von Biberich zurückkam, erschien ein altes Männchen in grünem Rock und grünseidner Weste mit schwarzgeschnittenem Sammt, Forstmeister von Frankfurt, ein alter Schulkamerad von ihm [Kehr]. Er war unendlich freundlich gegen ihn, ließ ihm zu trinken bringen; nach einigen lustigen Reden[201] und Fragen über andere alte, bekannte Schulkameraden kam Cramer, und nun ging das Gespräch mit diesem und mit mir fort, das alte Männchen blieb immer ruhig sitzen, lange, lange Zeit, und trank sein Gläschen und wir nahmen immer Rücksicht auf ihn, ohne uns weiter um ihn zu bekümmern. Seltsam war es, daß Goethe weder Cramer noch mir, als wir verschiedentlich fragten, wer der Mann sei? den Namen nicht nannte, sondern jedesmal freundlich sagte: »Es ist ein alter Schulkamerad von mir, der kömmt noch alle Jahre nach Wiesbaden und ist schon 74 Jahre alt.«

Nachher Gespräch über den Divan. Entstehen. Lob des Weins. Frechheit gegen das Gesetz. Die Perle. – Unwillen über die Deutschen; ihre Neuerungssucht und Zerstreuung. – Gespräch über die bloße Kunst der Poesie, bei dem bloßen Talent der Sprache: wie weit es in dieser bloßen Phraseologie gebracht werden könne; er rühmte den Major Luck, es ist ja auch ein diffuses Wesen in ihm, aber da thut ihm das Sonett Gewalt an, und zwingt ihn zur Einheit. Darum gibt's nicht leicht bessere Sonette als die seinigen, auch in Rücksicht der Gedanken. Ein Spottgedicht hat er gegen die Arndt'sche Dreieinigkeit gemacht, von Wellington, Blücher und unserem Herrgott; aber das nicht als Sonett. Eine Strophe, die er Goethe bloß in einem Briefe mitgetheilt, als geheimes Einschiebsel, nur für Vertraute, ist sehr artig. Es lautet ohngefähr: Gott ist der großen Schrift nicht wert, dieweil er nicht[202] freiwilliger Jäger geworden, das Schießgewehr auf die Schulter genommen hat und in den Landsturm ausgezogen ist. – »Die Einheit des Gedankens, die lebendige Gliederung durch den Gegensatz zur Identität, das ist es, was allen Kunstwerken zu Grunde liegen muß. Das ist, was die Franzosen mechanisch ergriffen haben in ihrem Schauspiel, und was Shakespeare nicht hat, und warum seine Stücke in dieser Hinsicht bei aller Poesie nichts taugen.« Ich sagte, wie seit einigen Jahren ich auf diese innere Gesetzmäßigkeit und poetische Gliederung gekommen, und sehr bald den Dingen ansehe, wo es fehle, es sei immer fast instinktmäßige Forderung bei mir, und mir auch so gleichsam instinktmäßig entstanden, auf dem Weg der Musik. So z.B. innere Nothwendigkeit des Allegro, Adagio und Rondo, das Muthige, Traurige und Freudige. – Sonntag am 6. Abends las mir Goethe wieder einen Theil aus seinem Divan vor, worunter das schönste »Adam und Eva« war, wie der Schöpfer sie macht und seine Freude an ihnen hat. Er legt dem Adam die Eva an die Seite, und möchte dabei stehen bleiben. Ein Bildchen, eine Idylle von der schönsten, reinsten Naivität, und wieder der höchsten Größe; es machte mir den Eindruck wie das beste plastische Werk der Griechen. Dann las er, wie Jesus das Evangelium gebracht und wieder mit zum Himmel genommen hat. Aber was die Jünger, jeder auf seine Art, davon behalten, verstanden und mißverstanden, ist so viel, daß die Menschen genug[203] daran haben für immer zu ihrem Bedarf. – Liebesgedichte. Was ich verlange ist nur wenig; aber für die Geliebte alle Schätze. Ein prachtvolles Stück [im Buch Suleika], worin alle Herrlichkeit und der ganze Handel des Orients vorkömmt; wo alle Elemente, alle Kräfte der Natur und Menschen in Bewegung gesetzt werden, um der Geliebten Geschenke zu bringen; die aber doch nichts sind gegen die Freuden der Liebe. Die Feueranbeter der alten Parsen. Ein solcher stirbt und spricht seine Lehre als Vermächtniß aus. Verehrung der Sonne, durch Ordnung und Reinlichkeit, damit sie sich nicht betrübe den Schmutz und Wüstenei der Menschen und der Erde zu sehen. (Stiftung, eine Gasse zu reinigen, damit die Sonne mit Freuden hinein scheine.) In demselben Bezug, Ackerbau. (Auf ähnliche humane Weise erklärt Goethe sich die Verehrung der Kuh, als nützlichstes Hausthier, und des goldenen Kalbes, und sei also nicht gar so absurd und abgeschmackt, als es aussehe.) Verehrung des Feuers als irdische Sonne. Ich erzähle, wie die Symbolik des Lichts mit so großem Geist in den christlichen Gottesdienst aufgenommen sei; am Charsamstag Symbolik der ganzen Schöpfung, Wasser, Licht u.s.w.

Später waren wir bei Hügel; er erzählte von dem Künstlerleben der italienischen Sängerin, die den Wiener Bankier Natorp geheirathet hat. Der Bankier machte bankerott, die Frau ging wieder auf's Theater, und der größte Triumph ihres Lebens war der Beifall, der ihr[204] hier zum erstenmal wieder gezollt wurde. Aller Reichthum, alle Pracht der Zwischenjahre war ihr nichts dagegen. Ihr Vater war Einnehmer von Monte pietà in Rom gewesen, und kam herunter; ihr großes Talent wurde in einem Concert erkannt, dieß entscheidet sie, um ihrem Vater damit zu helfen, sich gleich bei der Gesellschaft anwerben zu lassen. In Florenz schenkte ihr beim ersten Auftreten ein Musikfreund für sein Billet statt einem Scudo hundert Zechinen, so entzückte sie; das war ihr erstes Glück und so ging es fort; sie blieb immer brav gegen ihre Eltern. Nach ihrem zweiten Auftreten lebte sie nur noch wenige Jahre.[205]


637.*


1815, 8. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Dienstag den 8. abends liest Goethe wieder Stücke aus dem Divan. »Der Schenke.« Kuß auf die Stirne. Eifersucht. Das Mädchen sei eine böse ermüdende Liebhaberei für den alten Freund. Das Ganze als ein edles, freies pädagogisches Verhältniß, als Liebe und Ehrfurcht der Jugend gegen das Alter; vorzüglich schön ausgesprochen in einem Gedicht: die kürzeste Nacht, wo Morgenroth und Abendroth zugleich am Himmel sind. Astronomie. Ethik. Ein anderes Gedicht bezieht sich auf den schönen, jungen, blonden Kellner auf dem Geisberg. Dann wieder eins auf die kleine Paulus in[205] Heidelberg, mit seinem Schwänchen von Pfirsichen, Kirschwasser und Mandeln.

Er macht mir die Confession, daß ihm die Gedichte auf einmal und ganz in den Sinn kämen, wenn sie recht wären; dann müßte er sie aber gleich aufschreiben, sonst finde er sie nie wieder; darum hüte er sich auf den Spaziergängen etwas auszudenken. Es sei ein Unglück, wenn er es nicht ganz im Gedächtniß behalte, sobald er sich besinnen müßte, würde es nicht wie der gut, auch ändere er selten etwas; ebenso sei es ein Unglück, wenn er Gedichte träume, das sei meist ein verlorenes. Ein italienischer Poet (Petrarca s. Wilken) habe sich aus diesem Grund ein ledernes Wamms machen lassen, worauf er im Bett habe schreiben können. Italienische Reise. Goethes Freude an der Architektur, seine rein persönliche Leidenschaft für Palladio, bis ins grasseste nichts als Palladio und Palladio. Freilich lebt er in Vicenza und Venedig in seinen Werken und Wirksamkeit noch im lebendigen Andenken. Wuth und Haß gegen die gothische Architektur; er läßt diese Stelle wegen mir weg, daß ich sehe, welch ein braver Kerl er sei. Die Menschen wie sie aber wären, würden so etwas gleich mißverstehen. Am Ende mache es sich auch in der Composition besser, wenn es wegbleibe; sonst freilich lasse er alles wie es sei, weil die Tagebücher so vollständig seien.

Er führt das Gespräch weiter; was die Verhältnisse mit Fürsten theuer und werth mache, sei das Beständige[206] und Beharrliche darin, wenn einmal ein Vertrauen entstanden; so zwischen ihm und dem Herzog. Durch allen Wechsel der Verhältnisse und Gesinnungen durch habe der Herzog immer denselben gefunden; gesehen, daß er einen braven, ehrlichen Menschen an ihm habe, und so sei der Herzog noch jetzt wie in ihrem Freundschaftsverhältniß; er habe ihm kürzlich einen Brief geschrieben, ein Resultat seiner Lectüre während langer Unpäßlichkeit, ganz wie aus jener Zeit so herzlich.

Timurs Winterfeldzug, Parallelstück zu Napoleons Moskowitischem Feldzug. Kriegsrath. Der Winter tritt redend auf gegen Mars; Fluch oder Verheißung; groß, gewaltig. Haß des Kreuzes. Schirin hat ein Kreuz von Bernstein gekauft, ohne es zu kennen; ihr Liebhaber Cosken findet es an ihrer Brust, schilt gegen die westlich nordische Narrheit u.s.w. Zu bitter, hart und einseitig, ich rathe, es zu verwerfen. Goethe: Er wolle es seinem Sohn zum aufheben geben, dem gebe er alle seine Gedichte, die er verwerfe; er habe eine Menge, besonders persönliche und zeitliche. Es sei nicht leicht eine Begebenheit, worüber er sich nicht in einem Gedicht ausgesprochen. So habe er seinen Ärger, Kummer und Verdruß über die Angelegenheiten des Tages, Politik u.s.w. gewöhnlich in einem Gedicht ausgelassen, es sei eine Art Bedürfniß und Herzenserleichterung, Sedes p. Er schaffe sich so die Dinge vom Halse, wenn er sie in ein Gedicht bringe. Sonst[207] habe er dergleichen immer verbrannt; aber sein Sohn verehre alles von ihm mit Pietät, da lasse er ihm den Spaß.

Napoleon hat ihm imponirt, er habe den größten Verstand, den je die Welt gesehen. Daru habe ihn präsentirt in demselben Saal der Statthalterei in Erfurt, wo er in seiner Jugend mit Schiller, dem Herzog und dem Coadjutor Dalberg so viele Späße getrieben, und frohe Stunden erlebt. Da sei noch Berthier gewesen und Soult und andere, denen er alle zugleich Audienz gegeben; sie habe mehr als eine Stunde, ja zwei gedauert; er habe immer abwechselnd von Geschäften mit jenen, dann wieder mit ihm gesprochen. (Goethe scheint nicht gemerkt zu haben, ober nicht bemerken wollen, daß dies alles angelegt gewesen, um ihm zu imponiren; wie ich mir's auslege.) Daru habe ihn präsentirt mit dem Bemerken, er habe Mahomet übersetzt, da habe Napoleon gesagt: Mahomet est une mauvaise pièce. Dann habe er es entwickelt, und so richtig, als es nur zu verlangen. Goethe bemerkte: »Ei, er der ein anderer Mahomet war, mußte sich wohl darauf verstehen.« Ich sprach von Ostentation, und wie er den armen Müller bethört. Die Ostentation warf er weg, mit Müller das war ein ander Verhältniß, weil er eben der arme Müller war. Napoleon habe sehr viel und trefflich über Tragödie mit ihm gesprochen, wo der Refrain immer gewesen: qu'en dit Mr. Goethe. Napoleon habe ihn, was doch etwas sagen wolle, zum[208] Lachen gebracht; so daß er sich darob entschuldigen zu müssen geglaubt; wisse nun aber nicht mehr zu sagen, was es denn eigentlich betroffen.[209]


638.*


1815, 11. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Freitag den 11. morgens sechs Uhr sind wir nach Mainz gefahren. Wir sahen auf der Höhe des Rheingau bis Bingen. Goethe: »Was muß das für eine Gewalt gewesen sein, was muß eine Zeit dazu gehört haben, ehe nur das Wasser da zum Durchbruch gekommen; das hat da gewiß lang als See gestanden, wie der Bodensee. Und nicht allein die Berge haben gehindert, sondern auch das Meer, ehe seine Gewässer abgenommen.« Wir kamen nun so auf das Allgemeine, die italienischen Gebirge, die griechischen, die palästinischen, alles ist Kalkgebirge, bis im Sinai wieder der Granit erscheint. Ich fragte nach einem Buch, das eine Übersicht der Gebirgsbildung auf der ganzen Erde gibt, und ob Ebel es gäbe? Ja gewissermaßen, auf jeden Fall lerne man viel, es sei ein trefflich Buch; doch fehle etwas, welches auf eine seltsame Weise entstehe und häufig vorkomme. Der Mann suche nämlich etwas zu erklären, was sich nicht erklären lasse, was man zugeben müsse; bis auf den Punkt sei er ganz charmant, aber durch dies falsche Bemühen verderbe er[209] seine Sache. Es sei damit wie bei der Musik, wo man nie eine reine Oktave kriege, sondern in der zweiten immer ein neuer Ton sich bilde, ein neunter Theil, den man nicht als einen für sich stehenden annehmen könne, darum als Bruch in die ganze vertheile. Dieser Bruch sei es, der einem überall in der Geologie und in der ganzen Natur begegne. Wolle man ihn rein auflösen, so gehe es nicht, so verwirre man das Ganze, man müsse wissen, daß da noch etwas Unauflösbares sei, und es als solches zugeben, dann komme man durch.

Dann erzählte er mir von Butte's Zahlenlehre. Herr Butte (derselbe, den die französischen Blätter zum Besten gehabt), war in Wiesbaden am letzten Tag bei ihm gewesen, und hatte ihm sein Weltsystem erklärt. Er sagte: wenn man einmal solch Spiel zugäbe, und zugeben müsse man es doch, so sei das äußerst scharfsinnig und hübsch, unter anderem besonders die Verrückung der Klimate merkwürdig; sie folgten nicht den Zonen, die unsere Mathematik beschrieben, sondern biegen sich ein u.s.w. Die Durchführung ins Einzelne gefiel ihm sehr, nur klagte er, daß der Mann etwas cynisches habe; daß er nicht einmal ein reinliches Manuscript und Karten, sondern beides beschmutzt und befleckt bei sich führe.

Nach acht Uhr sind wir in Mainz in den drei Reichskronen. Unser erster Gang war zu Professor Lehne; er zeigte uns seine Gemäldesammlung. Er[210] besitzt auch römische Alterthümer, schön und klar geordnet, innerer Zusammenhang; das meiste Grabsteine von Kriegsleuten aus den verschiedensten Theilen von Europa. Die römische Herrschaft wirkte hier ganz auf dieselbe Weise, wie die französische.

Goethes Vorliebe für das Römische wurde später ausgesprochen; er habe gewiß schon einmal unter Hadrian gelebt. Alles Römische ziehe ihn unwillkürlich an. Dieser große Verstand, diese Ordnung in allen Dingen, sage ihm zu, das griechische nicht so. Ich sei gewiß auch schon einmal da gewesen im 15. Jahrhundert. Ich lehne es ab und spaße über diesen Wahn, wenigstens müsse es noch früher gewesen sein. Doch sei mir der Gedanke nicht neu, ich habe schon Wallraf im Jahr 1811, als die Helwig in Köln gewesen, damit aufgezogen, daß seine Verliebtheiten in die Stadt und in die Agrippina die Folgen einer alten Liebschaft zu dieser Kaiserin sein müßten, die jetzt auch der Seelenwanderung unbewußt in ihm wieder erwache. Endlich sei mir über mich selbst schon dergleichen Wahn durch den Kopf gefahren, als ich im vorigen Sommer die Geburtsstadt von Eyck besucht und zugleich die meines Vaters, nur zwei Stunden davon. Die Großmutter väterlicher Seite und der Großonkel stammen von Tongern, die Großmutter mütterlicher Seite von Köln; wer könne wissen was da für Blutsverwandtschaft und Zusammenhang mit Meister Eyck und dem Baumeister des Doms sich denken ließe! Ich schäme mich aber[211] dessen, als närrischer, abergläubischer Einbildung, und hätte es noch keinem erzählt; aber als eine Schwachheit gestehe ich es gern und lasse es gelten. »Ja nun,« sagte Goethe, »lobe ich Euch; Ihr seid gescheidter als Ihr wißt. So hat doch Eure Sache Fug und Schick, und durch die Zuziehung der Ahnen kommt es immer noch besser ins klare.« Ich neckte ihn darüber und wir lachten fröhlich über dies geheime Gespräch, das wir am Tisch führten. Professor Lehne holte uns ab in die Gemäldesammlung des Grafen Kesselstädt und zu Kaufmann Memminger, wo wir schöne Rheinlandschaften von Kaspar Schneider sahen. Nachher gingen wir in den Dom, der halb mit Brettern verschlagen war, worin Getreide lag.

Nach Tisch spazierten wir nach Zahlbach, der Grabstätte römischer Krieger, wo über dreißig Gräber an einen Hügel angelehnt gefunden wurden, hinter jedem der Aschenkrug. In Zahlbach kehrten wir in einem Weingarten ein. Professor Lehne hielt mir vor, daß es nichts sei mit der gothischen Architektur, daß sie nur die Frucht der verfallenen römischen und griechischen sei. Er sprach überlaut, weil er taub ist, gerade darum hörte ich es geduldig und ruhig an. Preußische Officiere saßen in der nächsten Laube. Goethe hatte seine Freude über den Spaß. Auf dem Rückweg fanden wir eine schlecht gebaute Kirche im Dorfe, ganz neu im byzantinischen Geschmack, von einem französischen Ingenieur; das machte sich nun gut, neben der römischen Wasserleitung[212] und zu dem Gespräch im Weingarten; Goethe neckte mich damit.

Nachher machte ich mit Goethe noch einen Spaziergang die Bleiche herab, nach Hause. Ich erzählte ihm von unserem ersten Bild, von der Großmutter, wie sie allein Freude daran gehabt; von Schlegel und allen ersten Geschichten der Sammlung; antwortete aus seine Frage, warum wir zuerst nach Heidelberg gegangen und erzählte von meiner Reise im Jahre 1808. Vor Schlafengehen betrachteten wir noch leuchtendes Holz, das Goethe aus Wiesbaden mitgebracht hatte.[213]


639.*


1815, 12. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Samstag morgens um sieben Uhr sind wir nach Frankfurt abgefahren. Auf der Höhe bei Höchst wurde still gehalten, wegen der prächtigen, reichen Aussicht, die im schönsten Sonnenlicht vor uns lag. Unsern Wunsch nach Weimar zu ziehen, lehnte Goethe ab, er sagte: da ist es zu nüchtern für euch, das Theater kein Ersatz für das schaureiche, mannichfaltig bewegte Leben, welches ihr von Köln her gewöhnt seid. Ich wende ein, daß wir dieses auch in Heidelberg entbehren, und erwähne, wie mich die großen Kirchenfeste u.s.w. an das erinnern, was in Köln zum Theil noch übrig geblieben, von würdigen, kirchlichen und volksmäßigen Einrichtungen und schildere nun, wie es ehemals gewesen,[213] Processionen, Gottestracht, Zünfte, Altäre, Gemälde auf denselben, Veränderung der Kirchen. Zierath und Ausschmückung derselben. Realität im Alten, modernes Wesen nur auf den Schein. Die Form allein entscheidet hier nicht. Kirchenmusik. Liebhaber bemühten sich um dieselbe. Kreuzbeleuchtung in der Charwoche wie in Rom. Messe; vortreffliches Thema, Einheit darin, und gibt doch zu den mannichfaltigsten Compositionen Anlaß. Goethe: ja einigemale im Jahr lasse man sich wohl eine Messe gefallen; aber das immer Einerlei leuchte ihm doch nicht ein. Aber in Köln in dem Dreikönigsfest und der Übertragung des Rathhausbildes in den Dom, im Dom selber, da sei doch ein Leben; sie in Weimar müßten sich behelfen mit der Gelehrsamkeit, stoppelten den Tempel von Ephesus mit aller Mühe auf dem Papier zusammen, und den Wagen des Alexanders, und am Ende sei es doch nur für wenige Einzelne.

Ankunft in Frankfurt. Ich stieg im Schwanen ab, Goethe fuhr weiter auf die Gerbermühle hinaus. Bis Montag wollte er wieder in die Stadt kommen.[214]


640.*


1815, 14. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Montag früh um acht Uhr kam Goethe mit Willemer zu mir in den Schwanen. Wir gingen zusammen zu Schlossers. Nachher fuhr ich mit Goethe nach der[214] Gerbermühle .... Bei Schlossers hatten wir ein schrecklich altdeutsches neudeutsches Gepinsel von einem jungen Maler in Wien gesehen. Goethe hatte mich auf die Seite gerufen, mir die Bildchen vorgehalten, eine heilige Familie, und eine Jägergeschichte, wahre Nürnberger oder Spaaer Kistelmalerei. »Da freut euch eurer Früchte,« sagte er. Gott bewahre uns vor solchen Freunden, denn mit unsern Feinden wollen wir schon fertig werden, erwiderte ich. Diese Neckerei setzte uns in lustige Laune.

Ich übergab ihm den Entwurf, er soll wo möglich Maximen und Principien aussprechen, für alles was gemacht werden soll etc. Er gab allem seinen Beifall, wir sind überhaupt einig. Nur wegen der Frankfurter Angelegenheiten, Bibliothekbau u. dergl. scheut er sich ins einzelne gezogen zu werden; er hat überhaupt ein großes Vorurtheil gegen den freistädtischen Staat.

Goethe führte mich zu einem steinernen Heiligenhäuschen bei der Mühle, um es zu verehren, weil es, obwohl einfach, so meisterhaft gemacht, und von Basalt wäre. Auf dem Wappen daran ist ein Ring à jour gefaßt. Die Jahreszahl 1508.[215]


641.*


1815, 19. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe hatte meine Schrift mehreremale durchgelesen; will dieselbe gleich ausführen, doch schiebe es[215] sich noch etwas in die Länge; es mache sich aber artig, müsse eine Composition werden in rhetorischer Kunst.[216]


642.*


1815, 25. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe ist mit meinen Beschreibungen sehr zufrieden. »Sie sind gut,« sagte er, »und was noch mehr ist, sie sind recht; denn, was mir immer die Hauptsache, der Ton ist getroffen; dabei sind sie mit Neigung und frommem Sinn geschrieben, ich würde sie vielleicht nicht so gut machen, weil mir der letztere fehlt.« Meinen Zweifel wegen der Weitläufigkeit benahm er mir; der Gegenstand verlange sie, so sei auch die ausführliche Beschreibung des brokatnen Tuches in der Verkündigung, worüber ich mich selbst beklage, nur insofern ein Fehler, als es ein Fehler im Bilde sei, es sei aber kein Fehler; dadurch komme ja die wahre Charakteristik in die Darstellung. Doch wollten wir die Dinge noch einmal lesen, und noch näher darüber sprechen.[216]


643.*


1815, 28. August.


Geburtstagsfeier in der Gerbermühle

bei Frankfurt

Morgens hatte Frau Hollweg in einem Boot Musik machen lassen, sehr schöne Harmonieen. Es war so eingerichtet, daß sie anfing, als Goethe eben aufstand.[216] »Ei, ei,« sagte er, etwas ängstlich und bedenklich, »da kommen ja gar Musikanten;« doch fand er sich bald zurecht, weil die Musik sehr gut war. Damit gab's ein Mißverständniß, mit einem Dukaten, den der Alte durch seinen Bedienten Karl an die Musikanten schickte. Sie wollten und konnten natürlich nichts nehmen, es war das Theaterorchester, und fanden sich dadurch beleidigt.

Willemer eröffnete den Tisch mit einer passenden Anrede und Anspielung auf Freimaurersitte, und brachte Goethes Gesundheit aus, mit Wein aus seinem Geburtsjahr (1749) es war 1748er Rheinwein. Durchgehend herrschte eine muntere Stimmung. Dann kam ein Brief vom Consistorium an Geheimerath Willemer, mit dem gedruckten Erlaubnißschein zur Haustaufe eines an diesem Tag geborenen, unehelichen Sohns Wolfgang. Ein zweiter Brief kam in Knittelversen, von einem Meistersänger Christian, darin war eine kurze Wiederholung von Goethes Biographie, soweit sie jetzt gedruckt ist, mit den Namen aller seiner Mädchen in den Reimen, aber ohne den seinigen. Goethe merkte es gleich; beide Späße waren von Dr. Ehrmann.

Ich legte die heilige Barbara von Eyck mit meinen darunter versteckten Versen in Goethes Schlafzimmer; zur Linken des Bildchens einen schönen Eichenzweig, zur Rechten einen großen Lorbeer, unten, wo beide sich kreuzten, einen dreischüssigen Kleezweig, dieß faßte das Ganze angenehm ein. Vor Tisch hatte ich ihm auf[217] seinem Zimmer von Glück gewünscht, und gesagt, daß ich ihm was mitgebracht. Ich fand ihn da gerade bei der Denkschrift beschäftigt, wir umarmten uns herzlich, und als ich meine Freude zu erkennen gab, gerade an diesem Tag hier mit ihm zusammen zu sein, sagte er: »Ja es ist recht schön und ominös.« Das kleine Geschenk und den Vers nahm er nun mit Rührung auf; es entfuhr mir die auf mich selbst störend wirkende Entschuldigung: es seien die ersten Verse, die ich gemacht. »Nun,« sagte er, »sie sind gut gedacht, das übrige wird schon kommen.« Dann las er mir seine Denkschrift von Köln vor. Es muthete mich an, wie ein Kapitel aus seinem Leben. Ich solle in diesen Tagen zu ihm heraus kommen, da wolle er mir alles noch einmal rascher in die Feder sagen, man sehe dann am besten, wo es noch fehle. Er wollte nicht, daß ich weggehe; ich blieb den Abend draußen; er las uns von seinen orientalischen Gedichten. Es herrschte eine heitere, freundliche Stimmung in dem kleinen Kreis.[218]


644.*


1815, 29. August.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe... scheint entschieden, das Memoire drucken zu lassen, und so beides an Hardenberg und Metternich mit besonderen Briefen zu schicken. Ich lege ihm auf seine gestrige Vorlesung diesen Wunsch vor. Er will von mir haben, was wir über unsere[218] Sammlung gesagt haben wollen. Ich beschließe nun zu bleiben und ein Quartier in der Stadt zu nehmen; er ist damit sehr zufrieden.[219]


645.*


1815, 30. August.


Mit August und Theodor Kestner

Mittwoch den 30. August 1815 war einer meiner merkwürdigsten Tage. Von Bruder Theodor hörte ich, daß Goethe wahrscheinlich noch in Frankfurt sei und auf der sogenannten Gerbermühle bei Oberrad auf dem Wege nach Offenbach bei einem Freunde, dem Dr. Willemer, wohne. Es blieb nun, da er so entfernt von der Stadt und sein Hereinkommen unbestimmt war, nichts übrig, als ihn zu besuchen. Ich richtete daher mein Augenmerk auf meinen Freund Christian Schlosser, den ich mich freute seit Rom wiederzusehen, und hoffte bei ihm Hülfe zu Ausführung meines Plans zu finden. Ich traf ihn auf seiner Wohnstube mit einem gewissen Dr. Seebeck, einem Physiker und Optiker .... Um 4 Uhr war der Wagen da und wir fuhren nach Oberrad, wo wir an dem, nach der Gerbermühle führenden Wege zur Linken aufstiegen und an dem Main heraus sehr bald bei der Gerbermühle ankamen.

Der Bediente empfing uns an der Hausthür. Wir baten, dem Herrn Geheimen Rath aufwarten zu dürfen.[219] Der Bediente kehrte zurück mit der Nachricht: »es wird Ihro Excellenz viel Ehre sein.« Durch eine dunkle Treppe wurden wir in seine Wohnstube geführt, die für eine Gartenwohnung sehr groß und lang war. Er kam uns von der entgegengesetzten Seite entgegen und schien im Nebenzimmer sich angekleidet zu haben. Sein Anstand war würdig mit Absicht, aber sein Benehmen sehr freundlich, ja zuvorkommend; er half selbst die Stühle zusammenholen, indem er uns zum Sitzen nöthigte. Vorher fragte er, wer von uns beiden der Dr. Kestner aus Frankfurt sei.

Ich machte die Introduction damit, daß ich eines Briefes erwähnte, der mir von Frau von Beaulieu an ihn mitgegeben sei, den ich aber unglücklicherweise verloren habe. Sehr verbindlich erwiderte er darauf, daß ich auch ohne diesen mich eines freundlichen Empfangs habe versichert halten können. Dann richtete ich ihm eine Empfehlung meiner Mutter aus, indem ich mir Hoffnung gemacht, ihn in Wiesbaden anzutreffen. Er fragte nach ihrem Befinden und ob meine Geschwister noch vollzählig wären, indem er freundlich hinzufügte, daß unser seliger Vater ihm unsere sämmtlichen Silhouetten geschickt habe, als wir noch böse Buben gewesen, und daß er uns daher schon alle kenne. Dann kam die Rede auf Silhouetten, und er äußerte [sein Bedauern], daß diese ehemals gangbare Art, sich ein Andenken zu geben, so ganz abgekommen sei; denn es wäre doch ein treuer Schatten des Freundes gewesen.

[220] Nach einem kurzen Gespräch verschiedenen Inhalts nöthigte er uns darauf in den Garten. Beim Hinabsteigen in denselben wurde die Ältlichkeit seiner körperlichen Bewegungen sichtbar. Dieses schien ihm unangenehm; denn er nöthigte uns sehr angelegentlich, als wir zu seinen beiden Seiten ihn aus der Stubenthür begleiteten, die Treppe hinabzugehen, indem er folgen werde.

Der Garten bestand in einem Bosquet, an dem Main gelegen, und hier kamen wir zuerst durch einen Schattengang an einen freien Platz nah am Flusse, wo wir einen Kaufherrn, Herrn Nicolaus Schmidt aus Frankfurt antrafen, den Goethe bewillkommnete und »Du« nannte; er wird ein Jugendbekannter von ihm sein. Hier blieb er einige Augenblicke stehen und wies uns weiter zur Gesellschaft der Damen auf einem andern Platz, die zum Theil zur Willemer'scher Familie gehörten, zum Theil zum Besuch da waren.

Nachdem wir hier vorgestellt waren, kam Goethe uns nach und nahm sich so unserer Unterhaltung an, wie es dem gebührt, der Besuch bekommt. Er war dabei körperlich in einer beständigen Beweglichkeit und Unruhe, aber ohne schnelle Bewegungen. Anfangs theilte dann und wann eine Dame das Gespräch; doch hörte diese bald auf und er ging zwischen uns auf dem, von Bäumen umgebenen Platze, der nach dem Wege zu eine freie Seite hatte, auf und ab, oder, blieb er eine Weile stehn, so wiegte er doch den Oberkörper[221] auf den Füßen und lehnte sich zuweilen an. Die Hände hatte er meistens eingesteckt, entweder in die Tasche seines dunkelblauen Überrocks, der ihm schon wenigstens neun bis zehn Monate gedient hatte, oder in den Busen.

Während Theodor mit einem andern Herrn redend auf und ab ging, wurde mir das Gespräch mit Goethe etwa eine halbe Stunde allein zutheil. Es lenkte sich dieses auf Frau von Beaulieu und ihre Töchter [erster Ehe, Gräfinnen v. Egloffstein], von denen er mit vielem Interesse sprach, aber stets mit voller BeSonnenheit und einer großen Abgemessenheit. Er verbreitete sich mit gerechtem Lobe über das Talent der Comtesse Julie Egloffstein und äußerte, sie leiste alles, was man ohne höhere Leitung eines solchen hübschen Talentes erwarten könne. Ich erwiderte, daß ich die Wohlthätigkeit der Einwirkung eines geschickten Lehrers nicht verkenne, aber daß uns die Höhe der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts und früher beweise, daß in den wesentlichsten Theilen der Darstellung schon etwas Großes geleistet werden könne ohne völlige Correctheit der Zeichnung, und daß diese ohne die Kraft der Darstellung, die in jener Zeit geherrscht habe, für sich allein nach meinem Ermessen keinen großen Werth habe; ich führte den Masaccio an. Er billigte meine Erhebung jener Kunstepoche, aber wollte, den vorliegenden Fall betreffend, doch nicht davon abgehn, daß mehr Studium in der Zeichnung erforderlich sei, und hörte mit vieler[222] Freundlichkeit, daß es schon länger unter ihre Lieblingsideen gehört habe, in Weimar unter seiner Einwirkung sich in der Kunst zu üben. Ich erzählte, daß sie neuerlich manche Portraits mit großem Glück gemacht habe. Er fragte: »Alle mit Bleistift?« Ich bejahte es, und er rühmte ihre Geschicklichkeit, den Bleistift zu behandeln. Doch kam mir vor, als ob er gewünscht hätte, sie möge auch in andern Manieren Portraits machen.

Als im Gespräch eine Stille eintrat, erwähnte ich Christian Schlosser und meine Freude, ihn seit meinem Leben mit ihm Rom zum ersten Mal wiedergesehen zu haben. Er lobte ihn und seinen beharrlichen Eifer in seinen Wissenschaften und seiner Ausbildung. Ich erwähnte Overbeck's schöne Zeichnung. Auch er lobte die Composition und die große Sauberkeit ihrer Ausführung; ich stimmte ein, doch setzte ich hinzu, daß zwar eine Reminiscenz des Raphael in dem ähnlichen Bilde aus dem Palast Borghese unverkennbar sei1, aber dennoch in der Composition mehreres Eigenthümliche bleibe. »Kann man denn anders,« erwiderte er, »als in den schönen Gedanken Raphael's fallen?« Er hörte dann mit Interesse von mir, daß ich Overbeck aus seiner früheren Zeit kenne und er mir persönlich den angenehmsten Eindruck gemacht habe. Dann fragte er[223] nach seiner Ausbildung und hörte von seinem Geburtsorte Lübeck – wo er bei der brennendsten Begierde zur Kunst eine sehr mittelmäßige Anweisung gehabt – von wo er nach Wien unter Fügner's Leitung gekommen. Dann fragte er, ob nicht ein Verwandter des Overbeck Künstler gewesen; ich sagte ihm, daß sein Vater der bekannte Dichter gewesen, welches ihm neu war. Als ich diesen an einigen kleinen Gedichten bezeichnete, schien er zu glauben, ich wolle ihn herabsetzen und erwähnte mit einem Lobe, welches nicht gar sehr erhebt, die Overbeck'schen Gedichte; er nannte sie »gar brave Gedichte«, welche eine lobenswerthe moralische Tendenz hätten und wies dabei auf die Zeit hin, in welcher sie entstanden. Bei Gelegenheit des Overbeck erzählte ich, daß dieser mir in seinen Briefen aus Wien einen gewissen Pforr als einen sehr talentvollen Freund erwähnt, der gleichfalls das historische Fach zu dem seinigen genommen. Goethe ergriff diesen Namen und lobte sehr einige Zeichnungen von ihm zum »Götz von Berlichingen«, die sehr originell und kräftig und von vieler Erfindung wären. Leider sei dieser junge Mann gestorben. Die Rede kam dann auf Cornelius, von welchem Schlosser eine Zeichnung hat. Auch diesen lobte Goethe, aber mehr schien ihm Pforr am Herzen zu liegen.

An allen diesen drei Künstlern lobte er das Studium der alten Meister und erhob die höhere Leitung, die an ihrer Ausbildung bemerkbar sei. Als hierauf die Rede auf Riepenhausens fiel, die ich als meine Freunde[224] erwähnte, schien er sie gegen die andern herabsetzen zu wollen, und sagte, es sei noch immer das ungewöhnliche Talent, dem kein anderes vorgesetzt werden könne, an ihnen bemerkbar, aber ihre früheren Arbeiten hätten mehr versprochen, als sie nachher erfüllt; es fehle an der Ausbildung nach großen Mustern. Ich konnte leider nicht widersprechen und hob aus allen Kräften ihre ökonomisch beschränkte Lage hervor, die sie stets gedrückt habe, weshalb sie ein großes Stück ihres Lebens schon hätten verlieren müssen; bloß ihrer Hände Arbeit hätte sie ernähren müssen, und sie hätten während meines Dortseins die elendesten Aufträge anzunehmen nicht ausschlagen können, da sie niemals so glücklich gewesen wären, eine Pension zu erhalten oder einen Mäcen zu finden. Er hörte mich, wie es schien, mit Theilnahme, aber doch nicht so lebhaft an, daß er ihnen einen Mäcen verschaffen wird.

Während dieser Gespräche machte ich die Bemerkung, wie in unseren Zeiten ein Talent zur bildenden Kunst eine doppelte Hülfe bedürfe, da ein jeder mit der Zeit zu kämpfen habe, welche der Kunst ungünstig zu sein scheine, und berührte das Problem, daß in der guten Zeit, worin die Kunst geblüht habe, selbst mittelmäßige Talente etwas Gutes hervorgebracht hätten, sie mochten wollen oder nicht, als: Lorenzo di Credi und selbst Perugino. »Ja!« antwortete er mit einem Lächeln der Zustimmung, »die Fluth trägt das Schiff, aber wer wird es selbst tragen können? Es ist dergleichen geschehen[225] – die Argonauten haben es selbst getragen – aber nur gar wenigen ist dieses gegeben.«

Er fragte nach Sartorius und seiner Frau und hörte mit Theilnahme, daß ihre Gesundheit leide, und gebrauchte mehrere freundliche Ausdrücke bei ihnen. Ich bedauerte, ihm nichts Specielles von ihnen beiden sagen zu können, weil ich erst in der Nacht in Göttingen angekommen und früh weitergereist war.

Der Abschied war, wie andre Leute von Lebensart sich dabei benehmen, mit einigen verbindlichen Äußerungen über die gemachte Bekanntschaft, welchen er noch hinzufügte, daß er den Herrn Doctor noch bei sich zu sehen hoffe, um zu hören, daß ich in Wiesbaden wohl angekommen sei.


1 Wohl lo sposalizio sowie Overbeck's Geschichte Josephs gemeint.[226]


646.*


1815, 5. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe besucht mich morgens mit Dr. Seebeck. Findet die Steinmetzordnung auf meinem Tisch; ich erzähle ihm davon. Nachmittags begegne ich Goethe auf der Zeil, spreche vom Graf Solms [der im Auftrag des Minister Freiherrn v. Stein mit Boisserée über die Unterstützung der Kunstbestrebungen der Brüder verhandelt hatte], da sagte er: »Ei! das ist gut, so macht sich ja Eure Sache von selbst, und Ihr braucht mich nicht einmal. Wenn Ihr mich aus dem Spiel[226] lassen könnt, wäre mir's lieb.« Ich wehre sehr dagegen, sage, daß er selbst dem Grafen erst einen Anhalt gebe, daß dieser mir gezeigt, wie lieb ihm das sei. Mit Goethe bei Guaita. Der junge Maler Ludwig Grimm zeigt seine Zeichnungen, Frau von Savigny ist seine Beschützerin; übertriebenes Lob eines schönen Talents. Goethe sagt: »Jeden Sommer wachsen Rosen, die Talente sind immer da, wenn sie nur entwickelt würden. Ich als ein guter Jesuitenprovinzial würde dem jungen Mann aufgeben, ein Jahr lang keiner Frau seine Zeichnungen zu zeigen.« Goethe sagte mir, daß er ein Quartier in der Stadt wünsche. Ich sehe die Wohnung bei Lindheimer für ihn an. Nachmittag bin ich wieder auf der Mühle. Ich trage ihm die Sache wegen dem Quartier vor, und spreche mit Willemer, daß er es ihm in seinem Haus verschaffe. Wir haben eine weitläufige Unterhandlung darüber. Goethe ganz gerührt, freundlich.[227]


647.*


1815, 8. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Den 8. ist Goethe in die Stadt in Willemers Haus gezogen; ich komme abends um sechs Uhr zu ihm. Er steht am Fenster, bewundert die Pracht brasilianischer Trockenhäute, er rief dabei aus: »was das für ein Glanz und eine Farbe ist!« Dadurch kommen wir[227] auf die Farbenlehre. Goethe: »Es findet sich überall ein Haken, ein Kreuz in aller Expansion und Contradiktion, überall dasselbe, alles nur Metamorphose.« Ja in der Naturansicht lasse ich mir den Pantheismus schon gefallen; weiß wohl, daß man damit am weitsten ausreicht. Goethe: »die Natur ist so, daß die Dreieinigkeit sie nicht besser machen könnte. Es ist eine Orgel, auf der unser Herrgott spielt, und der Teufel tritt die Bälge dazu.«[228]


648.*


1815, 10. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Sonntag den 10. abends bei Goethe. Feuerwerk in der Schwimmschule auf dem Main. Meine erste Kunstliebhaberei war Rubens in der Düsseldorfer Gallerie. Ich lese den Ardinghello. Gespräch über Heinse; Zügellosigkeit des Genies; über Stil; Wieland gerühmt. Ich äußere wieder den Wunsch, den Winter in Weimar zuzubringen, um mir bei meinen schriftstellerischen Versuchen Rath zu holen. Er räth abermals ab. Seine Heiden machen es ihm, der er doch selbst ein Heide sei, oft zu arg; das sei nichts für mich; ich würde bloß auf ihn reducirt sein, das sei zu wenig, weil er mich nicht oft genug in freier, vertraulicher Ruhe sehen könne. Er zeigt mir das Werklein, es ist schon fingerdick angewachsen, er hat dem Herzog[228] schon davon geschrieben. Ich frage nach dem Titel, ob: Von Kunst und Bildung am Rhein; er meint: Von Kunst und Alterthum im südwestlichen Deutschland! Ich will gern den Rhein genannt haben, es ist bezeichnender, charakteristischer. Ja, meint er, da müsse auch der Meyer [Main?] nicht vergessen werden u.s.w. Er wünscht noch Zusätze zu meinem Entwurf. Goethe sagt, er habe sich oft gefragt, warum er sich mit so vielerlei Dingen abgegeben? Habe doch so entschiedene Anlage und Neigung zum Dichten, warum er nicht allein dabei geblieben? warum er sich auch in die Wissenschaften gewagt, und es ihm keine Ruhe gelassen, selbst in Italien nicht. Ich meinte, er habe seinem Zeitalter die Schuld und Buße bezahlen müssen; er stimmt ein.[229]


649.*


1815, 11. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Begegnet mir Goethe in der Fahrgasse, maulaffend. Er nimmt mich mit, wir gehen in das Münster, ins Conklave u.s.w. Der üble geringe Eindruck des Gebäudes in der Jugend wird ihm begreiflich. Wir wandern durch die Messe am Main; alle Landschaften werden bedacht, die ihre Produkte und Waaren hieher senden. Freude, daß die Welt, das Leben für Bedürfnisse sich immer gleich bleiben. Ein Trost für die Seelenwanderer.[229] Wir kamen endlich zum Krahnen. Goethe fragte nach allen Kisten und Fässern, was darin sei; wandte sich an einen jungen Schiffer, der war von Linz, sprach ganz kölnisch; wir wanderten unter die Bäume, wo der Wein gelegt zu werden pflegt, und dann nach Hause.

Es kommt die Rede auf die Zeichnungen von Cornelius, Overbeck und andern bei Wenner, die ich sehen soll, da fehle an allen etwas. Im jetzigen Zustand der Kunst sei bei vielem Verdienst und Vorzügen große Verkehrtheit; die Bilder von Maler Friedrich können eben so gut auf den Kopf gesehen wer den. Goethes Wuth gegen dergleichen; wie er sie ehemals ausgelassen, mit Zerschlagen der Bilder an der Tischecke, Zerschießen der Bücher u.s.w.; er habe sich da nicht erwehren können, mit einem Ingrimm zu rufen: das soll nicht aufkommen! und so habe er irgend eine Handlung daran üben müssen, um seinen Muth zu kühlen. Ich erinnere an Jakobi, Woldemar u.s.w. Goethe: »Ja deßwegen haben die Hamburger, die Reimarus und Consorten, mich nie leiden können, immer nur gesagt, ich sei ein scharfsinniger Mensch, habe dann und wann gute Einfälle.« Der Reimarus'sche Theetisch sei im Privatisiren ein Stichwort der Weimarer Heiden. Ich bemerke, es seien in Frankfurt viele Kunstsammlungen, mehr als ich gedacht, und bei so viel Leben, Handel und Bewegung ließe sich da wohl auch eine schöne Wirksamkeit für uns denken. Goethe meinte dagegen,[230] wir müßten durchaus nach Köln, auch ließe sich in solchen Dingen allein mit einer monarchischen Regierung was rechtes ausrichten.

Er zeigt mir seine Ansicht der altdeutschen Kunst und Behandlung derselben, in einem Beispiel an der Darbringung im Tempel von Eyck. Hier ist die Tradition Unterlage, wirkt gleichsam als Folie, in dem Gemüthlichen, Natürlichen und Vernünftigen, welches alles mit der höchsten Fertigkeit und Talent in Nachahmung der Natur und Behandlung der Farbe verbunden ist. Das Bild befriedigt die Forderung des Natürlichen, Gemüthlichen, Vernünftigen; die Tradition tritt zurück und dient als bloße Folie.[231]


650.*


1815, 13. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Mittwoch den 13. morgens um sieben Uhr läßt mich Goethe wecken, und zu sich rufen. Er rief mir zu: »Ich muß Euch wecken aus Eurem Sündenschlaf, hab' Euch was zu sagen. Wir gehen nach Heidelberg, der Herzog kommt hin; er will am 20. in Karlsruhe, Freitag am 22. in Heidelberg sein. Wir gehen Montags ab, bleiben Dienstag in Darmstadt, sind Mittwoch in Heidelberg.« Er hatte eine rechte Freude, mir seinen Entschluß anzukündigen.[231]


651.*


1815, 15. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Morgens war ich noch mit Goethe bei Serrand. Im Herausfahren war er dankbar dafür, daß ich ihn dahin geführt habe. Er sagte: so einzelne bedeutende Werke sind einem auf einmal mehr, als sonst hundert andere; es war ihm das liebste und lehrreichste in Frankfurt. In Hobbema, in Paul Veronese, in Rubens erscheint die Selbständigkeit der Kunst; wo der Kunst der Gegenstand gleichgültig, sie rein absolut wird, der Gegenstand nur der Träger ist, da ist die höchste Höhe; das erscheint auch im Wouvermann bei Brentano. Schon oft war dies Princip zwischen uns zur Sprache gekommen, zuerst und am auffallendsten am 7. draußen auf der Mühle; nachmittags als von der Beschreibung der Reise der drei Könige von Hemmelink die Rede war. Sie sei nicht recht; man müsse sie nicht mit der Verkündigung, sondern mit den drei Königen anfangen, welche auf den Bergen den Stern beobachten, und die andern Darstellungen episodisch mitnehmen. Sonst sei die ganze Art meiner Beschreibung gut, nur würde er sie nicht so machen, weil er eine ganz andere Ansicht der Kunst habe. Auf meine Frage, worin diese Verschiedenheit bestehe? wollte er anfangs nicht heraus. Es sei eine Antinomie der Vorstellungsart, da helfe alles nichts, sich darüber zu verstehen wäre vergebens.[232] Wir hingen am Gegenstand, und müssen daran hängen, das sei recht, das gehöre zur ganzen Ansicht, aber es sei nicht das Höchste. Der Spielmann sei noch irgend anders begraben. Ich erwiderte, daß ich nicht begriffen, was er meine; ich glaube sehr, daß es einen Punkt gebe, worin wir zusammen kämen, und brauche das Gleichniß von einem Spitzbogen oder Parabel; einerseits setzte ich den Gegenstand, die Bedeutung, andererseits die Form, die Regel, das freie Spiel der Kunst, mit dem Gegenstand. Ich finde das Höchste nur in der Vereinigung von beiden; in Raphael zum Beispiel und in den schönsten antiken Werken. Er mußte sich damit zufrieden stellen, wollte aber nicht recht zugeben, daß es mir Ernst sei. Wir kamen wieder auf den Pantheismus, ich brachte es darauf mit einigen Neckereien, wegen dem Abstrahiren vom Gegenstand, und so waren wir bald im allgemeinen. Er sagte mir, in Beziehung auf meine Arbeiten, auf mein Treiben und Vorhaben, es gehe mir wie dem Seebeck; wir säßen im Fegefeuer, und dächten nicht, daß uns nur eine papierene Wand vom Himmel trenne. Hätten wir nur den Muth, diese durchzuschlagen, so wäre uns geholfen. Im vorigen Jahr hatte er mir gesagt, er hätte Freunde, die treffliche Arbeiten machten, er selbst hätte ihnen Vorschub gethan, ihnen seine Hefte gegeben u.s.w., aber sie könnten nie zur Ausführung kommen, da wäre immer etwas woran es fehle, sie würden nie fertig; das schien er diesmal zu verschiedenenmalen auch von[233] Seebeck zu sagen. Merkwürdige Erfahrung, sagt Goethe, habe er gemacht an den Zeichnungen bei Wenner; keine behage ihm, und da sei doch der Gegenstand nicht Schuld, denn sie seien aus allen Zeiten. Er habe sich gefragt und gefunden, der Grund liege darin, daß sie alle nicht unmittelbar aus erster Quelle entstanden seien.

Goethe hatte der Frau Willemer ein Blatt des Gingko biloba als Sinnbild der Freundschaft aus der Stadt geschickt. Man weiß nicht, ob es eins ist, das sich in zwei Theile theilt, oder zwei, die sich in eins verbinden.[234]


652.*


1815, 16. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe liest mir, was er von den Steinmetzen geschrieben. Die Kölner Reise. Wallraf. Die Kapelle von Fuchs. Von uns. Vom Dom. Ausbau desselben. Kononikus Pick. Von Frankfurt hat er ein dickes Paket, will aber nichts lesen lassen; das müsse sich erst ordnen, liege noch zu wild durcheinander.[234]


653.*


1815, 16. September.


Abends bei Willemers

Abends singt Marianne Willemer mit ganz besonderem Affekt und Rührung: »der Gott und die Bajadere«.[234] Dann: »kennst du das Land« und mehreres andere, ausdrucksvoller als ich es je von ihr gehört. Die kleine Frau bemerkte, und Goethe bestätigte, daß die Zeit während der Musik unendlich langsam gehe; die größten Compositionen drängten sich in einen kurzen Zeitraum zusammen, und scheine einem bei dem größten Interesse, eine lange Zeit verflossen. Nach Tisch liest Goethe den Siebenschläfer, den Todtentanz, das Sonett: »Am jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen.«[235]


654.*


1815, 17. September.


Bei von Willemers

Sonntag den 18.1 zahlreicher Mittagstisch im großen Saal. Goethe erzählt von der schönen Müllerstochter in der Nonnenmühle bei Wiesbaden, mit der ihn Frau Pansa bekannt gemacht hat, als ein Gegenstück zu seiner Dorothea. Reinlichkeit, Wohlhabenheit, Schönheit, Derbheit. Sie spielt Klavier, die Brüder sind zugleich Fuhrleute, eine alte Mutter steht dem Haus vor. Eine alte Muhme ist der Apotheker aus »Hermann und Dorothea« und recht gut. Sie hat noch eine Zahl kleiner Geschwister. Nachmittags kömmt Herr Mieg, früherer Hofmeister der Familie. Goethe hatte eine Apprehension, schon als der Mann herein[235] trat, und ihm als ein Freund des Hauses angekündigt wird. Abends Gesang. Marianne singt wieder »der Gott und die Bajadere«. Goethe wollte dies anfangs nicht; es bezog sich dieses auf ein Gespräch, das ich kurz vorher mit ihm geführt, daß es fast ihre eigene Geschichte sei, so daß er wünschte, sie sollte es nimmer singen. Nachher singt sie hübsche Volkslieder; dann aus »Don Juan«: »Gieb mir die Hand mein Leben«, als Arie. Goethe nennt sie einen kleinen Don Juan; wirklich war ihr Gesang so verführerisch gewesen, daß wir alle in lautes Lachen ausbrachen und sie, den Kopf in die Noten versteckt, sich nicht erholen konnte.

Die lustige Stimmung setzte sich auch beim Abendessen fort, die Frauen brachten allerlei Späße vor, wozu die Gegenwart des Herrn Mieg Anlaß gab; es waren meist Erinnerungen ihrer italienischen Reise. Dann wurde, weil wir auf der Mühle waren, viel Scherz getrieben mit der Anspielung auf die Müllerin, und auf den Müllersknecht: an dem ist nichts zu verderben. Man bat Goethe wegen Herrn Mieg darum, noch etwas zu lesen, und die kleine Müllerin schmückte sich mit ihrem Turban und einem türkischen Shawl, den Goethe ihr geschenkt hatte. Es wurde viel gelesen, auch viele Liebesgedichte an Jussuph und Suleika. Der Todtentanz wurde gesagt und anderes. Willemer schlief ein und wurde darum gefoppt. Wir blieben deßhalb desto länger zusammen, bis ein Uhr. Es war eine schöne Mondscheinnacht. Goethe will mich in seinem Zimmer[236] noch bei sich behalten; wir schwatzen, dann fällt ihm ein, mir den Versuch mit den farbigen Schatten zu zeigen, wir treten mit einem Wachslicht auf den Balkon und werden am Fenster durch die kleine Frau belauscht.


1 Irrig.[237]


655.*


1815, 18. September.


Mit Sulpiz Boisserée

Nachmittags fuhr ich mit Goethe durch den Wald nach Darmstadt, schöne Lichter spielen an den Baumstämmen und auf dem Rasen. Wir kamen von dem Gesang der Willemer auf Musik, auf Mozart zu sprechen. Dann las er mir ein Lied eines Freiwilligen, sehr hübsch, naiv und ironisch zugleich, durch eine gewisse Selbstgefälligkeit. Es kommt in die neue Ausgabe, hinter »Vanitas Vanitatum« zu stehen.[237]


656.*


1815, 19. September.


Mit Sulpiz Boisserée und Georg Moller

Den 20. September1 kommen wir nach Darmstadt, es ist hell und kalt. Am andern Morgen acht Uhr gehen wir ins Museum, Goethe zu den Naturalien, ich zu den Gemälden und Statuen; dann beschäftigten uns noch Smeathons Leuchtthürme bis halb zwei Uhr; da[237] geht Goethe nach Hof. Als Goethe zurück kam, gingen wir zusammen zu Moller. Im Gehen erzählt er mir die Entstehung des Lingham. Es sei ein unendlicher Geist und Weisheit in den indischen Sagen; er verehre sie sehr hoch. Aber nur müßte er ihre Bilder nicht dabei sehen, die verdürben gleich die Phantasie bis zum Verfluchen!

Bei Moller sahen wir den Straßburger und den Freiburger Münster und sein kleines Werk, sein Theater und seine Kirche. An dieser entwickelte Goethe seine Grundsätze über Architektur. Alles müsse in drei Theile fallen; das Gesetz der Säulenordnung auf das Ganze angewandt werden, denn es käme wesentlicher darauf an, daß das Ganze harmonisch, als daß das Einzelne immer streng nach der hergebrachten Schnur und Regel sei.

Beim Nachtessen war Primavesi, er sprach abgeschmacktes Zeug über Dekorationen, rühmte seinen Mondschein mit künstlichem Mond, und will auch eine künstliche Sonne auf's Theater bringen: eine Glaskugel mit altem Rheinwein gefüllt, weil keine gefärbte Flüssigkeit so prächtig, klar u.s.w. sei. Ironie half nichts gegen ihn. Goethe erzählte von Mondschein in Rom, ohne allen Mond, in einer sehr schönen Dekoration. Man wählt dazu Architektur mit krausem mannigfaltig verziertem Umriß, ganz dunkel auf dem Himmel abgeschnitten, davor eine Mauer und niedrige Gebäulichkeiten ganz hell wie von Mondschein beleuchtet.


1 Jedenfalls den 18.[238]


657.*


1815, 20. September.


Mit Sulpiz Boisserée und Anton Thibaut

Mittwoch den 21.1 fuhren wir nach Heidelberg. Unser Gespräch führte uns auf die Antike. Goethe wünschte sich in einem Statuensaal zu wohnen und zu schlafen, um unter den Göttergestalten zu erwachen. Ich habe mir zuerst die Büsten in physiognomischer Rücksicht angesehen, die der Götter, sowie der Personen; überall herrscht dieselbe Großheit der Naturansichten; ich meine, die Griechen hätten keine Anatomie getrieben in der Kunst, sondern bloß durch die Oberfläche mit ihrem glücklich scharfen Auge den ganzen Körperbau durchgesehen. Goethe sagte ausdrücklich das Gegentheil; es wäre auch ohne Anatomie nicht möglich. Ich sprach dann auch meine Verehrung aus über die Einheit und das glückliche Maßhalten in allen ihren Werken. Goethe sagte darauf: »Ja, in Allem, auch in ihrem Theater; nehmen wir Calderon, Shakespeare dagegen; diesem Letztern fehlt die Einheit; er war von seiner Zeit abhängig, so gut wie Jeder, die Schlegel mögen sagen was sie wollen. Shakespeare ist mehr episch und philosophisch als dramatisch.« Goethe hat »Romeo und Julie« für die Bühne abgeändert; er gibt mir eine weitläufige Beschreibung der Endscene; von dem Theatereffekt der Lampe in der Gruft über der Leiche u.s.w.[239] Cornelius' Zeichnung hatte uns darauf gebracht, worin diese Handlung ganz verfehlt ist.

Dann kamen wir auf den »Faust« die Fortsetzung desselben. Über Goethes Werke überhaupt. Meisters Wanderungen. Novellen. Auf die bestimmte Zahl der verschiedenen möglichen Liebesverwicklungen.

Ich brachte das Gespräch auf seine Naturansichten, auf die versprochene Formenlehre. Die Metamorphose ist in Allem, auch in den Thieren. Der Kopf ist nichts anderes, wie ein Wirbelbein. Diesen Gedanken hat ihm Oken gestohlen, als er denselben abends bei Fromanns aussprach, und ihn auf der Stelle in einer schon in der Druckerei befindlichen Abhandlung oder Programm eingerückt. – Goethe sprach den Wunsch aus: jetzt, da wir einmal auf dem Weg sind, sollten wir nur sofort nach München und Italien fahren. Wir kamen zu Mittag nach Heidelberg.

Thibaut bekennt, daß er Unrecht gehabt in Vertheidigung von Görres, im vorigen Jahr. Goethe erwidert uns darauf: »Ja, lehrt mich die Welt nicht kennen. Ich habe gleich, als der Enthusiasmus los ging, den Fluch des Bischofs Arnulphus über alles deutsche politische Gerede ausgesprochen, und mir dadurch die Qual vom Halse gehalten. Wie sie mir nur davon anfingen, hub ich gleich an: ich verfluche euch u.s.w. Da waren sie bald still und ließen mich ungeschoren.«


1 Mittwoch war der 20.[240]


658.*


1815, 21. September.


Mittag bei Sulpiz Boisserée

Donnerstag den 22.1 mittags, waren Creuzer und Daub bei uns zum Essen. Goethe erzählte von den neugriechischen Dichtungen von etwa fünfzig Jahren her. Die Helden seien meist unabhängige Seeräuber und in den Gebirgen Landräuber, oder Familien auf kleinen Inseln, es seien meist dramatische Romanzen. Alle Elemente, lyrische, dramatisch-epische, seien in Einer Form. Der Geist derselben sei der nordische, schottische mit dem südlichen und altmythologischen verbunden. Das Gespräch eines Adlers mit dem abgeschlagenen Haupt eines Räuberanführers, welches er auf die Felshöhe getragen. Charon, ein Reiter, welcher die Seelen der Gestorbenen hinten an den Schweif seines Rosses bindet, die der Kinder an den Sattel hängt. Ein Pferd, welches seinen erschlagenen Herrn beklagt und mit der Hufe scharrt. Ein Bräutigam, der auf der Überfahrt zur Braut in einem siegreichen Gefecht mit den Türken bleibt, und wünscht, es solle der Braut verschwiegen werden.


1 Donnerstag war der 21.[241]


659.*


1815, 23. (?) September.


Mittag bei Sulpiz Boisserée

Mittags, als wir bei Tische saßen, kömmt Willemer unverhofft. Ich hatte ihm, weil der Herzog noch immer erwartet wurde, geschrieben, am Montag zu kommen. Nachdem wir eine kurze Weile gesessen und uns von der ersten Überraschung erholt hatten, sprang Goethe plötzlich auf, ich folgte ihm in sein Zimmer, er sagte: »Wir können doch nicht essen, während die Frauen im Gasthof warten. Das gibt ein Precipicio der ersten Sorte!« Ich ging zu den Frauen, und erst als ich sie brachte, setzte Goethe sich wieder zu Tische.[242]


660.*


1815, 29. September.


Bei Boisserées Gemäldesammlung

Als während des zweiten Aufenthaltes Goethes in Heidelberg der Großherzog von Weimar dorthin kam und zum Besuch der Sammlung bei den Boisserées sich melden ließ, sagte Goethe zu diesen: »den überlassen Sie nur mir! Haben Sie nicht ein recht altes aber merkwürdiges Bild?« Es wurde eins aus der Rumpelkammer herbeigeholt; das hing Goethe gerade über der Thür des Bildersaals auf. Als der Großherzog erschien, unterhielt sich Goethe mit ihm über[242] die Sammlung, rühmte besonders die geschichtliche Folge und Übersicht und machte dann, um dies mit Beispielen zu belegen, zunächst auf das alte Bild über der Thür aufmerksam. Aber während er noch sprach, war der Großherzog mit einem Mal zur Thür hinaus, man wußte nicht wie. »Das Bild hat seine Wirkung gethan,« sagte Goethe, der dem Fürsten nachgeeilt war, als er zu den Freunden zurückkam.


[In S. Boisserée's Tagebuch steht am 29. September: »Ankunft des Herzoges von Weimar. Die Thurm risse werden in Goethes Zimmer aufgehängt.«][243]


661.*


1815, letztes Drittel im September.


Mit Georg Friedrich Kreuzer

Eines Nachmittags begegneten wir [G. Parthey und Genossen] Creuzern oben auf dem Schlosse und begleiteten ihn durch einpaar Gänge. Er hielt ein Blatt des wunderbaren chinesischen oder japanischen Baumes Gingko biloba in der Hand, von dem ein Stämmchen im Schloßgarten steht. Dabei theilte er uns mit: er habe, als Goethe 1815 Heidelberg besuchte, mit diesem bei einem Spaziergange im Schlosse ein langes und interessantes Gespräch über die symbolische Deutung und Sinnigkeit der hellenischen mythologischen Personen und Erzählungen geführt; er habe versucht, Goethen auseinanderzusetzen, wie jede hellenische Gestalt doppelt anzusehen sei, weit hinter der bloßen[243] Realität ein höheres Symbol verborgen liege. Die einfachen Fälle seien bekannt genug: Ares als Kriegsgott bedeute auch den Krieg, Hebe als die Jugendgöttin auch die Jugend; es gebe aber entferntere Anwendungen davon: der Fluß, in dem die Jungfrauen baden, empfange gewissermaßen ihre Erstlinge, so habe es geschehen können, daß ein verwegener Lieb haber als Flußgott die Sache in buchstäbliche Erfüllung gebracht. Dies dürfe aber nicht bloß als eine Personification der Zustände betrachtet werden, sondern Doppelsinn sei allen antiken Mythen immanent, wenngleich nicht immer leicht herauszufinden. Den Glaubenden genügte das stricte Wortverhältnis, den Wissenden ward der höhere Sinn in geheimen Weihen aufgeschlossen. – Goethe ging auf diese Erörterung mit dem Eifer ein, als sie gerade bei dem Gingko biloba stillstanden; er pflückte ein Blatt und sagte: »Also ungefähr wie dieses Blatt: eins und doppelt.«[244]


662.*


1815, letztes Drittel im September.


Mit Wilhelm Grimm

Goethe... wohnt bei Boisserées und schreibt über die Gemälde; außerdem gibt er sich mit persischen Sachen ab, hat ein Päckchen Gedichte in Hafi's Geschmack gemacht, liest und erklärt die [chinesische Erzählung] Haoh Kiöh Tschwen und lernt bei Paulus arabisch. Er[244] war so gnädig einpaarmal dazusein, als wir die Bilder besahen und kam auf einmal zu mir und fragte nach unsern literarischen Arbeiten. Ich sagte ihm dann Verschiedenes, unter andern auch, daß das mannigfache Leben der Sagen, ihr Hin- und Herströmen, ihre Vereinigung und Trennung ein besonderes Augenmerk sei. »Ja!« antwortete er, »was kann die Kritik anders sein als die Beobachtung der verschiedenen Wirkungen der Zeit« – was ganz meine Meinung auch ist. Creuzer hat mir gesagt, daß ihn (Goethe) besonders die Prosaübersetzung der Edda gefreut; er redet noch immer von einer ähnlichen Arbeit beim Homer.[245]


663.*


1815, letztes Drittel im September.


Mit Louis [Ludwig] Grimm

Der Lui (Louis Grimm, jüngerer Bruder, Maler) hat es aus natürlichem Gefühl ebenso gemacht [d.h. sich gegen Goethe zurückhaltend benommen], und zu dem ist er [Goethe] auch gekommen, hat ihn über die Rheinreise gefragt und dergl., recht liebreich.[245]


664.*


1815, 1. October.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe... klagte über die Vogelnestergewölbe in Henry VII. chapel in Salisbury Chathedral, und über[245] den unsinnigen Bücherluxus in England. Ein botanisches Werk, bloß von Tannen handelnd, kostet achtzig Guineen.[246]


665.*


1815, 2. October.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe... sagte mir: »An Euerm Domriß ist mir ein Licht aufgegangen; ich habe aperçus gehabt. Ich glaube jetzt das ganze Geheimniß der Architektur heraus zu haben.«[246]


666.*


1815, 3. October.


Mit Sulpiz Boisserée

Dienstag morgens um sechs Uhr fuhr ich mit Goethe nach Karlsruhe. Goethe fing gleich damit an, er habe dem Domriß was abgesehen. Der Domriß habe ihm ganz neue Aufschlüsse über die Architektur gegeben. Er habe nie mit dieser Kunst recht fertig werden können. Mit den Farben sei es ihm auch so gegangen, bis er sie in physiologische, physische und chemische eingetheilt habe; jetzt hoffe er, mit der Architektur auch fertig zu werden; nur das Verhältniß zur Natur sei ihm noch nicht recht klar. Ich sprach meine Meinung aus, daß Naturnachahmung zu Grunde liege, aber nicht gerade unmittelbare, daß alle größere Architektur von den Höhlen[246] ausgegangen, daß zu unterscheiden sei zwischen häuslicher und heiliger Architektur, zwischen Architektur des Bedürfnisses und der einer höhern Bestimmung. Goethe sagte, er begreife jetzt erst recht, warum ich den Dom von Köln so vorgezogen, da sehe er, wie alles Andere dagegen verschwinde, er finde Princip darin und mit der größten Consequenz durchgeführt. Ich frage vergebens, daß er es ausspreche. Es sei noch nicht Zeit, ich würde es schon erfahren. Ich äußerte, daß ich sehr begierig darauf sei, und ob es mit dem zusammen stimmte, was ich darüber dächte; verschweige aber auch mein Geheimniß, so sehr ich mich auch gedrungen fühlte, es ihm zu offenbaren. Doch ein Schweigen gebiert das andere. Er sagte, er habe den Herzog in Mannheim, im Hinblick auf den Dom, schön damit geschoren, bei den englischen Werken. Ich sprach von des Herzogs Anlage eines gothischen Orangeriehauses, und was mir der Baumeister Stieler dabei von des Herzogs eigener Erfindung gesagt; so kamen wir auf den Herzog und zur Rekapitulation der letzten Tage, wie sich alles gedrängt, daß der Herzog durchaus auf dieser Reise nach Karlsruhe bestanden habe. Dann kamen wir auf die Willemers. Er lobte die Frauen und bedauerte, daß Willemer mit seinem strebenden, unruhigen Geist sich nicht auf ein bestimmtes Fach, auf eine Liebhaberei geworfen habe. Die Verhältnisse mit Frauen allein können doch das Leben nicht ausfüllen, und führen zu gar zu viel Verwicklungen, Qualen[247] und Leiden, die uns aufreiben, oder zur vollkommenen Leere. Doch sehr zu rühmen und zu ehren sei die Macht des sittlichen Princips bei diesem Mann, dieses allein habe ihn in der Höhe gehalten, in der Verwirrung von Verhältnissen, in die er sich gestürzt. So ist die Rettung der kleinen, liebenswürdigen Frau ein großes sittliches Gut. Wenn die Menschen bei so viel Verirrung edel bleiben und gut, so müssen wir uns schon Herbigkeit und Schroffigkeit gefallen lassen. Es ist ein Wunder, daß Willemer nach allem, was er getrieben und erlebt, noch ein solcher Mann ist und solch ein Haus hat. Gegen die gewöhnlichen, ja gemeinen kaufmännischen und Geldverhältnisse kämpfte sein unbezwingbares, edleres Wesen.

Alte Erinnerungen: wie oft Goethe den Pfad durch die Gerbermühle gegangen nach Offenbach zur Schönemann. Liebesgeschichte. Seine Lieder an Lilli. Braut und Bräutigam. Wie sie allmählich von einander entfernt worden durch einen Dritten, ohne es selbst zu wissen. Religionsverhältnisse waren erster Anlaß, sie ist reformirt, er lutherisch. Sie sind unglücklich, wie die Kinder, die ein Leid haben, und es sich wechselseitig klagen und nicht wissen warum. Dorville, ein Pfarrer, ist im Spiel. Sie hat ihm den größten Theil ihrer höhern Bildung zu danken. Vorher Gleichgültigkeit gegen die Welt, wie es sich bei Mädchen in einem reichen Kaufmannshaus, die alle Tage von Gesellschaft umgeben sind von frühester Jugend her, leicht einfinden[248] muß, wenn sie nicht selbst flach und leer sind. – Er spricht von seiner Verlegenheit wegen dieser Geliebten, die Lebensbeschreibung fortzusetzen; ich suche sie ihm auszureden. Vor vierzig Jahren reiste er auch nach Karlsruhe; er werde da Jung Stilling wieder sehen, dem er seitdem nicht begegnete. Die Schönemann müßte auch da sein. – Lebensbeschreibung, Composition. – Ich erinnere an sein Gedicht von der Schöpfung, das er dieser Tage gemacht hat, worin nur ein Gedanke verkehrt war, und die ganze Composition gestört und verdorben hat. Er fand's nachher und warf ihn heraus. Er hatte mir versprochen, dies als ein merkwürdiges Beispiel ausführlich vorzulegen, wie es bei der Composition oft auf ein einzelnes Wort ankomme. Doch nun wollte er den falschen Vers nicht sagen, sondern hielt sich im Allgemeinen. Das Gedicht ist sehr dunkel und metaphysisch. Nach der Handlung der Schöpfung fühlt sich Gott zum erstenmal einsam! – Dies gibt mir dann Anlaß von seinen Naturansichten zu reden, und von seinem Vorhaben ein Naturgedicht zu schreiben. Er verwirft es jetzt. Man ist zu sehr gebunden. Besser einzelne Gedanken, wie die Gedichte des Divan, die man nachher in ein Ganzes ordnet. Ich muntere ihn dazu auf. Er geht darauf ein, und sagt: »Ja, einen Anlaß muß man doch zu Allem haben, und so wollen wir von Heidelberg gleich zwei Buch Baseler Papier mitnehmen, darauf schreibe ich so gerne, die lassen wir in einzelne Blätter schneiden.« Ich bitte[249] mir aus, sie ihm schenken zu dürfen. Er erzählt mir von seiner philosophischen Entwicklung. Philosophisches Denken; ohne eigentliches philosophisches System. Spinoza hat zuerst großen und immer bleibenden Einfluß auf ihn geübt. Dann Baco's kleines Traktätchen, de Idolis; Eidôleis, von den Trugbildern und Gespenstern. Aller Irrthum in der Welt komme von solchen Eidôleis (ich glaube, er nimmt deren zwölf hauptsächliche an). Diese Ansicht half Goethe sehr, sagte ihm ganz besonders zu. Überall suchte er nun nach dem Eidolon, wenn er irgend Widersprüche fand, oder Verstockung der Menschen gegen die Wahrheit, und immer war ein Eidol da. War ihm etwas widerwärtig, stieß man gegen die allgemeine Meinung, so dachte er bald, das wird wieder ein Eidol sein, und kümmerte sich nicht weiter. So reiste er nach Italien; da besonders wurde er immer von philosophischen Gedanken verfolgt, und kam er auf die Idee der Metamorphose. Als er nachher Schiller in Jena sah, theilte er ihm diese Ansicht der Dinge mit, da rief Schiller gleich: Ei, das ist eine Idee! Goethe mit seiner naiven Sinnlichkeit sagte immer, ich weiß nicht, was eine Idee ist, ich sehe es wirklich in allen Pflanzen u.s.w. Nun wollte er sich doch auch mit der Sprache und dem System dieser Männer bekannt machen, so kam er durch Schiller an die Kantische Philosophie, die er sich von Reinhold in Privatstunden vortragen ließ u.s.w.

Ich erzählte dagegen von unserer philosophischen[250] Bildung, überhaupt von unserer Bildung durch Schlegel; unsere Geschichte wieder von einer andern Seite, von der literarischen. Von der Architektur; meine Ansicht der Geschichte der christlichen Architektur von den ältesten Zeiten. Mosaik. Liturgie etc. etc. Dann breche ich ab oder bleibe stehen, weil ich mein Geheimniß nicht verrathen will, sondern verspreche nur, daß es sich schön und sehr einfach machen wird. So sind wir dann an den Wünschen für die Zukunft angelangt. Goethe meint, von Frankfurt aus müsse man immer den Rhein auf- und abwärts fahren und so sein Wesen treiben.

Wir kamen nach Karlsruhe. Mittags-Essen auf dem Zimmer. Vertraulichkeiten. Unwillkürliche Eröffnung von einem Herzensverhältniß von meiner Seite. Nachher gehen wir zum alten Jung Stilling; werden von der Frau nicht erkannt, und von ihm kalt aufgenommen. Er muß morgen mit Elberfeldern nach Baden fahren. Anstalten zum Thee sind gemacht, wir werden nur von der Frau dazu eingeladen, diese ist nun die theilnehmendere. Er stichelt auf den Geheimerath. Goethe auf den Bischof; der Alte wirft sein schwarzes Käppchen weg, Goethe zwingt's ihm wieder auf. Dann müssen wir in die Studierstube, wo noch alle Geburtstagskränze und Geschenke: kleine schlechte Zeichnungen, Kupferstiche, Porträte von Minister Stein, Kaiser Alexander, Lavater u.s.w., alles durcheinander lag. Goethe, der so herzlich und jugendlich wie möglich, war[251] tief gekränkt durch diesen Empfang; am meisten aber durch die Äußerung Jungs: »Ei, die Vorsehung führt uns schon wieder zusammen!«[252]


1669.*


1815, 4. October.


In Karlsruhe mit mehreren

Das Ausfallen einiger Gerichtstermine verschaffte mir eines Morgens eine freie Stunde. Ich [Ferdinand L. K. Freiherr v. Biedenfeld] eilte in das Museum, holte mir Lecture und setzte mich damit einsam in die Rotunde ..... Aus meiner Versunkenheit in Herber's ›Ideen‹ weckte mich plötzlich Weinbrenner's ausgiebige Stimme mit den Worten: »Da sitzt auch einer, der ein neuer Goethe werden will.« Ich blickte vom Buch auf und fuhr erschrocken empor: vor mir stand der Unverkennbare, Goethe in der vollen Majestät seiner göttlichen Kraft und Gesundheit, mit der Jupiterswürde auf seinem schönen Antlitz, mit der Magie seines mächtigen Auges und des Herrscherblickes. Hebel stellte mich ihm vor. Ein mildes Lächeln flog verklärend über seine Züge, und nach einigen freundlichen Worten fragte er: »Nun, und was haben wir jetzt in der Mache?« – »Ein Drama; ich habe es hier vollständig im Kopfe, und doch will es nicht recht heraus.« – »Das beruht wol auf einer Selbsttäuschung; was vollständig im Kopfe liegt, das kommt auch vollständig und leicht heraus.« – »Die ganze Intrigue, alle Situationen und Charaktere schweben klar vor meiner Phantasie, aber wenn ich sie zu Papier gebracht habe, erscheinen sie mir ganz anders, farbloser,[73] bleicher, oft ganz entstellt.« – »Das mag manchem in seiner Jugend passiren: man strebt gern sogleich nach dem höchsten ohne sich erst ernsthaft zu fragen, ob man auch von der Natur das rechte Zeug dazu erhalten, und wenn man es besitzt, ob man hinlänglich zu dessen Verarbeitung sich vorbereitet und gerüstet habe. Nicht selten stürzt man sich auch mit Inbrunst und wahrer Verbissenheit auf Dinge, wofür man kein eigentliches Talent hat. Will das Drama nicht recht aus der Feder fließen, so legen Sie es getrost beiseite und sehen sich nach anderem um; wahrscheinlich finden Sie auf solchen Versuchswegen was Ihnen die Natur zugewiesen hat, und findet sich's nicht am Ende der Lehrlingsschaft, nun in Gottes Namen! so hat man tüchtig gewollt und gestrebt; man geht getrost an seinen Beruf und genießt um so reiner und freudiger, was andre hervorbringen.« – »Auch bei andern Versuchen will es nicht recht gehen, und trotz des lebendigen Dranges komme ich nur langsam vorwärts. Mir schwebt immer vor: was gebietet dabei die Kritik? Dann gedenke ich des nonum prematur in annum, ich lege die Feder beiseite, die Phantasie verstummt und das kritische Grübeln macht mich müde und ängstlich.« – »Da sind Sie freilich auch einer von denen, welche das alte und treffliche nonum prematur in annum mißverstehen. Damit ist nicht gesagt, daß sich bei einer Arbeit die Phantasie und die Kritik jahrelang beständig miteinander herumbalgen sollen; dabei ginge[74] stets die beste verve des Dichters verloren. Das prematur bezieht sich auf die Arbeit vor und nach dem Dichten.« – »Bekennen muß ich, daß mir dieses nicht völlig klar geworden.« – »Und doch ist es so einfach, als natürlich. Die Prägnanz oder Unfruchtbarkeit eines oft plötzlich in uns entsprungenen Gedankens ergiebt sich erst mit der Zeit. Man trägt ihn mit sich herum, betrachtet und prüft ihn nach allen Seiten, Phantasie und Kritik formen und meißeln daran nach Ziel und Maaß so lange herum, bis ein gewisses inneres Fertigsein zur Arbeit drängt. Nun lasse man die Phantasie allein walten und schreibe, unbekümmert um alles Übrige, was sie dictirt. Ist auch hiernach das Werk fertig, so lege man es beiseite, nehme es nach einiger Zeit wieder zur Hand und lasse nun die eigene Kritik darüber zu Gericht sitzen. Damit wird man gewöhnlich Erträgliches zustande bringen.«

Hebel mahnte nun an den Besuch im Naturaliencabinet. Goethe lud mich freundlich zum Mitgehen ein: indem man in allen Gebieten der Natur immer wieder Neues und Erbauendes und Förderndes erblicke. So wanderten wir denn dahin: Goethe, Hebel, Gmelin, Boeckmann der Physiker, Weinbrenner und ich; unterwegs stießen noch Haldenwang und der Landschafter Hofmaler Kuntz zu uns. Am Eingang zum Naturaliencabinet fand sich noch eine der merkwürdigen Karlsruher Gestalten ein, der Hofmaler Iwan, ein Kalmücke,[75] der vom Kaiser von Rußland der Markgräfin Amalie als Leibeigner geschenkt worden, hier natürlich der Freiheit und seinem Hange gemäß der Erziehung zum Zeichner genossen, als solcher in Italien und Deutschland sich einen recht hübschen Namen erworben hatte, halb deutsch, halb kalmückisch sich kleidete, gewöhnlich gutmüthig und jovial, aber wenn der Wein ihn belebte, was ihm häufig geschah, ein schroffer Geradeaus voll kaustischer Kritik und unsauberer Witze. Sein Auftreten verrieth einen solchen Zustand. Goethe... schien nicht sehr angenehm berührt durch dieses Zusammentreffen und erwiederte die überherzliche Begrüßung mit zugemessen majestätischer Höflichkeit. Wir alle besorgten eine Störung unseres Genusses durch den Aufgeregten, da kam glücklicherweise ein Hoflakai außer Athem mit dem Bescheide, daß er augenblicklich zum Großherzog kommen solle. Mit einpaar gesunden Flüchen machte sich der Vierschrötige auf den Weg und versprach sein baldiges Eintreffen im Naturaliencabinet. »Ausgestopft müßte er sich dort gut ausnehmen,« bemerkte Goethe lächelnd zu Gmelin.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Sie [Goethe und Gmelin] standen vor der Gruppe der verfänglichsten Muscheln. Lachend hielt Gmelin eine davon hoch empor, nannte Goethen ihren Namen lateinisch, entwickelte lateinisch ihre Aehnlichkeit mit menschlichen Theilen und stellte darüber sehr erbauliche Betrachtungen an. Goethe hörte ihn behaglich an,[76] lächelte wie Jupiter, wenn Frau Venus ihn streichelt, deutete auf eine andere Muschel und pries deren noch anschaulichere Ähnlichkeiten ebenfalls lateinisch, mit heiterer Emphase, wobei er freilich hin und wieder den rechten Ausdruck erst suchen mußte ..... Die beiden kamen an andere Gegenstände, Gmelin war wieder rein wissenschaftlich geworden, Goethe hatte ein andres Gesicht angezogen, beide sprachen unwillkührlich wieder deutsch. Die Beschauung und die Reflexionen dauerten noch ziemlich lange; endlich kam man zum Schluß. Goethe lud sehr freundlich zum Nachmittag in das physikalische Cabinet ein, wo Herr Hofrath Boeckmann einige interessante Experimente zu machen, die Güte haben würde.[77]


667.*


1815, 4. October


Bei Karl Christian Emelin

Gegen Abend besuchten wir [Goethe und Boisserée den Geheimen Hofrath] Emelin und fanden bei ihm die Vallisneria spiralis, das merkwürdige, gewissermaßen sich selbst bewegende Wasserpflänzchen, das er von Montpellier mitgebracht. Herr Sensburg kam, blieb aber nicht lang; dann Oberforsträthin Lattrop und andere Frauen, und Hebel. Dieser ward von der Lattrop, einer Niedersächsin, zum Hersagen von einem Gedichte genöthigt. Der freundliche Mann muß endlich nachgeben, und übersetzt jeden Vers ins Hochdeutsche. Goethe ward grimmig darüber; man sollte doch dem Dichter die Ehre anthun, seine Sprache zu lernen. Die Niedersächsin wird, da sie noch wiederbellt, schön mit ihrem Niedersächsisch und dem Norden geschoren. Goethe lobt das Oberländische, sagt noch etwas, sich auf ein Liebchen beziehendes Elsaßisches her.[252]


668.*


1815, 5. October.


Mit Boisserée,

Jungs lassen noch zum Abend einladen, als wir eben fort wollen. Wir freuen uns im Wagen zu sein und zu rekapituliren. Rühmen die Muschelsammlung und die ganz neue Anschauung, und lachen mitunter auch. Dann wachen bei Goethe alte Erinnerungen auf; gerade vor vierzig Jahren ließ ihn der Herzog von Heidelberg nach Frankfurt durch Stafette holen. Wenn er jetzt gerade vom Minister Stein zurück in Frankfurt wäre, und es ihm einfiele, wäre er im Stande, es zu wiederholen, da er ohnehin verlangt, Goethe solle nach Frankfurt kommen. Vor Tisch schon rühmte er, daß er wohl gethan nach Köln zu gehen, sich von dem Herzog influenziren zu lassen. Er lasse sich ohnehin leicht bestimmen, und vom Herzog gern; denn der bestimme ihn immer zu etwas Gutem und Glücklichem, aber einige Personen seien, die einen ganz unheilbringenden Einfluß auf ihn hätten. Lange habe er es nicht gemerkt; immer, wenn sie ihm erschienen, sei ihm auch ganz unabhängig von ihnen irgend etwas Trauriges oder Unglückliches begegnet. Alle entschiedenen Naturen seien ihm Glück bringend, so auch Napoleon. Ich drang näher in ihn, ob dergleichen Unglücksboten etwa in der Nähe waren? Nein, sagte er, aber, wenn es einmal der Fall sein würde, verspreche er mir's zu[253] sagen. Ich spreche vom Aberglauben; wie man sich bei aller Anerkennung des Geheimnißvollen im Leben davor zu hüten habe. Und er war einig, daß man nur so viel darauf geben müsse, um Ehrfurcht vor der uns umgebenden geheimnißvollen Macht in allem zu haben und zu behalten, welches eine Hauptgrundlage wahrer Weisheit sei.

Unterwegs kamen wir dann auf die »Wahlverwandtschaften« zu sprechen. Er legte Gewicht darauf, wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt. Die Sterne waren aufgegangen; er sprach von seinem Verhältniß zur Ottilie, wie er sie lieb gehabt, und wie sie ihn unglücklich gemacht. Er wurde zuletzt fast räthselhaft ahndungsvoll in seinen Reden.

Dazwischen sagte er dann wohl einen heitern Vers. So kamen wir müde, gereizt, halb ahndungsvoll, halb schläfrig, im schönsten Sternenlicht, bei scharfer Kälte nach Heidelberg.[254]


669.*


1815, 6. October.


Mit Sulpiz Boisserée

Freitag den 6. morgens will Goethe plötzlich fort, er sagte mir: »Ich mache mein Testament.« Wir bereden ihn mit großer Mühe, noch einen Tag auszuruhen, und übermorgen zu reisen. Die Jagemann hat ihn mit den andern Damen gedrängt, er soll nach Mannheim kommen, zu Tableaux und Attituden. Er fürchtet[254] den Herzog. Er ist sehr angegriffen, hat nicht gut geschlafen, muß flüchten. Er gibt mir einen Theil seiner Gedichte zum lesen für Melchior und Bertram.[255]


670.*


1815, 7. October.


Mit Sulpiz Boisserée

Goethe ist früh morgens unruhig, fürchtet eine Krankheit, will schon zu Mittag fort. Ich biete mich ihm zur Begleitung an, und bereite mich vor, ihm bis Weimar zu folgen. Trauriger, schwerer Abschied.

Im Wagen erholt sich der Alte allmählich. Die Sicherheit nicht mehr vom Herzog oder der Jagemann erreicht zu werden, beruhigt ihn sichtbar. Gespräch darüber. Deutsche Politik, Verhältnisse; die Forderungen des Adels und der Bürger hält er nicht für gefährlich. Ständische Verfassung; es sei keine Umwälzung zu befürchten, wenn nur die Fürsten halbwegs ihren Vortheil kennen, und einigermaßen den gerechten Wünschen entgegen kommen wollten. Die heftigen Volksmänner seien nichts weniger als beliebt. Aristokratismus im eigentlichen Sinne sei das einzige und rechte. Er spricht seine Freude darüber aus, daß ich mich in nichts verwickelt habe, trotz der vielen Lockungen und Gelegenheiten.

Goethe hat immer eine Scheu vor allen politischen Dingen gehabt. War auch einmal in einer Art Verschwörung durch seinen Herrn, damals, als man die[255] Übermacht Friedrichs des Großen fürchtete. Es bestand eine geheime Verbindung bei dem alten Fürsten von Dessau; der Kronprinz von Preußen war darin. Nachher wurde dieselbe Veranlassung zum Fürstenbund, obwohl es anfangs gegen Preußen ging. Herr von Dohm erhielt noch vor einiger Zeit, zur Geschichte des Fürstenbundes, Aufschlüsse hierüber von Goethe.

Neukatholiken. Spottgedicht auf sie. Kinderspiel. Messe. Katholiken und Protestanten friedlich durcheinander in einer Stadt. Auf einem Speicher hing ein Seil, das mußte statt der Glocke dienen, daran zogen sie um die Wette und schrieen: bim bam. Und so wiederholten sie ohne Schonen die sämmtlichen heiligen Funktionen.1 Soll in die neue Ausgabe der Gedichte kommen; ich billigte es, er schien noch Zweifel zu haben.

Abends in Neckarelz. Kaltes Zimmer. Goethe war munter, vergaß die Kälte, indem er mir von seinen orientalischen Liebesgedichten vorlas. Wir schliefen in einer Stube. Es ist ihm lieb, daß ich bei ihm bin, er hatte wirklich eine Krankheit befürchtet.


1 »Pfaffenspiel.«[256]


671.*


1815, 8. October.


Mit Sulpiz Boisserée

Sonntag morgens fuhren wir von Neckarelz die Höhe hinauf. Kalkgebirge. Goethe erkannte die fränkische[256] Mainregion daran. Der Bediente fand Versteinerungen und Ammonshörner. Wir begegneten zwischen Oberschaflenz und Buchen dem Maler Jagemann, der zu seiner Schwester nach Mannheim reiste; er sagte, der junge Bertuch sei krank und von den Ärzten aufgegeben.

Noth, die der Herzog mit der Familie Jagemann hat. Die Schwester derselben, Frau von Dankelmann, mit ihren Kindern ist ihm auch auf dem Hals. Den Dankelmann hat man in Eisenach einsperren müssen. Nun hat der Herzog, außer seinen eigenen Kindern, zugleich noch für diese zu sorgen, im Ganzen für acht. Gutes Benehmen des herzoglichen Hauses gegen die Jagemann und diese Kinder. Der Erbprinz besucht sie und spielt mit diesen kleinen Geschwistern. Doch ist die unvermeidliche Spannung eines solchen Verhältnisses fühlbar. Großfürstin Maria; Lob derselben; edle Weise sich zu beschäftigen. Goethe steht sehr gut mit ihr; Meyer ist ihr Vertrauter. Sie hat ihre Freude an der Kunst; ist sehr zart, nicht glücklich.

Die Großfürstin Catharina ist ganz anders; durchaus politisch in Allem. Sie sagte in Wiesbaden noch: die Kunst mache ihr keinen Eindruck, hätte kein Interesse für sie; am meisten noch die Architektur, weil man da eine Menge Menschen beschäftigen, und dem Staat Glanz und Würde geben könne. In Buchen begegneten wir Herrn v. Türk von Yverdun mit Familie und mehreren Kindern, wahrscheinlich auch Zöglingen, einen[257] ganzen Schweizer Postwagen voll, neun oder zehn Personen. Er hatte in der Schweiz ein Erziehungshaus und wird nun von Preußen als Oberschulrath nach Frankfurt a. d. O. berufen.

Goethes Klagelieder über das heutige Erziehungswesen. Versuchen, Tasten und Wandern nach der wahren Erziehungsart! Liebesgeschichten wechselseitig. Deutsche mögen gern die naiven, ruhigen, nicht die leidenschaftlichen Frauen. In Hardtheim Mittagessen. Ein junges, frisches Mädchen bedient uns, ist nicht schön, hat aber verliebte Augen. Der Alte sieht sie immer an. Kuß. – Abends im Dunkel nach Würzburg. Im Pfälzischen Hof Verwirrung mit der Türk'schen Familie; man sondert uns wieder von ihr. Große gewaltige Räume, wie eine Abtei. Es ist das alte Schönborn'sche Haus.[258]


1520.*


1815, November (?).


Mir Friedrich August Koethe

Es scheint alles [bei den Vorbereitungen zu den ›Zeitgenossen‹] vortrefflich zu gehen. Sie [Brockhaus] sehen aus den Beilagen, daß ich fast nirgends ohne Erfolg eingeladen habe. Und tüchtige Männer sind[340] dafür gewonnen. Knebel liefert auch eine Selbstbiographie, zu der ich mit Goethe vereint ihn bewogen habe. Und selbst Goethe hat mir seine eifrigste Theilnahme fast unaufgefordert zugesagt und mich auf's freundlichste eingeladen, mich in dem Fall, daß ich seiner bedarf, seines Raths, seiner Unterstützung, an ihn zu wenden und seiner größten Bereitwilligkeit versichert zu sein. Es ist sonst nicht seine Art, sehr zuvorkommend zu sein, aber sein besonderes Wohlwollen ehrt mich umsomehr. So hoffe ich, nun auch von ihm noch etwas zu den ›Zeitgenossen‹ zu erhalten, und rechne besonders auf eine einleitende Darstellung des französischen Theaters, wenn nur erst Beiträge dazu eingegangen sind.

Ich bemerke gleich, daß Goethe für den Fall, daß sein Bild noch den ersten Band zieren soll, (er meinte: »Ei, ei! In so vornehmer Gesellschaft!«) sehr empfohlen hat, ein kleines Bild, das im vorigen Jahr der Maler Rabe (in Berlin) in seinem Hause gemalt, zu dem Kupfer zu nehmen.[341]


1518.*


Zwischen 1812 und 1815.


Weihnachtsfeier bei Georg Wilhelm Lorsbach

In Deutschland herrscht die Sitte, daß am Weihnachtsabend die Eltern den Kindern einen mit Bändern, Kerzen, Obst geschmückten Baum bescheeren. Einst war auch Goethe am Weihnachtsabend zu dieser Familienfeier bei Professor Lorsbach geladen, welcher eine einzige, schon erwachsene Tochter hatte und für diese im Nebenzimmer einen solchen schönen Weihnachtsbaum mit Äpfeln und andern Geschenken vorbereitet hielt. In einem andern Zimmer wurde indessen musicirt, gesungen, Karten gespielt, mit Goethe gesprochen, aber dabei stahlen sich[338] zwei schelmische Kumpane durch eine andere Thüre in das verschlossene Nebenzimmer, beraubten den Baum aller seiner Äpfel und Nüsse, und kehrten, als wäre nichts geschehen, in die Gesellschaft zurück. Schlag 7 kam der Vater, die Tochter an seiner Seite führend, öffnete die Thür und lud die Gesellschaft zum Eintreten in jenes Zimmer mit dem Weihnachtsbaum ein. Wie stutzten und erstarrten alle, da der Baum kahl und leer mitten im Zimmer stand. Goethe blieb vor dem Baume mit auf der Brust verschränkten Händen sinnend stehen, und die ganze Gesellschaft wurde still und wartete, was Goethe dazu sagen würde. Der aber öffnete die Lippen und rief mit scherzhaft pathetischer Stimme:


»Eva, verziehen sei dir! es haben ja Söhne der Weisheit

Rein geplündert den Baum, welchen der Vater gepflanzt.«


Freudiges Händeklatschen, Lachen und Scherze ertönten allseits bei diesen witzigen Versen und verschönerten den ganzen Abend bis in die späte Nacht.[339]


672.*


1815 (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer.1


a.

»Die Sittenlehrer irren sich, wenn sie in jedem Alter denselben Grad der Bescheidenheit verlangen.[258] Anders der Jüngling, der in seine Kräfte gerechtes Mißtrauen setzt; anders der Mann, der sie geprüft und gezeigt hat.«


b.

»Die Neigung zu einer Sache, das ist ja eben der Sinn dafür.«


c.

»Es giebt zwei Welten: wenn die eine zürnt, so fragt die andere nichts danach.« –


1 Die Datirung der Äußerungen a und b vom 15. Juli und vom 21. August 1815 ist falsch, dafern sie in Gegenwart von Riemer gefallen sein sollen; deshalb sind sie allgemein unter 1815 in Frage gestellt.[259]


673.*


1815 (?).


Mit Carl Ludwig von Knebel

Was meine von Ihnen [Böttiger] über Verdienst belobten Gedichte selbst betrifft, so darf ich Ihnen sagen, daß... ihnen von unserm Goethe, – der wahrlich nicht verschwenderisch in seinem Lobe gegen Dichter zu sein pflegt – das Zeugniß gegeben worden ist: meine Gedichte würden bleiben, da sie ein allgemeines menschliches Interesse hätten.[259]


674.*


1815 (?).


Mit Beate Lortzing, geb. Elsermann

Einstmals trat er [Goethe] herein und zeigte seiner Frau ein kleines Etui mit den Worten: »Sieh, liebes[259] Kind, was mir meine liebe Freundin, die Geheimräthin Willemer, für eine allerliebste Neuigkeit zum Andenken übersandt hat.« Es war eine goldne Schnalle, woran seine Orden im kleinsten Format mit venetianischen Kettchen befestigt waren. Madame Lortzing, die neben der Geheimräthin saß und ein großer Liebling Goethes war, fragte ganz unbefangen, welcher ihm der liebste von alten Orden sei. Keinem andern hätte ich [F. Genast] solche Dreistigkeit rathen mögen; denn er liebte es gar nicht, um seine Gedanken befragt zu werden und noch dazu in solchem difficilen Fall, aber bei ihr machte er eine Ausnahme und erwiderte: »Kleine Neugier! Doch den Kindern muß man zuweilen den Willen thun« – und wies auf die Ehrenlegion.[260]


675.*


1815 (?).


Über Dur und Moll

»Der Grund des sogenannten Moll liegt innerhalb der Tonmonade selbst. Dies ist mir aus der Seele gesprochen. Zur nähern Entwickelung bahnt vielleicht folgendes den nähern Weg: dehnt sich die Tonmonade aus, so entspringt das Dur; zieht sie sich zusammen, so entsteht das Moll. Diese Entstehung habe ich in der Tabelle, wo die Töne als eine Reihe betrachtet sind, durch Steigen und Fallen ausgedrückt. Beide Formeln lassen sich dadurch vereinigen, daß man den[260] unvernehmlichen tiefsten Ton als innigstes Centrum der Monade, den unvernehmbaren höchsten als Peripherie derselben annimmt.«[261]


676.*


1815 oder 1816.


Bei Aufführung von »Des Epimenides Erwachen«

Für die Ausstattung hinsichtlich der Decoration, Maschinerie und Costüme war das Möglichste gethan. Neu Uniformen hatte man für die Armeen der Preußen, Russen und Engländer machen lassen .... Goethe überwachte das Ganze mit unermüdlichem Eifer und war bei den Proben äußerst sorgsam, besonders was die Gruppirung betraf. Alle Augenblicke donnerte er ein »Halt!« den Darstellenden zu; dann hieß es: »Madame Eberwein, gut!« – »Madame Unzelmann mehr vor!« – »Herr Wolff! den Kopf mehr lauernd nach rechts gebogen! sonst gut!« – »Herr Oels, sehr gut!« – »Der Darauffolgende schlecht!« und nun begann die Auseinandersetzung. Es war eine Eigenheit Goethes, den Schauspieler, mit dem er unzufrieden war, niemals bei seinem Namen zu nennen; man konnte dies nun nehmen, wie man wollte: als Rücksicht oder Kränkung.

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Bei dem Siegerzug trat zuerst Blücher mit der preußischen Armee auf, dann Schwarzenberg an der Spitze der Österreicher, dann Wittgenstein mit den[261] Russen und endlich kam Wellington mit den Engländern. Jede dieser Armeen bestand außer den Feldmarschällen und einigen Adjutanten aus zehn Mann Statisten ..... Das Ganze war nach unsern Verhältnissen würdig in Scene gesetzt und machte sich gut. Goethes Ausspruch über Comparserie war: »Die Wirklichkeit, die aus Hunderttausenden besteht, kann auf einem so engen Raume, wie die Bühne bietet, doch nicht verkörpert werden; ob man da zehn oder hundert Mann erscheinen läßt, bleibt sich gleich; man möge sich die andern dazu denken!«[262]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 3, S. 258-263.
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