Zeitlich ungewiß

915.*


Erzählungen von Johann Daniel Falk


a.

Merkwürdig ist mir immer ein Wort, das Goethe einmal im Gespräch über unsern gemeinschaftlichen edeln Freund, den Maler und Kunstkenner Meyer sagte, und das man vielleicht mit noch größerm Rechte auf ihn selber anwenden könnte. »Wir alle,« hub er an, »soviel wir unser sind, Wieland, Herder, Schiller, haben uns von der Welt doch irgend etwas und von irgend einer Seite weismachen lassen, und ebendeshalb können[339] wir auch noch einmal wiederkommen; sie wird es wenigstens nicht übelnehmen. Dergleichen aber konnte ich an Meyer, solange ich ihn kenne, niemals wahrnehmen. Er ist so klar und in allen Stücken so ruhig, so grundverständig, sieht, was er sieht, so durch und durch, so ohne alle Beimischung irgend einer Leidenschaft oder eines trüben Parteigeistes, daß das Zuunterst (dessous) der Karten, was die Natur hier mit uns spielt, ihm unmöglich verborgen bleiben konnte. Ebendeshalb ist aber auch für seinen Geist an keine Wiederkunft hiesigen Orts zu denken; denn die Natur liebt nun einmal nicht, daß man ihr gleichsam unaufgefordert so tief in die Karten blickt, und wenn auch deshalb von Zeit zu Zeit einer kommt, der ihr eins und das andere von ihren Geheimnissen ablauscht, so sind auch wieder schon zehn andere da, die es geschäftig zudecken.«


b.

Wie er selbst einmal im Gespräche mit mir sehr schön bemerkte: in der Reihe so mannigfaltiger Producte, wodurch die schaffenden Kräfte der Natur sichtbar würden, sei der Mensch gleichsam das erste Gespräch, das die Natur mit Gott halte, ebenso könnte man von ihm selbst sagen, daß bei seinem eigensinnigen Beharren im Reiche der Erfahrung er gleichsam das letzte Product der plastischen Natur darstelle, das mit ihren Geheimnissen zugleich die zwei Richtungen ausplaudere,[340] die von Ewigkeit in ihr verborgen liegen, und die trotz allen scheinbaren Gegensätzen doch erst beide zusammen die eine wahrhafte, ganze und vollständige Welt und Natur ausmachen.


c.

Treu der Natur hingegeben, wie Goethe war, liebte er es auch, mit geheimnißvollen Einleitungen und Andeutungen über ihr Wirken und ihre Producte zu sprechen. So führte er mich einst zu seiner Naturaliensammlung und sagte sodann, indem er mir ein Stück Granit in die Hand gab, das sich durch höchst seltsame Übergänge auszeichnete: »Da, nehmen Sie den alten Stein zum Andenken von mir! Wenn ich je ein älteres Gesetz in der Natur auffinde, als das ist, welches sich in diesem Producte darlegt, so will ich Ihnen auch ein Exemplar davon verehren und dieses hier zurücknehmen. Bis jetzt kenne ich keins, bezweifle auch sehr, daß mir je etwas Ähnliches, geschweige denn Besseres von dieser Art zu Gesichte kommen wird. Betrachten Sie mir ja fleißig diese Übergänge, worauf am Ende alles in der Natur ankommt. Etwas, wie Sie sehen, ist da, was einander aufsucht, durchdringt und, wenn es eins ist, wieder einem Dritten die Entstehung giebt. Glauben Sie nur: hier ist ein Stück von der ältesten Urkunde des Menschengeschlechts. Den Zusammenhang aber müssen Sie selbst entdecken. Wer es nicht findet, dem hilft es auch nichts, wenn man es[341] ihm sagt. Unsere Naturforscher lieben ein wenig das Ausführliche. Sie zählen uns den ganzen Bestand der Welt in lauter besondern Theilen zu und haben glück lich für jeden besondern Theil auch einen besondern Namen. Das ist Thonerde! Das ist Kieselerde! Das ist dies und das ist das! Was bin ich nun aber dadurch gebessert, wenn ich auch alle diese Benennungen innehabe? Mir fällt immer, wenn ich dergleichen höre, die alte Lesart aus Faust ein:


Encheirisin naturae nennt's die Chemie;

Bohrt sich selber Esel und weiß nicht wie!

Was helfen mir denn die Theile? was ihre Namen? Wissen will ich, was jeden einzelnen Theil im Universum so hoch begeistigt, daß er den andern aufsucht, ihm entweder dient oder ihn beherrscht, je nachdem das allen ein- und aufgeborne Vernunftgesetz in einem höhern oder geringern Grade den zu dieser, jenen zu jener Rolle befähigt. Aber gerade in diesen Punkten herrscht überall das tiefste Stillschweigen.«


d.

Ein treuer Beobachter der Natur, wie Goethe überall ist, macht es ihm keine geringe Freude, wenn er unter seinen Münzen auf ein Gesicht stößt, dessen Züge dem Inhalte einzelner Handlungen, wie sie uns die Geschichte von diesen oder jenen Personen meldete, gleichsam zur Auslegung dienen.[342]


e.

Der kleinste Gegenstand konnte ihm ... merkwürdig werden. Vollends organische Überbleibsel aus einer zum Theil untergegangenen Vorwelt. Wer sich bei ihm für immer empfehlen wollte, brauchte ihm nur eins dergleichen von seinen Reisen mitzubringen: die Pratze eines Seebären oder Bibers, der Zahn eines Löwen, das seltsam geringelte Horn einer Gemse, eines Steinbocks, oder irgend einer andern, von dem jetzigen Zustande zum Theil oder ganz abweichenden Bildung konnte ihn tage- ja wochenlang durch wiederholte Betrachtung glücklich machen. Es war nicht anders in dem Augenblicke, wo er eines solchen Schatzes theilhaftig wurde, als ob er einen Brief von einem Freunde aus einem ganz entfernten Welttheile erhalten hätte; er eilte sodann in der Freude seines Herzens, mit der größten Liebenswürdigkeit den Inhalt desselben, auf den er sich trefflich verstand, auch andern mitzutheilen. Zugleich stellte er den Grundsatz auf, daß die Natur gelegentlich und gleichsam wider Willen manches von ihren Geheimnissen ausplaudere. Gesagt sei alles irgendeinmal, nur nicht auf der nämlichen Stelle, wo wir es vermutheten; wir müssen es eben hier und da aus allen Winkeln, wo sie es habe fallen lassen, zusammensuchen. Daher das Räthselhafte, Sibyllinische, Unzusammenhängende in unserer Naturbetrachtung! Sie sei ein Buch von dem ungeheuersten, seltsamsten Inhalte,[343] wovon man aber annehmen könne, daß gar viele Blätter desselben auf dem Jupiter, auf dem Uranus und andern Planeten zerstreut umherlägen. Zu einem Ganzen zu gelangen, sei schwer, wo nicht völlig unmöglich. An dieser Aufgabe müßten eben darum alle Systeme scheitern.


f.

Wie Goethe... alles An- und Eingelernte nicht liebte, so behauptete er auch, alle Philosophie müsse geliebt und gelebt werden, wenn sie für das Leben Bedeutsamkeit gewinnen wolle. »Lebt man denn aber überhaupt noch in diesem Zeitalter?« fügte er hinzu, »der Stoiker, der Platoniker, der Epikuräer, jeder muß auf seine Weise mit der Welt fertig werden; das ist ja eben die Aufgabe des Lebens, die keinem, zu welcher Schule er sich auch zähle, erlassen wird. Die Philosophen können uns ihrerseits nichts, als Lebensformen darbieten. Wie diese nun für uns passen, ob wir, unsrer Natur oder unsern Anlagen nach, ihnen den erforderlichen Gehalt zu geben imstande sind, das ist unsre Sache. Wir müssen uns prüfen und alles, was wir von Außen in uns hereinnehmen, wie Nahrungsmittel auf das Sorgsamste untersuchen; sonst gehen entweder wir an der Philosophie oder die Philosophie geht an uns zugrunde.

Die strenge Mäßigkeit, z.B. Kant's, forderte eine Philosophie, die diesen seinen angebornen Neigungen[344] gemäß war. Leset sein Leben, und Ihr werdet bald finden, wie artig er seinem Stoicismus, der eigentlich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen einen schneidenden Gegensatz bildete, die Schärfe nahm, ihn zurechtlegte und mit der Welt ins Gleichgewicht setzte. Jedes Individuum hat vermittelst seiner Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht aufheben. Hier oder nirgends wird wohl der Ursprung aller Philosophie zu suchen sein. Zeno und die Stoiker waren längst in Rom vorhanden, eh' ihre Schriften dahin kamen. Dieselbe rauhe Denkart der Römer, die ihnen zu großen Helden und Waffenthaten den Weg bahnte und sie allen Schmerz, jede Aufopferung verachten lehrte, mußte auch Grundsätzen, die gleichverwandte Forderungen an die Natur des Menschen aufstellten, bei ihnen ein geneigtes und williges Gehör verschaffen. Es gelingt jedem Systeme, sogar dem Cynismus, sobald nur der rechte Held darin auftritt, mit der Welt fertig zu werden. Nur das Angelernte der menschlichen Natur scheitert meist am Widerspruche; das ihr Angeborne weiß sich überall Eingang zu verschaffen und besiegt sogar nicht selten mit dem glücklichsten Erfolge seinen Gegensatz. Es ist sonach kein Wunder, daß die zarte Natur von Wieland sich der aristippischen Philosophie zuneigt, sowie auf der an dern Seite seine so entschiedene Abneigung gegen Diogenes und allen Cyinismus aus der nämlichen Ursache sich sehr befriedigend erklären läßt. Ein Sinn, mit dem[345] die Zierlichkeit aller Formen, wie bei Wieland, geboren ist, kann unmöglich an einer beständigen Verletzung derselben als System Wohlgefallen finden. Erst müssen wir im Einklange mit uns selbst sein, ehe wir Disharmonien, die von außen auf uns zudringen, wo nicht zu heben, doch wenigstens einigermaßen auszugleichen imstande sind. Ich behaupte, daß sogar Eklektiker in der Philosophie geboren werden, und wo der Eklekticismus aus der innern Natur des Menschen hervorgeht, ist er ebenfalls gut und ich werde ihm nie einen Vorwurf machen. Wie oft giebt es Menschen, die ihren angebornen Neigungen nach halb Stoiker und halb Epikuräer sind! Es wird mich daher auch keineswegs befremden, wenn diese die Grundsätze beider Systeme in sich aufnehmen, ja sie miteinander möglichst zu vereinigen suchen. Etwas anderes ist diejenige Geistlosigkeit, die aus Mangel an aller eigenen innern Bestimmung wie Dohlen, alles zu Neste trägt, was ihr von irgend einer Seite zufällig dargeboten wird, und sich eben dadurch als ein ursprünglich Todtes außer aller Beziehung mit einem lebensvollen Ganzen setzt. Alle diese Philosophien taugen in der Welt nichts; denn weil sie aus keinen Resultaten hervorgehen, so führen sie auch zu keinem Resultate.

Von der Popularphilosophie bin ich ebenso wenig ein Liebhaber. Es giebt ein Mysterium so gut in der Philosophie wie in der Religion. Damit soll man das Volk billig verschonen, am wenigsten aber dasselbe[346] in Untersuchung solcher Stoffe gleichsam mit Gewalt hereinziehen. Epikur sagt irgendwo: das ist recht, eben weil sich das Volk daran ärgert. Noch läßt sich das Ende von jenen unerfreulichen Geistesverirrungen schwerlich ab- und voraussehen, die seit der Reformation dadurch bei uns entstanden, daß man die Mysterien derselben dem Volke preisgab und sie ebendadurch der Spitzfindigkeit aller einseitigen Verstandesurtheile bloßstellte. Das Maß des gemeinen Menschenverstandes ist wahrlich nicht so groß, daß man ihm eine solche ungeheure Aufgabe zumuthen könnte, es zum Schiedsrichter in solchen Dingen zu erwählen. Die Mysterien, besonders die Dogmen der christlichen Religion, eignen sich zu Gegenständen der tiefsten Philosophie, und nur eine positive Einkleidung ist es, die sie von diesen unterscheidet. Deshalb wird auch häufig genug, je nachdem man seinen Standpunkt nimmt, die Theologie eine verirrte Metaphysik, oder Metaphysik eine verirrte platonische Theologie genannt. Beide aber stehen zu hoch, als daß der Verstand in seiner gewöhnlichen Sphäre ihr Kleinod zu erlangen sich schmeicheln dürfte. Die Aufklärung desselben beschränkt sich zuvörderst auf einen sehr engen praktischen Wirkungskreis. Das Volk aber begnügt sich meist damit, einigen recht lauten Vorsprechern das, was es von ihnen gehört hat, ebenso laut wieder nachzusprechen. Dadurch werden dann freilich die seltsamsten Erscheinungen herbeigeführt, und die Anmaßungen nehmen kein Ende. Ein aufgeklärter,[347] ziemlich roher Mensch verspottet oft in seiner Seichtigkeit einen Gegenstand, vor dem sich ein Jacobi, ein Kant, die man billig zu den ersten Zierden der Nation rechnet, mit Ehrfurcht verneigen würden. Die Resultate der Philosophie, der Politik und der Religion sollen billig dem Volke zugute kommen, das Volk selbst aber soll man weder zu Philosophen, noch zu Priestern, noch zu Politikern erheben wollen. Es taugt nichts! Gewiß! suchte man, was geliebt, gelebt und gelehrt werden soll, besser im Protestantismus auseinander zu halten, legte man sich über die Mysterien ein unverbrüchliches, ehrerbietiges Stillschweigen auf, ohne die Dogmen mit verdrießlicher Anmaßung, nach dieser oder jener Linie verkünstelt, irgend jemandem widerwillen aufzunöthigen, oder sie wohl gar durch unzeitigen Spott, oder vorwitziges Ableugnen bei der Menge zu entehren und in Gefahr zu bringen, so wollte ich selbst der erste sein, der die Kirche meiner Religionsverwandten mit ehrlichem Herzen besuchte und sich dem allgemeinen praktischen Bekenntniß eines Glaubens, der sich unmittelbar an das Thätige knüpfte, mit vergnüglicher Erbauung unterordnete.«


g.

Ein andermal verglich er die Professoren und ihre mit Citaten und Noten überfüllten Abhandlungen, wo sie rechts und links abschweifen und die Hauptsache vergessen machen, mit Zughunden, die, wenn sie kaum[348] ein paarmal angezogen hätten, auch schon wieder ein Bein zu allerlei bedenklichen Verrichtungen aufhöben, sodaß manmit den Bestien gar nicht vom Flecke komme, sondern über Wegstunden tagelang zubringe.


h.

»Da sitzt das Ungethüm mit langen Ärmeln da und bohrt mir Esel, daß ich noch so ein alter Narr bin und mich über die Welt ärgere, als ob ich nicht wüßte, wie es mit ihr bestellt, und daß alles in und auf ihr mit D – versiegelt ist!« Mit diesen Worten empfing mich Goethe, als ich eines Nachmittags in seinen Garten trat und ihn in einer weißen Sommerweste unter den grünen Bäumen auf einem schattigen Rasenplätzchen sitzen fand. Es war Freitag; Sonnabend sollte Theater sein, und eben hatte ein Schauspieler, der spielen sollte, abgesagt, wodurch denn freilich das ganze morgende Stück zerrissen wurde. Die späte Meldung war's besonders, die Goethe verdroß, dem nun freilich die Sache mit derselben Hast über den Hals kam, wie sie sich der Schauspieler von dem seinen herunterschaffte. Wie bekannt, muß nämlich jede Direction dafür sorgen, erstlich, daß regelmäßig gespielt, und sodann, daß das Publicum womöglich mit lauter vortrefflichen Sachen unterhalten wird.

»Solche Avanien« – hub Goethe an, indem er noch immer grimmig ein Glas rothen Wein einschenkte und mich zugleich nöthigte, neben ihm auf einem Gartensitze[349] Platz zu nehmen, »muß ich mir nun von Leuten gefallen lassen, die, wenn sie zu dem einen Thore von Weimar hereinkommen, sich schon wieder nach dem andern umsehen, wo sie wieder herauswollen. Dafür bin ich nun funfzig Jahr1 ein beliebter Schriftsteller der Nation gewesen, die Ihr die deutsche zu nennen beliebt, habe zwanzig oder dreißig Jahre als Geheimerath zu Weimar Sitz und Stimme gehabt2, um mir amende solche Gesellen über den Kopf wachsen zu lassen. Zum Teufel auch! Daß ich noch in meinem Alter eine solche Tragikomödie spielen und darin die Hauptperson abgeben sollte, hätte ich mir zeitlebens nicht träumen lassen. Ihr werdet mir freilich sagen, daß es mit dem ganzen Theaterwesen imgrunde nichts als D-ck ist; denn Ihr habt tief genug hinter den Vorhang geguckt, und daß ich daher wohl thun würde, den ganzen Bettel sobald als möglich fahren zu lassen; aber ich werde Euch zur Antwort geben: die Schanze, die ein tüchtiger General vertheidigt, ist auch D-ck, aber er darf sie doch nicht schimpflich im Stiche lassen, wenn er nicht seine eigne Ehre in den D-ck treten will. Deshalb wollen wir ihm keine besondere Prädilection für den D-ck beilegen und so hoff' ich denn, werdet Ihr mich auch in diesem Punkte freisprechen.«

»Die gerechtere Nachwelt –« nahm ich das[350] Wort, aber Goethe, ohne abzuwarten, was ich eigentlich von der Nachwelt sagen wollte, entgegnete mir mit ungemeiner Hastigkeit: »Ich will nichts davon hören, weder von dem Publicum, noch von der Nachwelt, noch von der Gerechtigkeit, wie sie es nennen, die sie einst meinem Bestreben widerfahren lassen. Ich verwünsche den ›Tasso‹ blos deshalb, weil man sagt, daß er auf die Nachwelt kommen wird; ich verwünsche die ›Iphigenie‹, mit einem Worte, ich verwünsche alles, was diesem Publicum irgend an mir gefällt. Ich weiß, daß es dem Tag, und daß der Tag ihm angehört; aber ich will nun einmal nicht für den Tag leben. Eben deshalb soll mir auch dieser Kotzebue vom Leibe bleiben3, weil ich fest entschlossen bin, auch nicht eine Stunde mit Menschen zu verlieren, von denen ich weiß, daß sie nicht zu mir, und daß ich nicht zu ihnen gehöre. Ja, wenn ich es nur je dahin noch bringen könnte, daß ich ein Werk verfaßte – aber ich bin zu alt dazu – daß die Deutschen mich so ein funfzig, oder hundert Jahre hintereinander recht gründlich verwünschten und aller Orten und Enden mir nichts als Übels nachsagten; das sollte mich außermaßen ergötzen. Es müßte ein prächtiges Product sein, was solche Effecte bei einem von Natur völlig gleichgültigen Publicum wie das unsere hervorbrächte. Es ist doch wenigstens Charakter im Haß, und wenn wir nur erst[351] wieder anfingen und in irgend etwas, sei es, was es wolle, einen gründlichen Charakter bezeigten, so wären wir auch wieder halb auf dem Wege ein Volk zu werden. Im Grunde verstehen die meisten unter uns weder zu hassen, noch zu lieben. Sie mögen mich nicht! Das matte Wort! Ich mag sie auch nicht! Ich habe es ihnen nie recht zudanke gemacht! Vollends, wenn mein Walpurgissack nach meinem Tode sich einmal eröffnen und alle bis dahin verschlossenen stygischen Plagegeister, wie sie mich geplagt, so auch zur Plage für andere wieder loslassen sollte; oder wenn sie in der Fortsetzung von ›Faust‹ etwa zufällig an die Stelle kämen, wo der Teufel selbst Gnad' und Erbarmen vor Gott findet; das, denke ich doch, vergeben sie mir sobald nicht! Dreißig Jahre haben sie sich nun fast mit den Besenstielen des Blocksberges und den Katzengesprächen in der Hexenküche, die im ›Faust‹ vorkommen, herumgeplagt4, und es hat mit dem Interpretiren und dem Allegorisiren dieses dramatisch-humoristischen Unsinns nie so recht fortgewollt. Wahrlich, man sollte sich in seiner Jugend öfter den Spaß machen und ihnen solche Brocken, wie den Brocken, hinwerfen! Nahm doch selbst die geistreiche Frau v. Stael es übel, daß ich in dem Engelgesang Gott-Vater gegenüber den Teufel so gutmüthig gehalten hätte! sie wollte ihn durchaus[352] grimmiger. Was soll es nun werden, wenn sie ihm auf einer noch höhern Staffel und vielleicht gar einmal im Himmel wiederbegegnet!«

»Um Verzeihung!« nahm ich hier das Wort: »Sie sprachen vorhin von einem Walpurgissacke; es ist das erste Wort, was ich heute darüber aus Ihrem Munde höre. Darf ich wissen, was es mit demselben eigentlich für ein Bewenden hat?« – »Der Walpurgissack« – gab mir Goethe mit dem angenommenen feierlichen Ernste eines Höllenrichters zur Antwort – »ist eine Art von infernalischem Schlauch, Behältniß, Sack, oder wie Ihr's sonst nennen wollt, ursprünglich zur Aufnahme einiger Gedichte bestimmt, die auf Hexenscenen im ›Faust‹, wo nicht auf dem Blocksberg selbst einen nähern Bezug hatten. Nach diesem, wie es zu gehen pflegt, erweiterte sich diese Bestimmung ungefähr so, wie die Hölle auch von Anfang herein nur Einen Aufenthalt hatte, späterhin aber die Limbusse und das Fegefeuer als Unterabtheilungen in sich aufnahm. Jedes Papier, daß in meinen Walpur gissack herunterfällt, fällt in die Hölle; und aus der Hölle, wie Ihr wißt, giebt's keine Erlösung. Ja, wenn es mir einmal einfällt, wozu ich eben heute nicht übel gelaunt bin, und ich nehme mich selbst beim Schopf und werfe mich in den Walpurgissack. Bei meinem Eid! was da unten steckt, das steckt unten und kommt nicht wieder an den Tag, und wenn ich es selbst wäre! So streng, sollt Ihr wissen, halte ich über meinen Walpurgissack und die höllische[353] Constitution, die ich ihm gegeben habe. Es brennt da unten ein unverlöschliches Fegefeuer, was, wenn es um sich greift, weder Freund noch Feind verschont. Ich wenigstens will niemand rathen, ihm allzunahe zu kommen: ich fürchte mich selbst davor.«


i.

Von Lessing's Verdienst, Talent und Scharfsinn, und wie derselbe allem höhern Bestreben in Deutschland, Friedrich dem Großen, Voltaire, Gottsched und allen Verehrern des französischen Theaters gegenüber in seiner »Hamburgischen Dramaturgie« die Bahn brach und zugleich durch Einführung des Shakespeare eine neue Periode begründete, die mit dem künftigen Aufschwunge unserer Litteratur auf's Innigste zusammenhing, sprach Goethe mit der größten Anerkennung. Als Exposition habe vielleicht die ganze neue dramatische Kunst nichts so Unvergleichliches aufzuweisen, als die ersten beiden Aufzüge der »Minna von Barnhelm«, wo Schärfe des Charakters, ursprünglich deutsche Sitte mit einem raschen Gange in der Handlung auf's Innigste verbunden sei. Nachher sinke freilich das Stück und vermöge kaum nach dem einmal angelegten Plane sich in solcher Höhe zu behaupten; das könne aber dies Lob weder schmälern, noch solle man es deshalb zurücknehmen. In der »Emilia Galotti« sei ebenfalls das Motiv meisterhaft und zugleich höchst charakteristisch, daß der Kammerherr dem Prinzen Emilia Galotti[354] sicher auf seinem Wege zugeführt haben würde, daß aber der Prinz dadurch, daß er in die Kirche geht und in den Handel hineinpfuscht, dem Marinelli und sich selber das Spiel verdirbt. Nicht immerdar schön sei die Art, wie Lessing das Schicksal in der »Emilia Galotti« einführt. Ein Billet, das der Prinz an seine ehemalige Geliebte, die Gräfin Orsina, schrieb, und worin er sich ihren Besuch auf morgen verbittet, wird eben dadurch daß es zufällig liegen blieb, – wenn Zufall, wie die Gräfin selbst sogleich hinzusetzt, in solchen Dingen nicht Gotteslästerung genannt werden müßte – die gelegentliche Ursache, daß die gefürchtete Nebenbuhlerin, weil man ihr nicht abgesagt, gerade in demselben Augenblicke ankommt, wo Graf Appiani erschossen, die Braut in das Lustschloß des Fürsten durch Marinelli eingeführt und so dem Mörder ihres Bräutigams in die Hände geliefert wird. »Dies sind Züge einer Meisterhand, welche hinlänglich beurkunden, wie tiefe Blicke Lessing in das Wesen der dramatischen Kunst vergönnt waren. Auch seid versichert: wir wissen recht wohl, was wir ihm und seinesgleichen, insbesondere Winckelmann schuldig sind.«


k.

Bekanntlich war Klinger Goethes Landsmann. Eines Morgens (so erzählte mir einst, als von Klinger, seinen Schriften, seinem Aufenthalte in Weimar und seinem Abgange nach Petersburg die Rede war, ein Freund)[355] sei Klinger zu Goethe gekommen, habe ein groß Packet mit Manuscripten aus der Tasche gezogen und ihm daraus vorgelesen. Eine Weile habe er's ausgehalten, dann aber sei er mit dem Ausruf: »Was für verfluchtes Zeug ist's, was Du da wieder einmal geschrieben hast! Das halte der Teufel aus!« von seinem Stuhle aufgesprungen und davongelaufen. Dadurch aber habe Klinger sich nicht im Geringsten irre machen oder aus seiner Fassung bringen lassen, sondern, nachdem er ganz ruhig aufgestanden und das Manuscript in die Tasche gesteckt, habe er weiter nichts gesagt, als: »Kurios! Das ist nun schon der zweite, mit dem mir das heute begegnet ist!« Wieland versicherte, in solchem Falle würde er schwerlich so gleichgültig geblieben sein. Goethe nahm mit großer Gelassenheit das Wort und sagte: »Ich auch nicht! Aber daraus seht Ihr eben, daß der Klinger durchaus zu einem Generale geboren ist, weil er eine so verteufelte Contenance hat. Ich habe es Euch schon damals vorausgesagt.«


1 Keine genaue Zahl! 1823 war Goethe nicht mehr Leiter der Bühne.


2 Genau genommen also 1796 oder 1806!


3 Das klingt wie aus 1802


4 Das wäre also nach der Hexenküche berechnet 1820, nach dem Blocksberg 1838 von Goethe gesprochen worden![356]


916.*


Mit Frau Dutitre aus Berlin.1

Die Ihnen [dem Herausgeber] gewordene Mittheilung meiner [des Freiherrn v. Czettritz-Neuhauß] genauen[356] Bekanntschaft mit Herrn v. Goethe ist nicht ganz richtig, da meine äußere Stellung zu der seinigen so verschieden war und Herr v. Goethe stolz und abstoßender Natur war. Von dem Spätjahre 1798 bis 1808 habe allerdings diesen Dichterfürst öfter gesehen, da der damalige Herzog Karl August mir ein gnädiger Herr war, sodaß, wenn in Weimar, derselbe mich öfterer zu seinen kleinen Soupers befahl, bei welchen Goethe nie fehlte .....

Doch... erlaube ich mir Ihnen eine Erzählung des Herrn v. Goethe, die er allerliebst humoristisch vortrug, in meiner trocknen Manier mittheilen.

Bei einem so kleinen Souper, zu welchem ich befohlen, kam Goethe spät, und der Herzog rufte ihm zu: »Warum so spät? Aber es muß Dir heute etwas besonderes begegnet sein: das lese ich auf Deinem Gesicht.«... Worauf derselbe Nachstehendes mittheilt.

Eine reiche Bürgerfrau aus Berlin, enthusiastische Verehrerin Goethes, entschloß sich, die damals lange Reise bei schlechten Wegen nach Weimar zu unter nehmen, um den großen Mann wie Dichter von Angesicht zu sehen. Glücklich an Ort und Stelle angekommen, läßt sie sich bei Goethe melden und bittet um Audienz, die ihr abgeschlagen wird. Trostlos und voller Schmerz läuft sie zu dem Geheimrath v. Müller, intimen Freund Goethes – wie sie dessen Bekannte gewesen, berührte Goethe in seinem Vortrage nicht – und bittet um dessen Vermittlung, der er sich unterzieht, und diesen[357] endlich dahin bringt, ihm zu sagen: Laß Deine Clientin wissen, daß ich sie morgen früh 11 Uhr empfangen will. Spät Abends erhält die Supplicantin diese sie beglückende Nachricht, welche ihr eine schlaflose Nacht macht, sowie sie mit frühem Morgen sich schon in höchsten Glanz wirft und ihr der Zeiger der Stadtuhr eine säumige Schnecke dünkt. Endlich zeigt er 3/4 auf 11, und sie eilt nach der Wohnung des großen Mannes, wo sie von einem Diener empfangen und in den Empfangsalon eingeführt wird .... Im höchsten Grade aufgeregt, durchmißt die gute Frau den Saat auf und ab, bis endlich der Ersehnte erscheint, sie auf ihn zustürzt; auf die Knie wirft und pathetisch declamirt:


Fest gemauert in der Erde

Steht das Haus aus Thon gebrannt2!

worauf Goethe ihr sagt: Es freut mich, daß Sie meinen Freund Schiller ehren! – und fortgeht.


1 Obschon in der nachstehenden Mittheilung eines Neunzigjährigen Irrthümer unterlaufen, so giebt sie doch eine quellenmäßige Nachricht über den bekannten Besuch der Berliner Bäckersfrau.


2 Ob absichtlich falsch?[358]


917.*


Mit Carl Ludwig von Knebel

Knebel las einst in seinem... Gartenhause einem jungen Manne mehrere Stellen aus seinem damals noch ungedruckten Lucrez vor zum Behuf etwaiger Verbesserungen. Er ward indeß durch das Eintreten mehrerer Personen aus seiner nächsten Umgebung oft unterbrochen. Bei einem abermaligen Pochen an die[358] Thür seines Zimmers stieg sein Unmuth auf's Höchste. »Herein!« rief er; »Herein in's Teufels Namen, wer Du auch bist!« Die Thür öffnete sich und – Goethe trat ein. Knebel, sichtbar verlegen, entschuldigte sich, daß er wohl zu laut gerufen. Goethe aber, wie es seine Gewohnheit war, die Hände kreuzweis auf dem Rücken, trat mit ruhiger Würde näher und sagte lächelnd: »Ich kenne Deine Art.«[359]


918.*


Im Hause von Friedrich Sigismund Voigt

Einmal erzählte der alte Herr uns, er habe heute den Besuch eines recht hübschen Mädchens gehabt, das ihm ein gar sonderbares Anliegen vorgetragen habe. Dieses Mädchen und deren Schwester, die ich (Theodor Voigt) beide gut kannte,... waren die Töchter eines alten Sonderlings, Dr. Hogel (Philosoph). In den zwanziger Jahren starb ihr Vater,... bei welchem früher auch Studenten und unter diesen wohl auch Ungarn gewohnt hatten. Die Mädchen hatten wenig oder gar keinen Umgang in der Stadt. Eines Tages also, so erzählte uns Goethe, habe eine der beiden um Einlaß bei ihm gebeten, indem sie schüchtern einen Brief überreicht und um einen gütigen Rath vom gescheidtesten Mann des Landes gebeten habe. Der Brief wäre von einem ungarischen Geistlichen gekommen, welcher darin geschrieben: vor zwölf oder fünfzehn[359] Jahren habe er im Hause des Herrn Dr. Hogel gewohnt und schon damals Fräulein Hogel fest in sein Herz geschlossen, allein er habe ihr nicht eher näher treten wollen, bis er eine gute Stellung erlangt hätte. Jetzt sei er nun wohlbestallter Geistlicher, und wenn sie sich seiner noch erinnere, so hielte er hiermit um ihre Hand an. Fräulein Hogel konnte sich beim besten Willen nicht auf diesen Bewerber besinnen; er, Goethe, habe ihr aber gesagt: der Brief gefiele ihm wohl, und wenn sie jemand so viele Jahre in seinem Herzen herumgetragen habe, so würde sie sich sicher ganz behaglich darin finden. Sie sollte nur getrost zu den Verwandten nach Wien reisen, woselbst die Hochzeit stattfinden sollte.

Wirklich that sie, wie ihr gerathen und längere Zeit nachher soll ein Dankschreiben gekommen sein mit der Bemerkung, daß sie glücklich verheirathet und ihre Schwester bei ihr sei.[360]


1416.*


Zwischen 1792 und 1816.


Bei Einübung einer jungen Schauspielerin

Musiker und Sänger wußte er sehr anzuregen und ihnen oft mit wenigen Worten, aber lebhaften Geberden und Ausrufungen anschaulich zu machen, worauf es eigentlich ankomme. Dabei hatte er eine unermüdliche Geduld und Ausdauer.

Eine der ersten noch lebenden dramatischen Künstlerinnen begann ihre Laufbahn in Weimar. Sie hatte bei ihrem Debut auf den Brettern, die die Welt bedeuten, einige wenige Worte zu sagen. Goethe ließ sie zu sich kommen und sagte: »Nun, mein liebes Kind, sagen Sie mir einmal vor, was Sie morgen zu sprechen haben.« – Sie gehorchte. Goethe belehrte sie nun und hieß sie dann die Worte wiederholen. Sie that es. »Noch einmal!« sagte er ruhig. Sie leistete willig Folge. Da ließ er sie mit dem ruhigsten »Noch einmal!« von der Welt dieselben Worte wohl funfzigmal wiederholen, und als ihr endlich vor innerem Ärger und zurückgedrängten Thränen die Stimme versagte, sprach er, ohne im Geringsten von ihrem Kummer und Grimm Notiz zu nehmen, zu ihr: »Nun, mein liebes[166] Kind! gehn Sie jetzt zuhause und überdenken Sie sich das; dann kommen Sie morgen wieder, da wollen wir es noch ebensovielmal wiederholen. Da soll es wohl gehen.«[167]


1417.*


Zwischen 1796 und 1816.


Bei Bühnenproben

In einer Probe des ›Titus‹ geschah es einst, daß die Jagemann zur Unzeit in einer Coulisse sichtbar wurde. Goethe rief – wie er den Regisseur zu nennen pflegte: – »G'nast! Sorgen Sie dafür, daß das Theater frei bleibt.« – Genast that, wie ihm befohlen worden. Die Jagemann, muthwillig wie sie war, schlüpfte kurz darauf aus der Coulisse in die nebenan befindliche. Da verließ Goethen die Geduld und er sprach mit gewaltiger Stimme: »Tausend Donnerwetter! Das ist ja wie in einem Taubenschlage! Ich will, daß niemand das Theater betrete, wer nicht dahin gehört.« ....

Einandermal sollte ›Egmont‹ nach Schiller's Einrichtung für die Bühne gegeben werden [1796]. Der Meister war behindert den ersten Proben beizuwohnen; dem Regisseur Genast blieb die Leitung derselben überlassen. Die Schauspieler beklagten sich imstillen, daß sie noch nicht wüßten, wie sie die Volksscene, wodurch die Tragödie eingeleitet wird, im Sinne des Dichters darstellen sollten. Endlich erscheint Goethe in der[167] Probe. Als er das Gewirre sah, worin die Schauspieler sich nothdürftig bewegten, rief er: »Halt!« ging auf die Bühne und ordnete die Stellung der zunächst Beschäftigten. Damit die Scene an Abwechselung gewinne, ließ er den Seifensieder von der linken Seite her auftreten und sich an einen Tisch setzen, der besonders für ihn servirt wurde. Vansen hingegen erhielt die Weisung aus dem Hintergrunde aufzutreten. Da merkte man es deutlich, wie durch diese kunstgemäße Gruppirung den Schauspielern das Verständniß aufging und nun Sicherheit in ihre Leistungen kam.

In der Scene zwischen Herzog Alba (Graff) und Egmont (Oels) bemerkte Goethe: »Lieber Graff! Ihre Gesticulationen wären ganz gut, wenn sie dabei nicht das Gesicht verdeckten, das man nur in besonderen Fällen dem Zuschauer verbergen soll. Spielen Sie statt mit dem rechten Arme, mit dem linken, so bleibt Ihr Gesicht frei und Ihre Mimik geht dem Publicum nicht verloren. Auch ist es angemessener, die Worte, welche Alba an Egmont, der zu seiner Linken steht, richtet, mit der linken Hand vorzugsweise zu unterstützen.« Graff verneigte sich und sagte: »Sehr wohl, Excellenz!«

– – – – – – – – – – – – – – – –

Eines Tages bemerkte der Meister sarkastisch: »Herr Oels! Ihre hintere Partie haben wir genug gesehen; zeigen Sie uns doch wieder Ihr Gesicht!« Im Nu stand der beschämte Künstler en face seinem Chef gegenüber.[168]


1418.*


Zwischen 1796 und 1816.


Mit Friedrich Haide

Lebhaft erinnere ich [Gotthardi] mich... einer, auf eine Theaterprobe von ›Egmont‹ sich beziehenden Anekdote, die mir der Schauspieler Haide, den sie ganz eigenst betraf, persönlich mittheilte, und deren Referat ich nicht unterdrücken mag. Der genannte Künstler, der in dem Drama den Oranien gab, hatte in der Unterredung mit Egmont in der letzten Scene des zweiten Aufzugs es sich erlaubt, über die Gebühr leise zu sprechen, sodaß er für entfernter Sitzende unverständlich werden mußte. Goethe hatte ihn eine Zeit lang gewähren lassen; endlich des Dinges müde, sah er sich veranlaßt, an Haide in größter Ruhe die lauten Worte zu richten: »Ich möchte das, was ich vor dreißig Jahren geschrieben habe, denn doch auch hören.«[169]


1800.*


Zwischen 1803 bis 1817.


Mit Johann Heinrich Voß d. J.

Ich dachte eines Wortes von Goethe zu mir, den Eutiner Tischbein betreffend: »Nie einander gesehn, in ganz verschiedenen Verhältnissen gebildet, und doch so übereinstimmend!«[218]


1419.*


Zwischen 1804 und 1812 (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer u.a.


a.

Unter die biblischen Sprüche, die Goethen als fleißigem Leser der heiligen Schrift aus seiner Jugend noch immer gegenwärtig und geläufig waren, gehört[169] der seinem Aufsatze »Israel in der Wüste« als Textwort vorgesetzte:

»Da kam ein neuer König auf in Ägypten, der wußte nichts von Joseph.«

Goethe machte auch im Leben vielfältig Anwendung davon, besonders wenn das gänzliche Nichtwissen seiner Zeit von dem, was vor ihr gewesen oder geschehen war, sich kund gab. Dies war häufig genug der Fall, da die Nachkommen gewöhnlich denken, mit ihnen fange die Welt und das Leben erst an, oder wie Er es ausdrückte: »Ihr Tauftag solle der Schöpfungstag sein.«


b.

»Also muß man des Todes Bitterkeit vertreiben« war auch eines seiner biblischen Sprüchwörter.


c.

Höchst sprechend für seinen mittheilenden Charakter, den auch Schiller an ihm gefunden hatte, indem er ihn den communikabelsten aller Menschen nannte, war auch der oft vorkommende Vergleich mit der Frau im Evangelio und ihrem gefundenen Groschen. Wie diese ihre Freunde und Nachbarn von ihrem Glücksfunde sogleich in Kenntniß setzt, damit sie an ihrer Freude Theil nehmen, so erging es ihm bei jeder neuen wissenschaftlichen Entdeckung, bei glücklicher Lösung eines Problems und endlicher Gewahrwerdung eines ihm lange verborgen gebliebenen Naturgesetzes. Er mußte sie sogleich[170] seinen Freunden mittheilen. Herder, Schiller, Knebel und Meyer waren immer die ersten, denen er davon Nachricht gab und sie zur Mitfreude aufforderte. Aber auch jüngere Freunde und Vertraute wurden zur Theilnahme aufgerufen; denn wie er leibliche Kost und Speise gern reichlich mitzutheilen liebte, so auch geistige noch mehr, als der »communikabelste«.


d.

»Solche Mühe hat Gott dem Menschen gegeben,« war bis an das Ende seines Lebens ein mehr heiter als ernst angewendetes Bibelwort, und wahrlich, Niemand hat mehr im ganzen Leben sich abgemüht als eben er. Doch der Ton, womit er es auszusprechen pflegte, indem er auf dem ü aushielt, es auch mit müde, ermüdigt, mühselig in Verbindung brachte, zeigt, daß es keine sentimentale noch hypochondrische Stimmung war, die es ihm eingab, sondern jene ironische, die er in den Briefen an Zelter definirt und die es ihm möglich machte, solche Mühe so lange auszuhalten.


e.

Goethe brauchte im gewöhnlichen Gespräch und unter Freunden viele aus fremden Sprachen entlehnte und angewöhnte Worte und Wendungen, theils in den Grundsprachen, theils in Nachbildungen, z. B. aus dem Italienischen, wie »dice bene« für: wohl gesprochen! oder Sie haben Recht! »Es tornirt etwas nicht a conto,«[171] non torna a conto für: es kommt nichts dabei heraus. »Das wär' oder gäb' ein precipizio,« wofür man im Deutschen auch sagt: »das wär' ein Untergang, für Lärm, Skandal u. dgl.« Spregiudicato, ohne Vorurtheil, und besonders auch das Trostwort bei Sachen, die zugrunde gehen oder nicht zu halten sind, worüber man sich also zufrieden geben müsse: »periamo noi, periano anche i bicchieri,« welches er in Rom von einem kleinen italienischen Mädchen gehört hatte und es den Weisheitsspruch desselben nennt.

Aus dem Französischen war ihm sehr geläufig zu sagen: »das ist ein Meer auszutrinken,« c'est une mer à boire, für: das ist zu weitläufig, zu umständlich, zu schwierig, und besonders die ganze französische Phrase: »ce sont les suites inévitables de la guerre,« die man, besonders in der Epoche von 1806, so oft von den Franzosen hören mußte, wenn sie Klagen und Gegenvorstellungen abzufertigen suchten.


f.

Goethe sprach öfter von einem taedium vitae, das den Menschen ergreife und ihn zum Selbstmorde veranlasse, und zwar aus fremder und eigener Erfahrung, die ihn den Werther zu schreiben antrieb; desgleichen bei dem häuslichen Unheil, das Zeltern betraf und ihm zum Trost und Ersatz diese brüderliche Freundschaft von Seiten Goethes einbrachte.[172]


g.

Die lateinische Sprache gewährte ihm besonders ausdrucksvolle und bezügliche Spruchformeln, wie difficilia quae pulchra, oder ars est de difficili et bono, oder sustine et abstine, das er selbst thatkräftig durch ein ganzes Leben hindurch ausführte, so wie er das decet imperatorem stantem mori auf das gefaßte und standhafte Benehmen hoher Personen in einem die Existenz bedrohenden Falle zu beziehen wußte.


h.

»Der Mensch ist brevis aevi,« liebte Goethe besonders oft zu sagen, wenn er überhaupt auf das Unvollendete, Unzulängliche, Unerreichte im menschlichen Leben, Thun und Treiben hindeuten wollte, aber zugleich auch auf sein eigenes Streben, nur bald mit etwas fertig zu werden, nicht erst lange Entwürfe auszuspinnen, etwas ohne Aufschub zu genießen, »daß schöne Stunden im Fluge genossen werden müssen« – auch selbst »Begeisterung keine Häringswaare sei, die man einpökelt auf viele Jahre«. Oft verband er damit die Worte des persischen Gesandten: »Der Mensch lebe nur fünf Tage« und »Gott sei barmherzig«. Mit diesen Fünf zielt er auf das, was bereits Saadi einem Herrscher und Befehlshaber einschärft, jede Stunde der Herrschaft Gottes zu betrachten, eingedenk zu sein des Wechsels der Zeit und die Übertragung der Herrschaft[173] von Gott auf den Menschen zu erwägen, auf daß er sein Herz nicht hänge an diese fünf Tage Frist auf Erden etc.

Da für Goethen, bei solcher Gesinnung, die Zeit »Etwas« war, »Leben« und »selbst ein Element«, und daß nichts höher zu schätzen sei als der Werth des Tages; daß es besser sei, das geringste Ding von der Welt zu thun als eine halbe Stunde für gering zu halten, und er darin ganz mit Leibnitzens Wahlspruch: pars vitae, quoties perditur hora, perit, übereinstimmte; auch mit Friedrichs des Großen Sentenz, jener des Seneca: Temporis unius honesta avaritia est, nachgebildet: le temps est le seul dont l'avarice soit louable – so mußte das Amici fures temporis auch eines seiner Brocardica sein, zu dessen Ausdruck ihm leider oft genug Einheimische wie Fremde, besonders Individuen von außerordentlicher Schwatzhaftigkeit, Druckserei und Sitzvermögen, Gelegenheit gaben. Manche Äußerung gegen Zelter über Fremde, die nichts bringen und nichts mitnehmen, ist daraus erklärbar.


i.

Eine der häufigsten Anwendungen, bald in vollem bald in halbem Scherz, erfuhr das Basedow'sche Witzwort Ergo bibamus, ja es ward zu einem terminus technicus gestempelt und als ein Substantiv gebraucht nicht nur für Gelegenheit, Anlaß, Grund zu Lust und[174] Vergnügen, sondern auch zur Persiflage einer seltsamen Folgerung.

Als Goethe diese Conclusion, die nach Basedow's Behauptung zu jeder Prämisse passen sollte, zum ersten Mal beim Dictiren der Farbenlehre, und zwar in der Polemik gegen Newton, erwähnte und sie zugleich auf die wunderliche Schlußart desselben applicirte, erlaubte ich mir die Bemerkung: es wäre dies ja der natürlichste, ungesuchteste Refrain zu einem Trinkliede selbst; man müsse nur die schlagenden Motive zu den Prämissen aussuchen, aus denen jene Conclusion folge. »Nun, versuchen Sie's einmal!« erwiederte er; was ich denn auch bald darauf that, und ihm schien der Versuch nicht übel. Einige Zeit nachher (1810) machte er selbst das vortreffliche Ergo bibamus für Zelter's Liedertafel.


k.

Eine scherzhafte Anwendung von Klopstock's Sentenz: einige Tugenden würden belohnt und andere verziehen, war ihm gleichfalls sehr gewöhnlich. So spielt er darauf an in einem Briefe an Schiller, wo er die ernsten und nach seinem Begriff guten Aufsätze in den Propyläen – die übrigens wenig Absatz fanden – zum Troste des Buchhändlers mit etwas würzen will, damit sie, wonicht belohnt, doch wenigstens vergeben werden.


l.

[175] Am liebenswürdigsten erschien er, wenn er aus seinen eigenen Gedichten einzelne Verse oder ganze Stellen bald mit einem besondere Wichtigkeit ausdrückenden Lehrton, bald mit einem achselzuckenden Bedauern oder auch behagliches Zugeben andeutenden Conversationston, als wie im Augenblick erst improvisirt, vorbrachte. Z. B. aus dem Reinecke Fuchs: »Und so ist es beschaffen« etc. oder »handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger«, oder »wir hätten ein halb Dutzend verzehrt, wofern sie zu haben gewesen,« bei Genuß eines Lieblingsgerichts, wie etwa Tauben.

Der Wirth aus den Mitschuldigen mit seinem »Minister möcht' ich sein und jeglicher Courier ging' bei mir aus und ein« wurde vorgeführt, wenn es galt, die unschuldige Neugier eines oder des andern gegenwärtigen jungen Frauenzimmers zu persifliren.

So schonte er auch sich selbst nicht, wenn die Seinigen ihn an dies und jenes erinnern mußten, indem er zugab, »ja, so sind die Herrn von Stande, ich bin auch zuweilen so« oder auch »Meint ihr denn, daß die Barone freien so wie die Plebejer?« Beides aus einer von seinen Lieblingsopern: il matrimonio segreto.

Junge Schauspielerinnen, die zu einer neuen oder größern Rolle auch neues und reiches Costüm zu[176] haben wünschten und ihm deshalb oft mit Bitten zusetzten, imitirte er parodirend mit der Arie einer Actrice aus den theatralischen Abenteuern [von Vulpius]: »Atlas-Kleider muß ich haben mit der schönsten Stickerei« etc. Indem er sich so als einen italienischen Impresario ansah, spielte er die Rolle desselben weiter mit den Worten: »In die Logen tret' ich höflich, grüße diesen, grüße jenen;« denn alle diese und andere italienische Opern hatte er früher auf's Theater gebracht und deren Texte verbessert.


m.

Von den nach seiner Art parabolisch ausgedrückten heitern Einfällen sei noch einer.. erwähnt:.. Jeder Mensch habe nur ein Nösel von Höflichkeit, und dieses sei bald verbraucht.


n.

Die Unterhaltungen mit Goethe sowohl bei Tische als in den Arbeitsstunden bezogen sich, außer den vorliegenden Gegenständen, häufig auf Sprachen, alte wie moderne. Aus dem Griechischen theilte ich manche Gnome oder sonst ein Apophthegma mit, das uns zu vielen Gedanken und allerlei Anwendungen Anlaß gab; unter andern auch ein Distichon aus der Anthologie, welches sich über die Eitelkeit, Nichtigkeit und Lächerlichkeit der Welt und der menschlichen Dinge ausläßt:[177] ein antikes Salomonisches vanitatum vanitas und welches ungefähr also lautet:

Panta gelôs, kai panta konis, kai panta to mêden,

Panta gar ex alogôn esti ta geinomena.

»Alles nur Poss' und alles nur Dreck, und alles ein Garnichts:

Alles aus Unvernunft ist ja nur was da geschieht.«


Dieses gefiel ihm so besonders, daß er bei Expectorationen über den Lauf der Welt darauf anzuspielen und mit den ersten Sylben panat gelôs nur anzuschlagen liebte wie ein Stichwort.[178]


1420.*


Zwischen 1804 und 1812.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Die höchsten Kunstwerke sind schlechthin ungefällig, sie sind Ideale, die nur approximando gefallen können und sollen, ästhetische Imperative.

In eigentlichen Poemen ist keine als die Einheit des Gemüths.

Alles Vollendete spricht sich nicht allein, es spricht eine ganze mitverwandte Welt aus.

Der Künstler gehört dem Werke und nicht das Werk dem Künstler.

Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt, dafür kommt alles in ihm vor. Er stellt im eigentlichsten Sinne[178] das Subject-Object vor, Gemüth und Welt. Daher die Unendlichkeit eines guten Gedichts, seine Ewigkeit.

Poesie ist Poesie, von Sprech- und Redekunst unendlich verschieden.

Poesie ist Gemüthserregungskunst.

Poesie ist Darstellung des Gemüths, der inneren Welt in ihrer Gesammtheit.«


b.

»Das Theater ist die thätige Reflexion des Menschen über sich selbst.

Die historischen Stücke gehören zu der angewandten Historie. Sie können theils allegorisch, theils Poesie der Geschichte sein.

Alle Darstellung der Vergangenheit ist ein Trauerspiel im eigentlichen Sinne, alle Darstellungen des Kommenden, des Zukünftigen ein Lustspiel.

Das Trauerspiel ist bei dem höchsten Leben eines Volkes am rechten Orte, sowie das Lustspiel beim schwachen Leben desselben.

Plastik, Musik und Poesie verhalten sich wie Epos, Lyrik und Drama.«


c.

»Schöne Melodie und Gesang von einem schlechten Text thut nichts zur Sache.

Es ist besser die Worte nicht zu verstehen, weil[179] man aus den Geberden mehr herausholt, als die Worte geben können. Die Wichtigkeit des Inhalts, des Gegenstandes wird uns durch leidenschaftliche Geberden aufgeprägt; auch der Stumpfeste muß denken, daß es der Mühe werth sei, sich zu ereifern.

Nicht outrirt. Alle Elemente des Gefühls, Ausdrucks sind darin, die bei uns auch, aber einzeln vor kommen, aber verbunden zu einem Ganzen.

Das französische Theater, die Acteurs gehen nur wenig über die französische Wirklichkeit hinaus, es ist nur tactmäßiger. Der gemeinste Soldat würde so agiren, so sprechen, nur nicht durchweg mit dieser Gemessenheit, die keineswegs steif und hölzern.

Das französische Theater stellt seinen Gegensatz in französischer Form, das deutsche den seinigen in seiner Form [dar?]. Das deutsche stellt leidenschaftliche Gegenstände mit seiner Ruhe vor, das französische gesetzte mit seiner Heftigkeit.«


d.

Sophokles sei ironisch, Äschylus und Euripides nicht. Die Tragödie sei bloß für die Niederträchtigkeit der Menschen. Kein Held sei so niederträchtig und jämmerlich, wie er in der Tragödie erscheine.


e.

»Das sogenannte Trauerspiel ist eigentlich das wahre Lustspiel und das sogenannte Lustspiel das eigentliche[180] Trauerspiel, wenn man über etwas weinen oder lachen dürfte.

Daß Ödipus sich die Augen ausreißt, ist eine Dummheit und nicht lächerlich; daß Aristophanes sich über die Menschen moquirt, ist ein Ernst, aber nicht weinerlich.«1


f.

Über den Zusammenhang demokratischer Gesinnungen mit der Komödie, besonders der antiken, dem Herabziehen des Höchsten.

»Was der Mensch als Gott verehrt, ist sein eigenstes Innere herausgekehrt.

Erkennt er Würde, sucht er Würde, so verehrt er sie auch außer sich.

Zur Zeit, als es noch Könige gab, gab es auch noch Götter.

Als Volksregiment schaltete, gab es keine persönliche Würde, nur Würde der Stelle.

Und so kamen auch die Götter in Dekadenz. Sie mußten sich gefallen lassen, daß man mit ihnen umsprang wie mit den Menschen.

Es war die Egalisirung bis in den Himmel gedrungen.«


g.

Zerstreute Gedanken über das griechische Drama.

»Es ist ein enger Kreis von wenigen Figuren, die[181] gleichsam wie Charaktermasken auftreten und wie ein Uhrwerk die Geschichte abspielen.

Es ist überall nur das Nothwendige ad hunc actum angebracht.

In der Sprache ist unterandern ein auffallendes Ver standesspiel, eine Freude an witzigen Repliken, an verständigen, an vernünftigen, pertinenten (vulgo impertinenten), die man Lessingisch nennen könnte.«


h.

»In allem, was da lebt und leben soll, muß das Subject vorwalten, d. h. mächtiger sein als das Object: es muß dieses überwinden, wie die Flamme das Docht verzehrt.«


i.

Auf meine Bemerkung, daß die Alten sagten: das Rechte sei nur eins, das Irrige mannigfach, bemerkte G.: das Besondere sei die Lüge, das Wahre das Allgemeine!


k.

»Nicht einmal die Poesie des christlichen Gesangbuches ist für alle und jede; wie sollte die profane Poesie für einen jeden sein? Wieland's Dichtungen sind nicht allen Leuten, Kindern und Weibern zu empfehlen. Das thut aber dem Dichter keinen Eintrag. Dieser kann sich in seinem Wesen nicht geniren. Die polizeiliche Einschränkung kommt andern Volks- und Hausvorstehern zu.«[182]


l.2

»Die Liebe ist eine Conservationsbrille, aber nur für den Gegenstand, den man damit betrachtet, nicht für uns.

Sonst sieht man doch mit der Brille schärfer und deutlicher, mit dieser Brille aber verschwindet aller Mangel und Fehler, und lauter Dinge, die nicht da sind, wenn man die bloßen Augen braucht, kommen erst hier zum Vorschein.

Zwar kommen auch Mängel und Fehler zum Vorschein, nämlich Tugenden und Eigenschaften, welche fehlen, sobald man den Gegenstand mit bloßen Augen sieht.«


m.

»Und der Lebende hat Recht.« – »Ein niederträchtiges Recht, schlechter zu sein, als die vor uns lebten,« sagte Goethe bei Gelegenheit der Shakespeareschen Stücke, insonderheit des Richard III, wogegen wir alle nicht aufkommen; das sei Poesie, Symbolik, Idee, Rhetorik etc. alles zugleich.


1 Das wiederholte ›weinerlich‹ der Quelle ist offenbar Versehen.


2 Anfang schon als Nr. 211 d.[183]


1421.*


Zwischen 1804 und 1812 (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer u.a.


a.

Goethe nannte es .. die lächerlichste Prätension, allen gefallen zu wollen.


b.

[183] Er suchte die göttliche Ruhe in sich herzustellen und so ging sie aus seinem Herzen in die Schöpfungen seines Geistes über. Wie sehr sie gleichwohl nur in der dichterischen Stimmung den reinen unbewegten Spiegel bildete, in welchem die Welt mit ihren Objecten sich einstrahlte, in dem Treiben und Toben des Lebens aber zu schwanken und ihr Gleichgewicht zu verlieren drohte, und daher der Sicherstellung bedurfte, zeigte die ihm fast zur Gewohnheit gewordene Ermahnung: »Ruhig, ruhig! nur Ruhe!« die er andern zurief, oft wenn sie noch oder schon ruhig waren, sodaß sie zugleich die lautgewordene innerliche Selbstaufforderung zu gelassenem und besonnenem Verfahren zu sein schien.


c.

Nicht mindere Schalkheit [als nach 614 gegen F. A. Wolf] ließ er gegen seinen Freund Knebel ausgehen, wenn er manche Abende bei ihm mit Erzählen und Zeichnen zubrachte. Dieser hatte die unüberwindliche Neigung beständig die Lichter zu putzen, ohne Noth und zwar immer zu kurz, daß sie noch schlechter brannten, als zuvor, auch wohl ganz auslöschten. Nun hielt er ihn einen ganzen Abend dadurch ab, daß er ihm die Lichtscheere wegnahm, sie auf den Leuchter vor sich hinlegte und ihm unter keiner Bedingung erlaubte, selbst zu putzen, dabei aber die Schnuppen so[184] lang werden ließ, daß jener vor Ungeduld hätte vergehen mögen. Alles Bitten, Schmollen und Grollen half nichts; immer wußte er es ihm mit andern Gründen und Vorwänden auszureden, bis es ihm selbst gefiel, das Versäumte nunmehr als zeit- und zweckmäßig nachzuholen.


d.

Nichts .. regte ihn innerlich stärker auf, als die Selbstgefälligkeit, womit eingebildete, obschon übrigens talentvolle Personen bei Betrachtung eines Kunstwerks oder sonst einer vortrefflichen Arbeit diese dadurch zu loben meinten, daß sie ausriefen: das sehe ganz so aus, als wenn sie es gemacht hätten; oder: das könnten sie wohl auch gemacht haben. Da wurde denn hinterher im Kreise der Vertrauten eine solche Person mit einem Frankfurter Provinzialismus »ein Schnudelputz« genannt.


e.

»Wer mit zweiundzwanzig Jahren den ›Werther‹ schrieb« – hörte ich ihn öfters sagen, wenn er zu verstehen geben wollte, daß er »eben doch keine Katze« sei.


f.

Soviel ist gewiß – da Goethe es mir selbst gestand – daß ihm die Fortsetzung .. [der »Natürlichen Tochter«] »durch die niederträchtige Kritik eines Dyck verleidet worden.«[185]


g.

So urtheilte er .. nicht über seine Freunde und die Personen, die er liebte. »Ich denke nicht über sie,« sagte er, wenn man ihm von ihren Eigenheiten und Sonderbarkeiten etwas vorreden wollte.


h.

[Böttiger] konnte weder Personen noch Sachen loben, ohne beiden zugleich etwas zu versetzen und anzuhängen ..... Daher Goethe mit derbem, aber passendem Witz bemerkte: Böttiger könne dem Publicum nichts auftischen, ohne es gleich den Harpyen mit dem eigenen Unrath zu beschmutzen.


i.

So scherzte er einmal, als von den Engländern und ihrer undeutlichen, silbenverschluckenden Aussprache die Rede war: sie schienen so hungrig und schwer zu sättigen, daß sie zu den Speisen auch noch Silben verschlingen müßten, wie die Vögel noch Sand und Steinchen, um der Verdauung nachzuhelfen.


k.

Als in den letzten Jahren mehrere Dichter, unter ihnen auch Tieck und Matthisson nach Weimar gekommen waren und ihn besucht hatten, nannte er dies scherzhaft »eine Zusammenkunft der Renomméen.«


l.

[186] Zuweilen wohl, wenn ihn gerade der Schalk drückte und ein guter Einfall sich Luft machen wollte, nahm er einen Vertrauten beim Arm, ihn bei Seite ziehend in ein anderes Zimmer oder an ein entferntes Fenster und brachte seine Bemerkung mit ernsthafter Miene und der leiser gesprochenen Eingangsformel »Lieber N. N., wissen Sie wohl, wie mir das vorkommt?« – »Haben Sie wohl bemerkt?« u. s. w. wie eine Carabinade an und zog sich eben so rasch und unbefangen wieder zurück.[187]


1422.*


Zwischen 1804 und 1812 (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

Goethe erzählte mir öfter von dieser Gewohnheit des Künstlers [Kniep, Bleistifte zu spitzen], worüber er manchmal von dem Zweck abgekommen und die Zeit verthan habe.


b.

Von der »Achilleis« waren damals [März 1799] schon fünf Gesänge motivirt und von dem ersten 180 Hexameter geschrieben. Viel weiter aber, als das was davon gedruckt ist, brachte es Goethe nicht in der Ausarbeitung; doch hatte er späterhin vor, einen Roman aus dem Sujet zu machen.[187]


c.

Goethe mußte alles motiviren und es hätte – wie er einmal zu mir sagte – in einem seiner Stücke oder Romane nicht von einem Stückchen Kreide oder dergl. Rede und Forderung sein können, ohne daß er es nicht schon früher unvermerkt und als hätte es nichts auf sich beigebracht oder angemeldet haben würde.


d.

Im »Egmont« sei die Partie des griechischen Chors unter die zwei Liebenden – unter Clärchen und Alba's Sohn – vertheilt: diese stellten denselben vor; das eigentliche Volk sei wie gewöhnlich ohne Theilnahme.


e.

Elisene, Prinzessin, die sich verheimlicht, und Christus, der sich nicht gleich als Gottes Sohn offenbart, war eine von den mehreren Legenden, die Goethe bearbeiten wollte, und von der er mir manchmal erzählte.


f.

Terenz. Die allerzarteste theatralische Urbanität, womit halbunsittliche Gegenstände behandelt sind, höchlich bewundert sowie auch den coupirten Dialog, der Größe des Theaters und der Entfernung der Zuschauer höchst angemessen; überhaupt die höchste Keuschheit, Nettigkeit und Klarheit der Behandlung.


g.

[188] Shakespeare. Aus einem Gespräch mit Goethe über Shakespeare notirte ich mir einmal Nachstehendes über die Tendenz des englischen Dichters und was er in folgenden Stücken zur Anschauung habe bringen wollen: im »Antonius«, daß Genuß und Herrschaft (der Welt) nicht beisammen sind; im »Coriolan« den Haß des Volkes gegen den Besten, den es doch nicht entbehren kann; im »Cäsar« den Haß der Besten (Optimaten) gegen den Vorzüglichen, damit sie alle gleich seien.

Diese Bemerkung steht jetzt mit etwas anderen Worten in [den Werken, im Aufsatz »Shakespeare und kein Ende«], ist übrigens aber ein Beweis, wie früh dergleichen Reflexionen schon in Goethe lagen, da er sie mir zwischen 1803-1806 mittheilte, und jene gedruckt zuerst in »Kunst und Altherthum«1 vorkommen.


h.

Zucchi (Gatte der Angelica Kauffmann). »Zucchi's Methode, seine Compositionen mit Effect und zugleich kunstgemäß darzustellen, war ein tertium zwischen beiden; so besonders in der Perspective.«


i.

Bruno (Jordanus). »Seine Schriften sind nicht zusammen zu haben, selbst nicht in Göttingen, weil er[189] sie einzeln auf seinen Reisen, in Städten, wo er hinkam, wie Programme drucken ließ. Er giebt unter andern auch Gemälde an, welche Künstler machen sollten, z. B. die Trinitas:

VernunftVerstandMacht

alsalsals

AusdenkenEinrichtungAusführung

ininin

der Pallas;Vulcan u. Mars;Jove.«


k.

Einandermal sagte Goethe: er hätte den Einfall gehabt, auf die Mineralogen, zu der Zeit, wo sie in allen Gegenden mit Hämmern herumgingen und an die Steine schlugen, ein Bild zeichnen zu lassen, wo ihrer zwei von entgegengesetzten Seiten an einen Felsen kämen und daran schlügen; der Felsen spränge, und nun erblickten sich die Herren staunend und grimassirend. – Er erzählte dies mit seinem gewöhnlichen humoristischen Tone und der kleinen Andeutung von Gest, die er in solchen Fällen sich erlaubte.


1 Irrig: 1815 im »Morgenblatt«.[190]


1675.*


Zwischen 1809 und 1816.


Mit Wilhelm Grimm

[In einem Vortrag, den er auf der bekannten Versammlung der Germanisten am 26. September 1846 zu Frankfurt am Main hielt, äußerte sich Wilhelm Grimm einmal über Goethes mundartlich gefärbte Aussprache: ]


»Goethe hat mit dem richtigen Gefühl, wie der Augenblick drängte, die ihm angeborene Mundart benutzt und mehr daraus in die Höhe gehoben als irgend ein anderer. Auch seine Aussprache, zumal in vertraulicher Rede, war noch danach gefärbt, und als sich jemand beklagte, daß man ihm den Anflug seiner südlichen Mundart in Norddeutschland zum Vorwurf gemacht habe, hörte ich ihn scherzhaft erwiedern: Man soll sich sein Recht nicht nehmen lassen; der Bär brummt nach der Höhle, in der er geboren ist.«[4]


1423.*


Zwischen 1805 und 1816.


Bei der Bühnenprobe zu Ifflands »Herbsttag«

Die Probe, welcher als unberufener Zuschauer beizuwohnen ich [Gotthardi] mir die Ehre gab, war die von Iffland's ›Herbsttag‹ ..... Kurz vor Goethes[190] Ankunft war von Genast, welcher in dem Stück den Andres zu spielen hatte, dafür gesorgt worden, daß die Scene geräumt und einstweilen alles für den ersten Auftritt vorbereitet war. Man hätte den Eifer und die Sorgfalt sehen sollen, womit der bewegliche Mann sich diesem Geschäft unterzog, und die Pünktlichkeit, womit ihm gehorcht wurde! Der Anfang ließ nicht lange auf sich warten. Die Leute, das hörte man sogleich, hatten ihre Rollen gut gelernt, oder vielmehr repetirt, und sprachen sie ebenso geläufig und sicher, als mit richtigem Verständniß, ja, sie nahmen sich, wollte mich bedünken, als ständen sie vor den Zuschauern ..... Goethe schenkte keinem und keiner etwas. Bald hatte er zu erinnern, daß die und die Stelle zu schnell, bald daß sie zu langsam recitirt werde; bald rückte der eine dem andern zu nahe auf den Leib, bald hielt er sich von ihm zu fern; bald erfolgte der Abgang dieses Schauspielers zu hastig, bald nicht rasch genug, und sie mußten sich ohne Complimente dazu verstehen, alles, was er zu tadeln fand, nach seinem Willen zu machen. Graff, der den Landhausbesitzer Selbert zu geben und eine sehr starke Stimme hatte, erhob diese an einigen Stellen kräftiger, als es der Charakter dieses über alle Gebühr weichherzigen, weinerlichen, in einem breiten Gefühlsmeer schwimmenden Iffland'schen Vaters vertragen konnte: so in der Scene des ersten Acts mit seiner Schwiegermutter. »Mäßigung! Mäßigung, lieber Graff!« rief[191] Goethe ihm mit lauter und doch sanft warnender Stimme zu: »Dieser Selbert muß als ein sehr leidenschaftsloser, ruhiger Mann gehalten werden.« – Derselbe Schauspieler hatte noch die Gewohnheit, den rechten Arm mit geballter Faust öfter auf den Schenkel fallen zu lassen; es bedurfte nur der kurzen Erinnerung Goethes, dieser Geste sich am unrechten Orte zu enthalten, um ihn für die Folge auf sich aufmerksamer zu machen. Die Beck als Frau Saaler, lebhaft, wie sie war, wurde an manchen Stellen zu laut, scharf aufschreiend, und bewegte – unter anderem in dem Auftritt des zweiten Aufzugs, wo sie sich über das Betragen des zurückgekehrten Fritz beschwert, – den Kopf zu unruhig hin und her. Goethe machte ihr dieses Zuvielthun bemerklich; sie kam sofort zur Erkenntniß und wußte sich von da an besser zu beherrschen; Mal kolmi's Licentiat Wanner, die behaglichste und amusanteste, jedoch angesuchten, unnatürlichen Übertreibungen des Humors leidende Rolle in dem ganz unerträglichen Thränenstück, verleitete ihn einigemal die Worte stärker und rauher hervorzustoßen, sie wie polternd zu prononciren, was ihm Goethe bei den vorkommenden Fällen gelassen verwies ..... Die Lortzing als Marie bekam bei einzelnen Stellen auch ihr Theil weg, worüber ich sie der larmoyanten Rolle wegen, die sie auf dem Halse hatte, ordentlich bedauerte; sie verfiel einpaarmal in eine gedehnte Sprechmanier, die in späteren Jahren, wo sie die Bühne wieder betrat, noch[192] hörbarer wurde, und Goethe unterließ nicht, diesen Fehler schonend zu rügen. Den meisten Spaß machte mir das launige Wort, das er an den allzulebhaften hitzigen Peter-Unzelmann richtete, und worüber, hätte ich mich nicht voller Geistesgegenwart auf die Zunge gebissen, ich gewiß in lautes, herzhaftes Gelächter ausgebrochen wäre, das Wort: »Gemach! gemach! Es geht ja nicht in die Schlacht mit dem Peter! Er soll ja keine Batterie stürmen! Warum denn so gar martialisch?« Es will nämlich dieser courageuse Peter dem ungetreuen Liebhaber seiner Schwester – einem Kerl, den ich ganz ruhig hätte laufen lassen – nach und ihn zurückbringen. Der Anfang der Schlußscene, wo die Landleute mit den Musikanten kommen, mußte zweimal probirt werden, ehe sie so glatt und rund ging, wie Goethe es haben wollte.[193]


1424.*


Zwischen 1805 und 1827 (?).


Über Christian August Vulpius

Er [Goethe] achtete die Menschen überhaupt nicht; im Grunde war ihm die Menge verhaßt. So sagte er einmal, als sein Schwager Vulpius heftig getadelt wurde, – was er überhaupt wunderlicherweise wegen der Verwandtschaft sehr ungern sah – nachdem er lange dazu geschwiegen: »Nun ja, Ihr habt recht! Der[193] Kerl ist eine Bestie, aber unter den hunderttausend Bestien, die sich Menschen nennen, ist die Bestie noch immer ein Mensch.«[194]


1425.*


Zwischen 1800 und 1818 (?).


Mit Frommanns


a.

Der Genuß am Lesen seiner Schriften reicht lange nicht an den seiner mündlichen Unterhaltung. Er war Meister im Erzählen; es ging aus Einem Gusse und die ausdrucksvollen Bewegungen der Hände und der Glanz der Augen erhöhten den Reiz seiner Rede. So ist mir [F. J. Frommann] unvergeßlich, wie er einmal die heitre Geschichte aus dem Feldzuge in der Champagne zum besten gab, ehe sie gedruckt war: wo er am Ende eines feindlichen Dorfes mit seinem Reitknecht einen noch ungeplünderten Keller entdeckt, sich im Hause niederläßt und unter seinem großen Reitermantel eine Batterie Weinflaschen anlegt, als die andern nachkommen, die Flasche kreisen läßt, immer eine frische aus dem Versteck hervorholt und sich an dem allgemeinen Erstaunen ergötzt, daß die vermeinte Eine Flasche nicht leer wird.

Ein anderes Mal entwickelte er die Fabel des Textes zum ›Don Juan‹ [von da Ponte] und zeigte, wie sie durch das katholische Dogma von den sieben Todsünden bedingt[194] sei, die der Held des Stücks vor den Augen der Zuschauer sämmtlich begehen müsse, damit ja kein Zweifel bleibe, daß er die Hölle vollauf verdient habe, in die ihn die Teufel schleppen. Dadurch ist auch das Gastmahl gegen Ende des Stücks gerechtfertigt; denn zu den katholischen Todsünden gehört ja la gola, die Schlemmerei.

Ein anderes Mal waren wir in Weimar gewesen und hatten die erste Aufführung des ›Bildes‹ von Houwald gesehen. Da ließ er sich die Fabel des Stücks erzählen und wußte mit der feinsten Ironie durch Fragen und Zwischenreden die Mängel hervorzuheben, z. B.: »Also, sie lieben sich über's Kreuz!«

Noch früher traf er einmal meine Mutter allein und brach noch in der Thüre, indem er die Arme ausbreitete, in die Worte aus: »Ach, wenn doch der gute T.« (ein damals auftauchender begabter Dichter, den auch er schätzte [Tieck?]) »nicht so breit wäre!«

In der Zeit nach 1815, als die vaterländische Begeisterung in politische Erregtheit überzugehen anfing, spielte auch ein Mann, dessen Stärke die Politik nicht war, und den Goethe ohnehin nicht liebte, eine gewisse Rolle und hatte großen Anhang unter der Jugend. Von dem äußerte Goethe: wenn der sich nun im Spiegel ansähe, müßte er doch zu sich selbst sagen: ›ei, du X, was bist du doch für ein großer Mann geworden!‹ [Fries?][195]


b.

So sagte er einmal, als sich jemand über eine Dummheit, die ein anderer gemacht oder ausgesprochen hatte, ereiferte, lächelnd: »Kinderchen, Ihr müßt lernen, mit Vergnügen irren sehen.« Das wollte nun den Zuhörern nicht in den Sinn, und als es ihm später meine Mutter einmal vorrückte, meinte er: »Habe ich das gesagt? Da bin ich sehr weise gewesen.«[196]


1426.*


1812 oder 1816 (?).


Mit Großherzog Carl August

Es handelte sich darum, einen Orientalisten nach Jena zu rufen. Neue Besetzungen pflegte Goethe vorsichtig zu bedenken, auch nie ohne abwägenden Bericht an den Großherzog und aufmerksames Vernehmen seiner Absichten bestimmte Schritte zu thun; hatte er sich aber einmal, auf solche Befugniß gestützt, entschieden, dann gab er nachträglichen Einmischungen von anderer Seite her keinen Zoll breit nach. So hatte er denn nach Rücksprache mit dem Fürsten bereits von Jena aus, wo er sich gerade befand, die Berufung eines Orientalisten eingeleitet, als Karl August auch nach Jena kam und in einem Gespräch mit dem Geheimen Hofrath Stark Eindrücke schöpfte, die ihm die Berufung eines andern mehr zu empfehlen schienen. Der Großherzog speiste hierauf im Schlosse mit Goethe[196] und einem Dritten. Nach Tische nahm er Goethen in ein Fenster und brachte die Unterhaltung leise auf die Berufungsfrage. Anfangs ging Goethe sehr diensam auf alles ein, indem er aber die Vorstellungen, die dem Großherzog mitgetheilt waren, hin durchmerkte, wurden seine Entgegnungen immer bestimmter und schärfer. Endlich sagte der Großherzog: »Du bist ein närrischer Kerl! Du kannst keinen Widerspruch vertragen.« – »Oja, mein Fürst!« antwortete Goethe, »aber er muß verständig sein.« – Karl August ging einmal das Zimmer entlang, dann trat er wieder an's Fenster zu Goethe und führte das Gespräch ruhig weiter.[197]


1427.*


Zwischen 1812 und 1816.


Bei der Bühnenprobe zu »Romeo und Julia«

Das Meisterwerk Shakespeare's war nach Schlegel's Übersetzung und nach Goethes Bearbeitung einstudirt worden und sollte nach längerer Pause jetzt wieder vorgeführt werden. Genast hatte heute alle Hände voll zu thun, da er außer den anstrengenden Regisseurgeschäften dieses Nachmittags auch noch mit der Rolle des Montague sich betraut sah, während ihm Malkolmi als sein Feind Capulet gegenüberstand. – Vielerlei Kürzungen und Zusammenziehungen – das läßt sich nicht in Abrede stellen – sogar einige Gewaltthätigkeiten hatte sich das Stück gefallen lassen müssen ....[197] Goethe hatte sich eingestellt und in der Herrschaftsloge niedergelassen; das Signal zum Beginnen ward gegeben.

– – – – – – – – – – – – – – – – –

Es war imganzen nur wenig, was Goethe an den Leistungen der Künstler auszusetzen fand. Der Amme empfahl er: »die Hände weniger unruhig zu gebrauchen und eine weniger lächelnde Miene anzunehmen.« Graff's Bruders Lorenzo mitunter zu hohe Armbewegung wußte er durch seine Erinnerung auf das richtige Maß zurückzuführen. Eine ganz besondere Sorgfalt wendete er der Ballscene im ersten Act zu, die nur erst nach längerer Vorbereitung und Durchübung die gewünschte Gestaltung annahm. Auch auf das Einzelne und Einzelste richtete er seinen scharfen Blick: so durften nicht zu viele der Gäste in dieser Scene aufeinmal aus demselben Eingang eintreten und nicht zu rasch aufeinander folgen; er duldete nicht, daß die Masken sich zu weit nach vorn bewegten und zu gedrängt nebeneinander standen und gingen. Keiner der handelnden Personen erlaubte er, zu nahe an das Proscenium heranzutreten. Die Fechtscene zwischen Mercutio und Tybalt (Deny) ließ Goethe noch einmal in verlängertem Zeitmaße vor sich gehen; denn er theilte mit Wilhelm und Laertes im ›Meister‹ die Ansicht, daß man in solchen Scenen nicht, ›wie es auf Theatern wohl zu geschehen pflegt, nur ungeschickt hin und wider stoßen dürfe‹.[198]


1428.*


Zwischen 1812 und 1832.


Mit Friedrich von Müller


a.

Die Fähigkeit, vom Besondern schnell zum Allgemeinen aufzusteigen, das scheinbar Getrennte zu verknüpfen und für jede abweichende Erscheinung die befriedigende Formel der Gesetzmäßigkeit aufzufinden, hat nicht leicht ein Sterblicher in höherem Grade besessen [als Goethe]. Daher denn auch bei jedem Naturstudium ihm leicht und ungezwungen ein Apperçu entgegenkam – oder, wie er es ausdrückte: das Gewahrwerden einer großen Maxime eintrat, die ihr Licht urplötzlich über seine Forschungen ausgoß.

»Ich lasse« – hörte ich ihn einst sagen – »die Gegenstände ruhig auf mich einwirken, beobachte dann diese Wirkung und bemühe mich, sie treu und unverfälscht wiederzugeben; dies ist das ganze Geheimniß, was man Genialität zu nennen beliebt.«


b.

Gerade die tiefe Bedeutung, die er in jeder politischen Erscheinung wahrnahm, der hohe Ernst, mit welchem er von Regierenden und Regierten ein verständiges, wohlwollendes Auffassen und Üben ihrer Rechte und Pflichten forderte, von jedem frechen, verwirrten, haltungslosen Treiben sich abwandte, gerade diese edelste[199] politische Sinnesweise war es, die ihm ein nichtiges Radotiren oder leidenschaftliches Partheistreben so widerwärtig, so verhaßt machte. Davon Notiz nehmen zu müssen, konnte ihn zuweilen wahrhaft unglücklich machen, und das Wichtige, Große, Folgenreiche frivol und leichtsinnig behandelt zu sehen, fast zur Verzweiflung bringen ..... »Ihr Jüngern« – pflegte er zu sagen – »stellt Euch wohl leicht wieder her, wenn irgend eine tragische Explosion Euch momentan verwundet, wir allen Herrn aber haben alle Ursache uns vor Eindrücken zu hüten, die übermächtig auf uns einwirken und eine folgerechte Thätigkeit nur nutzlos unterbrechen.«


c.

»Es giebt nur zwei Wege« – hörte ich ihn oftmals behaupten – »ein bedeutendes Ziel zu erreichen und Großes zu leisten: Gewalt und Folge. Jene wird leicht verhaßt, reizt zu Gegenwirkung auf und ist überhaupt nur wenigen Begünstigten verliehen; Folge aber, beharrliche, strenge, kann auch vom Kleinsten angewendet werden und wird selten ihr Ziel verfehlen, da ihre stille Macht im Laufe der Zeit unaufhaltsam wächst. Wo ich nun nicht mit Folge wirken, fortgesetzt Einfluß üben kann, ist es gerathener gar nicht wirken zu wollen, indem man außerdem nur den natürlichen Entwickelungsgang der Dinge, der in sich selbst Heilmittel mit sich führt, stört, ohne für die bessere Richtung Gewähr leisten zu können.«


d.

[200] Dem Gegenstande, der ihn beschäftigte, gehörte er jedesmal ganz an, identificirte sich mit ihm nach allen Seiten und wußte, während er irgend eine wichtige Aufgabe sich gesetzt, alles seinem Ideengang Fremdartige standhaft abzulehnen. »In den hundert Dingen, die mich interessiren,« – äußerte er – »constituirt sich immer eins in der Mitte als Hauptplanet und das übrige Quodlibet meines Lebens treibt sich indessen in vielseitiger Mondgestalt umher, bis es einem und dem andern auch gelingt, gleichfalls in die Mitte zu rücken.«


e.

Indem er stets das Geschehene, Einzelne sofort an einen höhern, allgemeinen Gesichtspunkt knüpfte, in irgend eine erschöpfende Formel aufzulösen suchte, streifte er ihm das Befremdliche oder persönlich Verletzende ab und vermochte nun, es in der Form naturmäßiger Gesetzlichkeit ruhig zu betrachten, ja, als ein Geschichtliches, gleichsam nur zur Erweiterung seiner Begriffe Erscheinendes, zu neutralisiren. Wie oft hörte ich ihn äußern: »Das mag nun werden wie es will, den Begriff davon habe ich weg; es ist ein wunderlicher, complicirter Zustand, aber er ist mir nun doch völlig klar.«


f.

»Von allen Geistern, die ich jemals angelockt, .... fühl' ich mich rings umsessen, ja umlagert.«[201]


1429.*


1813 oder 1829.


Mit Friedrich Rochlitz


a.

[Bei Erwähnung von Goethes Streben, fremden Einfluß auf seine Ansichten abzuwehren, bemerkt Rochlitz:]


Auch der Referent hat dies nicht selten von ihm gehört: »Die Sache! die Sache! wie ist die?«


b.

Der Referent fand ihn einmal umgeben von einer Folge anderer Naturgegenstände, die er geordnet hatte, um der letztverstorbenen Frau Großherzogin [Luise], deren Besuch er erwartete, den leisen verborgneren Übergang der Natur von dem einen zu dem andern, und besonders auch anschaulich zu machen, wie die alma mater in dem einen nicht nur andeute, was das zweite erst empfangen solle, sondern zuweilen es dort gewissermaßen halb und halb schon vorausnehme. Über letzteres, wo er glaubte es nachweisen zu können, verbreitete er sich mit besonderem Vergnügen und mit mancher höchst unerwarteten, bald heiteren und leichten, bald sanft feierlichen und weit hinausdeutenden Wendung. So begann er in letzter Weise einmal, indem er zwei solche Gegenstände in den Händen hielt: »Was meinen Sie: könnte nicht St. Paulus, diese tiefe Seele, dergleichen im Sinne gehabt haben, wo[202] er des ›ängstlichen Harrens der Creatur‹ gedenkt und wie sie ›sich sehnet immerdar‹?« [An die Römer, 8, 22.]


c.

Sehr gegründet ist hierbei die Bemerkung [in Müller's ›Goethes letzte literarische Thätigkeit etc.‹], daß Goethen in der Geschichte nicht sowohl die Ereignisse interessirt hätten, als vielmehr die Charaktere, wie sie sich in der Zeit entwickelten. Er meinte: nur in diesen wäre innere Wahrheit, nicht in jenen, und am wenigsten in den für dieselben aufgestellten Ursachen. Referent hat ihn oft bei sogenannten pragmatisch-historischen Darstellungen aus alter und neuer Zeit nach seiner halb ernst- halb scherzhaften Weise einmal über das andere in jener Hinsicht einschalten hören: »Meint der Mann!« In solcher Beziehung nannte er die ganze Geschichte – die geschriebene – »einen großen Euphemismus« und fand die der letzten Jahre nur von massenhaftem, aber durchaus unerquicklichem Interesse.[203]


1430.*


Zwischen 1817 und 1832.


Über Jesus

So sei er auch einmal, erzählte sie [Ottilie v. Goethe], auf die Herrlichkeit Christi zu reden gekommen[203] und habe sie immer ernster, immer feuriger, mit immer wachsender Rührung gepriesen, bis er in einen Thränenstrom ausbrechend hinausgegangen sei.[204]


1568.*


Zwischen 1818 und 1831.


Mit Friedrich Theodor Kräuter

His last secretary, Kräuter, who never speaks of him but with idolatry, describes his activity even at this advanced age as something prodigious. It was moreover systematic. A certain time of the day was devoted to his correspondence; then came the arrangement of his papers, or the completion of works long commenced. One fine spring morning, Kräuter tells me [Lewes] Goethe said to him: ›Come, we will cease dictation, it is a pity such fine weather should not be enjoyed; let us go into the Park and do a bit of work there.‹[117]


1431.*


Zwischen 1819 und 1832.


Über ein Gedicht an Goethe

Zu Goethes Geburtstagsfeier wurden ihm gewöhnlich von den weimarischen Poeten viele Gedichte, natürlich voll Lobeserhebungen, überreicht. Unter diesen war einmal eins, in welchem er ziemlich unumwunden mit dem lieben Gott verglichen und ihm dieselbe Schöpfungskraft angewiesen wurde. Da sagte der alte Dichterfürst:... »Die andern werfen mir doch nur Bonbons an den Kopf, der Y. nimmt gleich die ganze Zuckerdüte.«[204]


1432.*


Zwischen 1822 und 1832.


Mit Friedrich Soret


a.

Il avait une antipathie prononcée pour des récits qui se rapportaient aux évènemens du jour ou aux personnes encore existantes. »Il faut se placer à une certaine distance des objets pour les bien juger,« disait-il, »et pour apprécier les rapports qui les lient.[204] En parler lorsqu'on les touche, c'est courir le risque d'en parler en aveugle, car on est hors d'état de mesurer leurs véritables proportions. Je laisse ces choses à ceux qui viendront après moi.«


b.

Un.. jour il était question de la mode régnante dans la société qui l'entourait: plus de réunions pour le simple plaisir de converser, ou pour rapprocher les jeunes gens par des amusemens convenables à leur âge; beaucoup de bals, il est vrai, mais hors de là d'éternelles assemblées, où la beauté, dans toute sa fraîcheur, discute avec le jeune homme presqu'imberbe les savantes règles du whist ou du boston. Goethe avait ce genre de plaisir presque en horreur, mais prenant tout d'un coup sa défense contre nous, il s'écria: »Respectez leurs jeux! c'est un ordre de convention qui s'établit sur les ruines de l'ordre public. Maintenant qu'on s'amuse à renverser les trônes, il est bien juste de manifester l'amour naturel qu'on a pour la soumission, en acceptant les fers du roi de carreau.«


c.

»La nature« – disait-il... en parlant des erreurs des théoriciens – »est semblable à une coquette toujours fraîche et jolie: elle vous fait de continuelles agaceries, nous encourage par ses avances;[205] mais au moment où nous croyons être sûrs de la posséder, elle se dégage de nos bras et n'y laisse qu'une ombre.«[206]


1433.*


Zwischen 1825 und 1832.


Mit Karl Vogel


a.

Die Schwäche, welche nichts abzuschlagen vermag und Verlegenheit auf der einen, Verdruß und Mißtrauen auf der andern Seite in ihrem Gefolge hat, kannte er nicht. »Ich halte es doch länger aus,« meinte er, »die Leute anzuhören, als sie, mich zu drängen. Merken sie nur erst, daß sie einem auf solche Weise etwas abzwingen können, so ist man ewig belagert.« Er bewilligte stets auf der Stelle was ihm billig schien und versagte in gleicher Weise, beides immer in den, der Sachlage nach möglichst angenehmen Formen. Doch hinderte ihn die Rücksicht auf Höflichkeit niemals, besonders auch persönlich sehr entschieden seine einmal ausgesprochene Ansicht geltend zu machen, und er vermochte im letztern Falle eine Haltung anzunehmen, welche, freundlich imponirend, einen Gedanken an Widerrede und Entgegnung nicht leicht aufkeimen ließ.


b.

»Je älter man wird, desto mehr muß man sich beschränken, wenn man thätig zu sein begehrt. Nimmt[206] man sich nicht inacht, so geht man bei so vielen fremden Anforderungen vor lauter Theilnahme und Urtheilsprechen mit geistigen und leiblichen Kräften in nichtigen Rauch auf.«


c.

»Weil jedes Geschäft seinen eignen Rath mit sich bringt, so ist es Pflicht, auch im Gange desselben es noch einmal von vorn durchzudenken und zu überlegen, ob nicht Umstände eingetreten, welche räthlich machen, daß man den ersten Plan einigermaßen abändere, um zu seinem Zweck auf eine neue, erprobtere Weise zu gelangen.«


d.

Überall, wo es irgend nöthig, nahm Goethe persönlichen Antheil an der Ausführung beschlossener Einrichtungen und Veränderungen, »um unauflösliche Zweifel der Untergebenen durch Entschluß und That auf der Stelle zu beseitigen.«


e.

»In keinem Geschäft ist man vor allen Mißverständnissen und Mißgriffen sicher; man kann sich nicht schnell genug darüber hinausheben.«[207]


1434.*


Zwischen 1825 und 1832.


Mit Karl Vogel


a.

[Bemerkenswerth war] das ganz eigene resignirte Wesen, welches bei Goethe während der letzten Jahre seines Lebens in allen Krankheiten an die Stelle eines in ähnlichen Fällen früher gewöhnlichen aufbrausenden Unmuthes getreten war, und sich häufig in den Worten aussprach: »Wenn man kein Recht mehr hat zu leben, so muß man sich gefallen lassen, wie man lebt.«


b.

Es wurde Goethen, der, von seiner frühen Jugend abgesehen, vielleicht jederzeit zur Bedächtigkeit und Umständlichkeit neigte, im höhern Alter ungemein schwer, Entschlüsse zu fassen. Er selbst war der Meinung, diese Eigenthümlichkeit, welche er geradezu als Schwäche ansprach, rühre daher, daß er niemals in seinem Leben rasch zu handeln genöthigt gewesen sei, und er pries den Stand eines praktischen Arztes gelegentlich auch deshalb, weil dem Arzte nie erlaubt sei, seine Resolutionen zu vertagen. Auf der andern Seite übertraf ihn aber wohl nicht leicht jemand an Beharrlichkeit und selbst Kühnheit im Ausführen des einmal Beschlossenen, wobei er als Geschäftsmann die päpstliche[208] Commissorialformel ›non obstantibus quibuscunque‹ gern im Munde führte und vorkommenden Falles darnach zu verfahren liebte. Waren schnelle Entschließungen nicht zu umgehen, häuften sich gar die Veranlassungen dazu in kurzer Zeit zusammen, so machte ihn das leicht grämlich. Dies war besonders der Fall, als er nach dem Ableben seines einzigen Sohnes die längst entwohnte Verwaltung seiner weitläuftigen Privatangelegenheiten von neuem übernehmen mußte. Arbeiten gingen ihm nicht mehr recht geläufig von der Hand. Er klagte in spätern Jahren nicht selten, daß er sich selbst zu solchen Geschäften, die ihm ehemals ein Spiel gewesen, jetzt häufig zwingen müsse. Nur der Sommer 1831 machte hierin eine Ausnahme, und Goethe Versicherte damals oft: er habe sich zur Geistesthätigkeit, zumal in productiver Hinsicht, seit dreißig Jahren nicht so aufgelegt gefunden. – Rühmte Goethe seine Productivität, so machte mich das stets besorgt, weil die vermehrte Productivität seines Geistes gewöhnlich mit einer krankhaften Affection seiner productiven Organe endigte. Dies war so sehr in der Ordnung, daß mich schon im Anfange meiner Bekanntschaft mit Goethe dessen Sohn darauf aufmerksam machte, wie, soweit seine Erinnerung reiche, sein Vater nach längerem geistigen Produciren noch jedesmal eine bedeutende Krankheit davongetragen habe.

Goethes Phantasie blieb bis zum letzten Moment empfänglich und wirksam. Das Schöne und Heitere[209] machte sein, das ganze Leben hindurch mit unablässigem Streben entwickeltes eigenstes Element aus; ihn verstimmte alles Häßliche und Düstere. »Es verdirbt mir die Phantasie auf lange Zeit,« pflegte er bei Ablehnung solcher Gegenstände entschuldigend zu äußern.


c.

Krankheit hielt Goethe für das größte irdische Übel. Kranke durften auf sein thätiges Mitleiden vorzugsweise mit Sicherheit rechnen. Vor dem Tode hatte er eigentlich keine Furcht, wohl aber vor einem qualvollen Sterben. Das Leben liebte er – und schmückte es sich nicht für ihn mit allen seinen Reizen?

Schmerzen waren ihm unter allen körperlichen Leiden am peinlichsten; nächst ihnen afficirten ihn am mächtigsten entstellende Übel. Im Preisen der Schmerzlosigkeit wetteiferte er mit Epikur, und häufig rühmte er als ein gewiß von vielen beneidetes Glück, daß er niemals an Zahn- oder Kopfweh gelitten habe. Seine Zähne hatten sich bis in das höchste Alter in gutem Zustande erhalten.


d.

Licht und Wärme waren für ihn die unentbehrlichsten Lebensreize; bei hohem Barometerstande befand er sich am wohlsten. Den Winter detestirte er und behauptete oft scherzend: man würde sich im Spätsommer[210] aufhängen, wenn man sich da von der Abscheulichkeit des Winters eine rechte Vorstellung zu machen im Stande wäre.


e.

Über seine Gesundheitszustände sprach sich Goethe gegen andere, als den Arzt, nicht gern aus. Eine specielle Nachfrage nach seinem Befinden, aus bloßer Theilnahme konnte ihn, vornehmlich wenn er sich wirklich in dem Augenblick nicht ganz wohl fühlte, leicht verdrüßlich machen. Oft äußerte er launig: es sei geradezu unverschämt, einen Menschen zu fragen, wie er sich befinde, wenn man weder die Macht noch die Lust habe, ihm zu helfen. Noch unerträglicher waren ihm die gewöhnlichen Beileidsbezeigungen, zumal wenn sie umständlich und jammerhaltig ausfielen. »An eigner Angst und Sorge hat man in solchen Fällen schon genug, dazu aber noch die Wehklage zu dulden, ist mir wenigstens ganz unmöglich« – fuhr er dann wohl heraus, sobald die ihn belästigende Person nicht mehr zugegen war.

Die Heilkunst und ihre ächten Jünger schätzte Goethe ungemein hoch. Er liebte es, medicinische Themata zum Gegenstand seiner Unterhaltung zu wählen. In seinen Tagebüchern findet man den Inhalt ihn besonders interessirender medicinischer Unterredungen, die ich mit ihm hatte, nicht selten angemerkt.

Er war ein sehr dankbarer und folgsamer Kranker.[211] Gern ließ er sich in seinen Krankheiten den physiologischen Zusammenhang der Symptome und den Heilplan auseinandersetzen. Dies war auch bei seinen bedeutenden Einsichten in die Gesetze der Organisation weder besonders schwierig, noch übte es auf die Cur einen hemmenden Einfluß. Die Prognose eigner Übel ließ er unberührt, weil ihm einleuchtete, daß Aufrichtigkeit in diesem Punkte vom Arzte nicht immer füglich gewährt werden könne und dürfe. Consultationen mehrerer Ärzte betrachtete er mit mißtrauischen Blicken und dachte darüber ungefähr wie Molière.

Die Gabe, seine Empfindungen dem Arzte zu beschreiben, hat wohl nicht leicht ein Kranker in höherem Grade besessen, als Goethe. Nur hinsichtlich eines einzigen Zustandes kam hierin eine beständige Ausnahme vor. War nämlich die Gabe irgend eines sogenannten Reizmittels etwas zu stark gegriffen worden, – wie das im Anfange meiner Bekanntschaft mit ihm, ehe ich mich von seiner ganz ungewöhnlichen Empfänglichkeit überzeugt hatte, einigemal geschah – so pflegte er die dadurch erregte Empfindung mit den Worten zu bezeichnen: »Es ist ein Stillstand in meinen Functionen eingetreten.« Er vermochte niemals diesen Zustand deutlicher mitzutheilen.

Imbegriff zu schließen, wüßte ich dem Vorwurf des Ungenügenden der vorstehenden Andeutungen nicht angemessener zu begegnen, als mit eignen Worten dessen, den ich von einer noch weniger bekannten Seite hier[212] zu schildern versuchte: »Alles Bestreben, einen Gegenstand zu fassen, verwirrt sich in der Entfernung vom Gegenstande und macht, wenn man zur Klarheit vorzudringen sucht, die Unzulänglichkeit der Erinnerungen fühlbar.«[213]


1435.*


Zwischen 1825 und 1832.


Mit den russischen Grafen S.

Ich kann nicht sagen, daß ich in der Stimmung war, einem großen Manne meine Huldigung zu bringen, als ich wenige Stunden nach meiner Ankunft in Weimar unsere Karten im Hause des Geheimrath v. Goethe abgeben ließ. Von Natur ernst und – ich sage es unbefangen – nicht ohne angeborenen Stolz hielt ich es stets für eine Art Erniedrigung, Männern, welche weder unsere Herren, noch unsere Wohlthäter sind, eine Ehrfurcht zu erweisen, welche sich bloß auf ihre Talente oder allgemeinen Verdienste bezieht. Ebensowenig möchte ich solche Huldigung empfangen, wenn ich durch etwas anderes ausgezeichnet wäre, als meine äußeren Verhältnisse, welche die Gaben zufälligen Glückes sind, und zwar nicht minder, als alle große Talente und Naturgaben. Zudem haben mir Goethes Werke nie ein, der Verehrung ähnliches Gefühl eingeflößt. Seine kernhaften Gedanken, seine muntere Laune, sein tiefer Blick in die menschliche Natur haben oft einen lauten, beifälligen[213] Zuruf in meiner Brust erweckt, aber dieser Beifall hatte wenig Schmeichelhaftes für die Menschheit, und mein Wohlgefallen erstreckte sich nur auf wenige seiner Werke. Die meisten übrigen, besonders die so berufenen ›Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre‹ waren mir immer höchst zuwider. Goethe ist bewunderswürdig, wo er sich concentrirt in Sprache und Auffassung seines Gegenstandes, wie im ›Faust‹ zwar erinnert er da stark an Shakespeare's unnachahmliches Vorbild, aber es bleibt uns dennoch eine große Eigenthümlichkeit übrig, welche seine Erscheinung weltbedeutend macht. Breitet er sich aber aus und fängt er an zu zergliedern, auszumalen und zu umrahmen, da ward mir seine weitschweifig kalte Behaglichkeit, womit er sich selbst anhört, sein unredliches Gespinnst von unbedeutenden Gedankenfasern, seine Goldschlägerarbeit von nachgeahmten und nachgefühlten Empfindungen in hohem Grabe widerlich. Zwar hörte ich die Deutschen gerade diese Gegenstände meines Mißfallens häufig mit hyperbolischen Redensarten anrühmen, allein ich habe die nationale Empfindelei der Deutschen zu genau kennen gelernt, um mich durch ihren Widerspruch verleiten zu lassen. Kein anderes Volk der Welt vermöchte dieses geistreiche und empfindsame Gefasel seiner Dichter zu genießen, und der triftigste Beweis davon ist, daß es wirklich in keine fremde Sprache übersetzt worden .... Bei diesen Ansichten von Goethes Schriften war ich natürlich, obgleich ich diesen großen[214] Geist hochachte, weit entfernt von dem Enthusiasmus und der Bewunderung, womit, wie ich oft Gelegenheit hatte wahrzunehmen, eine eigene Secte von exaltirten Verehrern dieser Nationalgottheit sich bemerkbar machte. Man hieß sie spottweise Goethekoraxe, und ich hatte die Ehre, von den Häuptern dieser literarischen Partei an Goethe dringend empfohlen zu werden. Sie schienen es ernstlich darauf abgesehen zu haben, aus mir Ungläubigem einen Proselyten zu machen, allein zur Zeit war es ihnen noch so wenig gelungen, daß ich nicht sehr verdrüßlich geworden wäre, wenn Goethe meinen Besuch auf irgend eine höfliche Weise abgelehnt hätte. Meine üble Laune war um so vollkommener, da die deutschen Notabilitäten jeder Art selbst von den Fremden, und zwar ganz besonders von diesen, die Beobachtung eines Ceremoniells verlangen, das mir sehr beschwerlich fiel, da ich mich nicht gern aus meinen bequemen Reisekleidern herausbegab. Mein froher Bruder wurde damit leichter fertig, und als uns endlich die Einladung zu Goethe geworden war, parfumirte und frisirte er sich so sorgfältig, als gälte es, einer schönen Frau einen Morgenbesuch zu machen. Nicht ohne Besorgniß, daß uns die Munterkeit Alexei's Unannehmlichkeiten zuziehen könnte, aber in etwas beruhigt durch seine erprobte Erfahrenheit im guten Ton, fuhr ich mit ihm nach der Villa Goethes. Es begleitete uns dahin der Geheimrath B., der mit Goethe in vertrauten Beziehungen stand und, wie es schien, im freundschaftlichen[215] Auftrage des letzteren den Vermittler zwischen der bewundernden Neugierde der Fremden und der Person des Dichters, der so glücklich ist durch seine Stellung im Staate und in der Gesellschaft gleich ausgezeichnet zu sein, abgab ..... Der Empfang unseres ersten Besuchs war sehr förmlich und steif; die Gravität der sächsischen Dienerschaft und der abgemessene Ernst unsers Wirthes selbst ergötzten meines Bruders heitere Laune nicht wenig. Goethes Persönlichkeit ist bekannt; denn seine Bewunderer haben sie so vollkommen beschrieben, daß keinem Fremden darüber etwas zu sagen übrig bleibt. Er galt mit Recht für einen sehr wohlgemachten Mann mit ausdrucksvoller Physiognomie, was aber seine Manieren betrifft, so fand ich sie erst deutsch und weit entfernt von dem feineren liebenswürdigen Hofton, der in meinem Vaterlande in den höchsten Cirkeln herrscht .....

Alexei fand Goethes Stolz für tiefbegründet in seinem ganzen Wesen, was ich, bei tieferer Kenntniß seiner Schriften, bestritt. Ich fand einen ebenso großen Widerspruch in seinem äußerlichen Hochmuth, als in dem Grade der Auszeichnung, die er bei unserm Empfange dem Range russischer Edelherren erwies. Dieser Mensch, dachte ich, kann weder sich selbst so hochachten, daß dadurch sein Stolz gerechtfertigt würde, noch eine solche Verehrung für uns empfinden, deren Rang ohne offenkundiges Verdienst ist. Die Folge zeigte, daß ich Goethe in seinem wahren Charakter erkannte.

[216] So nichtssagend und unbedeutend unsere erste Unterhaltung war, so merkwürdig und unvergeßlich war die Unterredung, welche ich bei meinem Abschiedsbesuch hatte. Den Abend vorher sah er bei sich große Gesellschaft, offenbar nur, um seinen einheimischen Verehrern so seltene Vögel sehen zu lassen, als ein Paar Russen aus der Krim, die seine Schriften gelesen und verstanden hatten. Während wir, besonders mein lustiger Bruder Alexei, ihn in das Verhältniß einer merkwürdigen Reisecuriosität setzten, machte er uns mit großer Gewandtheit selbst zum Gegenstande der Neugierde: wir wurden von allen Seiten mit den sonderbarsten Fragen über Sitten und Gebräuche unseres Vaterlandes bestürmt und hatten kaum Athem genug, sie zu beantworten. Die russische ›Despotie‹ ward mit aller Feinheit in Anregung gebracht und alle die kunterbunten Begriffe von unserer Leibeigenschaft und dergleichen ausgekramt. Ich fand in dem gebildeten Kreise zwar sehr Unterrichtete, – und Goethe selbst war es in hohem Grade – allein der Gesichtspunct, unter dem man die Dinge betrachtete, war ein falscher, daher kam es, daß sich zwischen mir und der Gesellschaft ein höflicher Streit entspann, worin ich – mißverstanden von den Fremdlingen – durch mein energisches Nationalgefühl als Vorfechter der verhaßten Leibeigenschaft figurirte, weil ich den patriarchalischen Charakter des russischen Volkslebens zum Verständniß zu bringen mich bemühte.

[217] Goethe verhielt sich dabei ziemlich neutral, war aber sichtbar durch unsere Unterhaltung erlustigt und schien sich an unserer Verlegenheit zu weiden. Um mich für diesen Kunstgriff an ihm zu rächen, brachte ich durch eine gewaltsame Wendung das Gespräch auf seine Schriften. Ich fragte ihn geradezu über die kitzlichsten Materien mit einer Unbefangenheit, die mir sogleich über die ganze Gesellschaft ein Übergewicht gab. Ich brachte Fragen in Anregung, über welche sich die gelehrten Herren in Deutschland oft wacker gestritten hatten, ohne daß der hohe Meister sich herabgelassen hätte, ihnen aus dem Traum zu helfen. Mein Bruder unterstützte mich hierin in seiner lebhaften, muthwilligen Manier, die, indem sie beleidigte, zugleich versöhnte durch ihre Bonhommie. Wie der ›Westöstliche Diwan‹ zu verstehen sei, was der ›Faust‹ bedeute, welcher philosophische Gedanke seinen Schriften zu Grunde liege – alles dies wurde so offen und rückhaltslos verhandelt, als ob Goethe hundert Meilen von uns entfernt gewesen wäre. Indessen ließ er sich durch diese Indiscretion nicht außer Fassung bringen; denn sie war ihm, wie ich später hörte, keineswegs neu. Er begnügte sich, lächelnd einige Phrasen mit zweideutigem Sinn zu antworten, und überließ das Wort einem anwesenden Professor aus Leipzig oder Jena, dessen Namen ich vergessen habe. Dieser Mensch hatte es sich zum Hauptgeschäfte seines Lebens gemacht, Goethes Schriften zu interpretiren, und machte nun[218] die umfassendsten Anstalten zu Beantwortung unserer Fragen. Er bewerkstelligte dies mit einem solchen Aufwand unverständlicher Floskeln, philosophischer Kunstausdrücke und gelehrter Gemeinplätze, daß jeder andere Fremde dadurch consternirt werden müßte. Es schien mir nicht unwahrscheinlich, daß Goethe, welcher diesen unleidlichen Schwätzer mit dem beifälligsten Lächeln aufmunterte, sich dessen bediente, um zudringliche Frager abzufertigen, ohne sich selbst auszusetzen. In der That war das Werkzeug zu diesem Zwecke trefflich gewählt; denn es war ebenso schwer, bei dem Geschnarre dieser Disputirmaschine zu Worte zu kommen, als ihr entsprechenderweise zu antworten, wenn man nicht die schwere Menge von Büchern und Journalen gelesen hatte, deren Geist in dem Doctor wohnte. Da ich nichts von seinem Gewäsch verstand, so bat ich ihn mit der Miene der Erbauung, mir den Sinn seiner langen Rede in französischer Sprache auszudrücken, da ich nicht so glücklich sei, mit der neuen Bereicherung der deutschen Sprache durch Tausende corrupter Worte aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen, namentlich mit den terminis technicis der Berliner Philosophie allzuinnig vertraut zu sein, allein der gelehrte Commentator und Panegyriker von Profession erklärte mir rund: man könne in seiner andern Sprache als der deutschen über den großen Meister raisonniren. Während ich mich über diese Behauptung mit allem Anstand moquirte, hatte Goethe das Zimmer verlassen,[219] allein ich bin überzeugt, daß er aus einem Seitengemach den Schluß meiner Unterredung mit dem Doctor belauscht hat. Ich beendigte den Streit mit der Erklärung, daß es unmöglich sei sich zu verständigen, wenn die streitenden Partheien von so ganz entgegengesetzten Ansichten ausgingen; denn so überzeugt der gelehrte Herr Professor sei, daß fremde Nationen Goethes Genie und philosophisch-moralischen Einfluß auf sein Zeitalter gar nicht beurtheilen können, so geneigt sei ich mit Lord Byron und seinen Landsleuten zu glauben, daß Goethe von keiner Nation in der Welt so vollkommen mißverstanden worden sei, als von der deutschen.

Kaum hatte ich in Demuth diese kühne Behauptung ausgesprochen, als Goethe mit unbefangener, aber ernster Miene eintrat und die Gesellschaft einlud, sich in ein anderes Zimmer zum Souper zu begeben. Sein Betragen gegen mich schien einige Gereiztheit über das üble Compliment, das ich dem deutschen Volke gemacht, auszudrücken, doch sandte er mir, wie verstohlen, zuweilen Blicke zu, die mir keinen Groll merken ließen; demungeachtet wollte die Unterhaltung nicht mehr ungezwungen werden und ich entfernte mich in der Meinung, daß ich die Gesellschaft und insbesondere den Wirth und beider Nationalgefühl beleidigt hätte. Allein ich wurde bald enttäuscht, und wie ich später Gelegenheit hatte, viele einzelne aus der Gesellschaft zu sprechen, fand ich zu meinem großen Erstaunen, daß eine Äußerung[220] von der Art, wie sie mir in Rußland, Frankreich, England nicht viel geringer, als eine tödtliche Beleidigung angerechnet worden wäre, vielleicht dem anmaßenden Professor allein unangenehm gewesen sei. Alle übrigen versicherten mich, daß leider in meiner Behauptung Wahrheit läge, nur machte ein jeder zu eigenen Gunsten eine Ausnahme. Ich muß jedoch gestehen, daß ich es lieber gesehen hätte, wenn sie selbst ihre nationalen Irrthümer gegen den Fremden vertheidigt hätten.

Den nächstfolgenden Morgen erhielt ich von Goethes Hand ein, mit meinem Tauf- und Familiennamen adressirtes Billet, worin er mich in sehr verbindlichen Ausdrücken zu einer Spazierfahrt einlud. Obwohl durch diese unerwartete Höflichkeit überrascht, nahm ich doch die Einladung an und befand mich eine Stunde später mit dem großen Manne allein in einer Chaise. Es war ein herrlicher Morgen und der rüstige Greis zeigte sich von der belebenden Lenzluft jugendlich erfrischt. Sein Gesicht war von ungewöhnlicher Heiterkeit überstrahlt und sein Auge glänzte von der innern Lebendigkeit, die bei seinem hohen Alter nur von seiner mannhaften Gelassenheit gemäßigt wurde. Als er mich begrüßte, sagte er mit vertraulicher Galanterie zu mir: »Herr Graf! Sie haben gestern mit vieler Nachlässigkeit einige Kostbarkeiten fallen lassen, womit wir Deutsche besser hauszuhalten pflegen, und die mich auf die nähere Bekanntschaft eines so reichen Mannes sehr begierig[221] machten.« Und auf welchen Reichthum meinerseits bezieht sich Ihr Interesse, Herr Geheimrath? fragte ich dagegen. »Auf den Ihrer Ideen,« erwiederte er. Ich dankte mit einer Verbeugung für das Compliment, das mir nicht hinlänglich motivirt schien. »Ohne Schmeichelei, Herr Graf!« fuhr er fort, indem er dem Ausdruck meiner Gedanken zuvorkam; »ich habe oft Gelegenheit zwischen den Beifallsbezeigungen alltäglicher Menschen und der allein ehrenden Anerkennung denkender Menschen zu unterscheiden, daß Sie mir ohne Gefahr die Gewandtheit zutrauen können, aus den Unscheinendsten in Sprache und Benehmen den Mann von selbständigem Geiste zu erkennen. Ich befinde mich in dem Falle Voltaire's, der nichts heißer erstrebte, als die Anerkennung derjenigen, die ihm ihren Beifall versagten. Sie werden mir sagen, daß Sie es nicht sind, der mir Beifall versagt, allein schon der äußere Schein einer widersprechenden Gesinnung gegen die öffentliche Meinung – deren Richtigkeit Sie gestern bestritten haben – zeigt mir den Mann von selbständigem Geist und Charakter; denn ein solcher allein wagt es da zu widersprechen, wo alle übrigen einverstanden sind. Ich überlasse es Ihnen zu entscheiden, ob ich Sie richtig beurtheilt habe.« Ich erwiederte, daß sein Urtheil zu schmeichelhaft sei, als daß ich es schlechthin bestätigen könnte, daß ich jedoch zu einem bescheidenen Zweifel geneigt sei, daß einem so großen Mann im Genuß des Weltruhms die Meinung eines[222] reisenden Cavaliers und alltäglichen Curiositätenjägers auch nur im allergeringsten Grade bedeutend sein könne. An diese Initiative knüpfte sich ein höchst interessantes Gespräch über Berühmtheit, Bedeutung und Schicksal der Goethischen Schriften, in dem sich der Dichter mit einer liebenswürdigen Offenheit herausließ, welche mir die innersten Falten seines Charakters öffnete. Ich habe seine wesentlichen Äußerungen unmittelbar nach dieser Spazierfahrt in der folgenden Weise zusammengetragen mit der Absicht, sie einst der Offentlichkeit zu übergeben, wenn der Tod des Sprechers mich erst der Pflichten der Discretion vollkommen entbunden haben würde.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Hier sind seine Worte unzusammenhängend, rhapsodisch, verkürzt und so treu, als sie das Gedächtniß wiedergiebt.

»Der Ruhm, mein Herr Graf, ist eine herrliche Seelenkost: sie stärkt und erhebt den Geist, erfrischt das Gemüth; das schwache Menschenherz mag sich daher gern daran erlaben. Aber man gelangt gar bald auf dem Wege der Berühmtheit zur Geringachtung derselben. Die öffentliche Meinung vergöttert Menschen und lästert Götter; sie preist oft die Fehler, worüber wir erröthen, und verhöhnt die Tugenden, welche unser Stolz sind. Glauben Sie mir: der Ruhm ist so verletzend fast, als die Verrufenheit. Seit dreißig Jahren kämpfe ich gegen den Überdruß, und Sie würden ihn[223] begreifen, wenn Sie nur wenige Wochen mit ansehen könnten, wie mich täglich eine Anzahl von Fremden zu bewundern verlangt, wovon viele meine Schriften nicht gelesen haben – wie fast alle Franzosen und Engländer – und die meisten mich nicht verstehen. Sinn und Bedeutung meiner Schriften und meines Lebens ist der Triumph des Reinmenschlichen. Darum entschlage ich mich dessen nie und genieße, was mir das Glück an Ruhm geboten, aber die süßere Frucht ist mir das Verstehen der gesunden Menschheit. Darum schätze ich sogar den Widerspruch derer höher, welche die rein menschliche Bedeutung der Kunst erfassen, als den kränklichen Enthusiasmus der überschwänglichen Dichter unseres Volkes, welche mich mit Phrasen ersticken; darum auch mag ich Ihnen gern die Wahrheit Ihrer Behauptung, daß Deutschland mich nicht verstanden, in bedingter Weise zugestehen. Es waltet in dem deutschen Volke ein Geist sensueller Exaltation, der mich fremdartig anweht: Kunst und Philosophie stehen abgerissen vom Leben in abstractem Charakter, fern von den Naturquellen, welche sie ernähren sollen. Ich liebe das ächt volkseigene Ideenleben der Deutschen und ergehe mich gern in seinen Irrgängen, aber in steter Begleitung des Lebendignatürlichen. Ich achte das Leben höher, als die Kunst, die es nur verschönert.« –

»Sie haben recht: Byron hat mich vollkommen verstanden, und ich glaube, ihn zu verstehen. Ich schätze[224] sein Urtheil so hoch, als er das meinige ehrte, doch war ich nicht so glücklich, seine Meinung von mir in ihrem ganzen Umfange kennen zu lernen.« Diese Bemerkung, mit einer besondern Betonung gesprochen, klärte mich vollkommen über das Hauptmotiv des Interesses auf, welches Goethe an meiner Unterhaltung zu nehmen schien. Ich hatte den Abend vorher einige Worte über Byron fallen lassen, welche nicht nur meine nähere Bekanntschaft mit diesem merkwürdigen Manne verriethen; sondern auch vermuthen ließen, daß ich seine Meinung von Goethe näher zu erforschen Gelegenheit gehabt. In der That hatte ich in Venedig zu wiederholten Malen das Glück gehabt, Byron's vertraulichen Umgang zu genießen, nachdem es mir mit Mühe gelungen war, sein Vorurtheil gegen alle Russen, das damals durch die griechischen Händel begünstigt wurde, wenigstens zugunsten meiner Person zu beseitigen. Seltsamerweise waren es nicht eben meine guten Eigenschaften, welche ihn mit meiner Nationalität aussöhnten, sondern mein damaliger Charakter eines jungen Wildfangs, der das Leben und die Kunst mit der größten Heißgier ausbeutete, nur um zu genießen, wenig bekümmert um Erweiterung seiner Fähigkeiten und Kenntnisse. Byron behandelte mich zwar in der Regel ziemlich wie ein ungezogenes Kind, und während seiner Sonderlingslaunen oft mit Rauheit, aber zugleich erwies er mir, dessen Falschheit er zu fürchten keine Ursache hatte, mehr Vertrauen, als irgend einem seiner[225] damaligen Bekannten, die ihn oft aus eigennützigen Beweggründen umschwärmten. Unser Umgang war nicht der gleichgestimmter Kunstverehrer, sondern die Gemeinschaft lebenslustiger Bonvivants, die nie gesättigt werden. Ich lernte aber dadurch viele Particularitäten aus dem Privatleben Byron's kennen, deren Mittheilung an Goethe mit der lebhaftesten Theilnahme aufgenommen wurde und die Selbstcharakteristik meines Wirthes unterbrachen, um sie nur mehr zu vervollständigen. Auch hatte Byron durch seine Gewohnheit, in unsere stehende Unterhaltung über schöne Weiber, welchen wir beide mit Eifer nachstellten, interessante Zwischenreden über die Kunst einzuflechten, mich in das Vertrauen seine literarischen Gesinnungen gezogen und mich so in den Stand gesetzt, Goethes Neugier zu befriedigen. Ich sagte ihm daher, daß ich in der That so glücklich sei, ihm einige Aufschlüsse über Byron's Gesinnungen gegen ihn geben zu können, und gab ihm ein solches Resumé meiner Unterredungen mit Byron über Kunst und Literatur, bei welchem Goethe wirklich sehr oft das Hauptthema war, dessen Beurtheilung Goethe nothwendig in seiner interessanten Selbstcharakteristik weiter führen mußte. Ich ging dabei nicht ganz aufrichtig und uneigennützig zuwerke, und zwar aus Rücksichten des Anstandes und der Schicklichkeit, welche mir nicht erlaubten, mehr, als Byron's Gesinnungen zu hinterbringen; seine Äußerungen hingegen waren meist so beschaffen, daß sie Goethe leicht hatten mißfallen können, obgleich Byron[226] vieles Wohlwollen für ihn gefühlt hat. So sprach er oft von seiner Heuchelei mit vielem Humor, aber wenig Ehrerbietung und sagte einst von ihm: er ist ein alter Fuchs, der nicht aus seinem Bau herausgeht und von da recht anständig predigt. Seine ›Wahlverwandtschaften‹ und ›Werther's Leiden‹ nannte er eine Persiflage der Ehe, wie sie sein dienstbarer Geist Mephistopheles selbst nicht besser hätte schreiben können; der Schluß dieser beiden Romane sei der Gipfel von Ironie. Indessen gab mir die Erinnerung an Byron's Äußerungen über Goethe einen so reichen Stoff zu Schmeicheleien, daß ich ohne Furcht, Goethe zu beleidigen, auch einige Andeutungen über die Abweichung der Meinungen Byron's fallen lassen konnte. Goethe war dadurch so befriedigt, daß er mit einer ungewöhnlichen Wärme die Unterhaltung fortsetzte und den ganzen Tag von dem einen Gegenstande derselben angeregt blieb.

Meine Deutung seiner Philosophie, welche ich ihm bei den vielen Gelegenheiten dazu unverhohlen mittheilte, schien ihm besonders wohl zu gefallen, weil er sie durch Byron's Urtheil, auf das er viel hielt, bestätigt fand. Es kamen Dinge zur Sprache, die Goethe gewiß niemals zu wiederholen gewagt hat. Ich bemerkte ihm diese Vermuthung, und er gestand lächelnd, daß er nicht im Sinne habe, sie Lügen zu strafen. »Aber weil wir einmal im Offenherzigen sind,« sagte er, »so will ich Ihnen nur gestehen, daß ich den Sinn von allem Besprochenen in den Zweiten Theil meines[227] ›Faust‹ gelegt habe und deshalb gewiß bin, daß dieser Schluß nach meinem Tode von meinen Landsleuten für das langweiligste Product meines Lebens wird erklärt werden.«

Und wunderbar! Einige Jahre nach dieser Unterredung bekam ich gleichzeitig mit dem zweiten Bande des ›Faust‹ ein angesehenes deutsches Blatt zur Hand, worin es hieß: So wie die physische Erscheinung dieses Buches Goethes körperliches Dasein, so hat der darin wohnende Geist seinen Genius überlebt.[228]


1436.*


Zwischen 1826 und 1832.


Mit Jenny von Pappenheim u.a.

Im November 1826 kehrte Fräulein v. Pappenheim [nachmals Frau v. Gustedt aus Straßburg] nach Weimar zurück und verkehrte viel im Goetheschen Hause, oft im Kreise der jungen Mädchen, die sich um Ottilie schaarten, manchmal in Begleitung ihrer Mutter und ihres Stiefvaters v. Gersdorff. Für letzteren, der sich bei den Verhandlungen des Wiener Congresses sowie bei dem Entwurf der von Karl August seinem Lande gegebenen Verfassung große Verdienste erworben hatte, hegte Goethe aufrichtige Hochachtung; sagte er doch: »Gersdorff verdiente wohl, daß ihm Weimar ein Monument setzte.«

Über das Treiben der jungen Damen in Goethes Hause bewahrte Frau v. Gustedt manche freundliche[228] Erinnerungen. So z.B. als Fräulein Charlotte v. Münchhausen eines Tages das Unglück hatte, den Gipsabguß einer Venus umzuwerfen und zu zerbrechen, und in Thränen ausbrechend vor Schrecken einer Ohnmacht nahe war, tröstete sie Goethe mit den Worten: »Wo Venus so viele lebende Vertreterinnen hat, darf man um die todte nicht weinen.«

Einandermal schritten die Mädchen im Hausgarten umher, während Goethe in dem Gang längs der Ackerwand auf und ab ging. Hinter der großen Hecke fanden sie plötzlich auf einem Haufen von Erde und altem Laub einen Todtenkopf; sie holten einen Spaten und wollten ihn unter einem Baum zur Ruhe bestatten. Es war ein sehr schöner Sommertag, und man trug damals viel weiße Musselinkleider mit goldenen Gürteln; plötzlich trat Goethe aus dem Schatten der Hecke heraus – der Contrast von Tod und Jugend mochte ihm auffallen, er sagte sehr freundlich: »Ihr Frauenzimmerchen macht zuletzt noch den Tod anmuthig.« ....

Seine Schwiegertochter Ottilie liebte Goethe sehr, doch sagte er auch einst scherzend: »Es hat mir immer vor Theklas, Johannen von Orleans und derart Heldinnen gegraut, und nun hat mir Gott gerade so eine Tochter bescheert.« – Als Ottilie nach dem... Tode ihres Gatten zum ersten Male in Wittwenkleidern bei ihm erschien, reichte er ihr die Hand mit den Worten: »Nun wollen wir recht zusammenhalten!«[229]


1437.*


Zwischen 1827 und 1831.


Mit Karl von Holtei u.a.

Ich habe nichts, was ich von ihm erzähle, von andern vernommen, sondern lediglich von seinen Lippen .....

Man hatte die Schriftstellerin Sophie Mereau, nachherige Brentano, genannt. Goethe lobte sie sehr bedingt und gedachte sogleich ihres Gatten. »Ja,« sagte er spöttisch lächelnd, »der Brentano, das war auch so einer, der gern für einen ganzen Kerl gegolten hätte. Er stieg vor Sophiens Wohnung am Weinspalier bis an's Fenster hinauf bei nächtlicher Weile, um die Leute glauben zu machen, es wäre viel dahinter. Aber es war und wurde nichts. Zuletzt warf er sich in die Frömmigkeit, wie denn überhaupt die von Natur Verschnittenen nachher gern überfromm werden, wenn sie endlich eingesehen haben, daß sie anderswo zu kurz kamen, und daß es mit dem Leben nicht geht. Da lob' ich mir meine alten ehemaligen Kapuziner: die fraßen Stockfisch und – – – in einer Nacht. So war auch der Werner ein schönes Talent. Ich habe mich seiner von Herzen angenommen und ihn redlich zu fördern gesucht auf alle Weise, aber wie er nachher aus Italien zurückkam, da las er uns gleich am ersten Abend ein Sonett vor, worin er den aufgehenden Mond mit einer Hostie verglich. Da half ich genug und ließ ihn laufen.«

[230] Es war von Fouquè die Rede. Goethe wurde warm in Lobpreisungen der ›Undine‹. »Das ist ein anmuthiges Büchlein und trifft so recht den Ton, der einem wohlthut.« Später wollte es dem armen Fouqué mit nichts mehr so gut gelingen. Und das merkte er nicht, aber es ist nicht anders. Der liebe Gott giebt dem Dichter einen Metallstab mit zu seinem Bedarf. Von außen sieht solches Ding aus wie eine Goldbarre; bei manchen ist es auch Gold, mindestens ein tüchtiges Stück lang; bei vielen ist es das liebe reine Kupfer, nur an den Polen des Stabes etwas Gold. Da bröckelt nun der Anfänger los, giebt aus, wird stolz, weil sein Gold im Course gilt, und wähnt, das müsse so fort gehn. So bröckelt er immer lustig weiter; hernach, wenn er schon längst beim Kupfer ist, wundert er sich, daß die dummen Leute es nicht mehr für Gold annehmen wollen.

Von Jean Paul: »Wie ihm die Phantasie ausging und ihm nichts Großes mehr einfallen wollte, da quält' er sich um Kleinigkeiten ab und trieb Wortklauberei. So hatt' er seine ewige Angst und seinen Ärger wegen der s des Genitivs. Mir, der ich selten selbst geschrieben, was ich zum Druck beförderte und, weil ich dictirte, mich dazu verschiedener Hände bedienen mußte, war die consequente Rechtschreibung immer ziemlich gleichgültig. Wie dieses oder jenes Wort geschrieben wird, darauf kommt es doch eigentlich nicht an, sondern darauf, daß die Leser verstehen, was[231] man damit sagen wollte. Und das haben die lieben Deutschen bei mir doch manchmal gethan.«

Von Tieck: »Als er sie vollendet hatte, las er mir im alten Schlosse in Jena seine ›Genovefa‹ vor. Nachdem er geendet, meint' ich, wir hätten zehn Uhr, es war aber schon tief in der Nacht, ohne daß ich's gewahr geworden. Das will aber schon etwas sagen, mir so drei Stunden aus meinem Leben weggelesen zu haben!«

Von der Bibliothek in Jena: »Es war eine Lebensaufgabe unseres Großherzogs, die Universitätsbibliothek mit [der Büttner'schen]... zu verbinden. Dazu fehlte im bisherigen Locale der Raum, und wir wollten den daran gränzenden anatomischen Saal dafür haben. Dagegen erhob sich großer Protest und veranlaßte langes Hin- und Herschreiben, wobei mir die Zeit lang wurde. Ich bestellte mir also Maurer und Handlanger und lies ohne weiteres durchbrechen. Nun hatten gerade die Herren vom Senate eine Sitzung, um sich über diese Angelegenheit zu berathen, und als sie das Spektakel in der Mauer vernahmen, hielten sie er schreckt inne und erhoben lauschend ihre Köpfe. Da stürzte der Pedell in die Sitzung und schrie: Hochweise Herren! Er kommt schon von der andern Seite herein! – Die Stadtmauer, welche sich vor den Fenstern des Gemaches hinzog, wo die Manuscripte aufbewahrt werden, hab' ich, weil sie weder Licht noch Lust zuließ und die Pergamente modrig wurden und beschlugen, gleichfalls[232] ex propriis niederreißen lassen. Nachher, als es geschehen, war es gut.«

Wir waren eines Tages vorzugsweise vergnügt bei Tische, und auch die ernsteren Genossen wurden gesprächig. Da rollte ein Wagen dumpf und langsam über den Platz vor Goethes Hause. Ein Wagen auf dem Plan [jetzt Goetheplatz] ist an und für sich nichts Gewöhnliches, und dieser rollte gar ungewöhnlich. Goethe sah, daß ich aufmerksam hinhorchte und zum Präsidenten v. Schwendler, welcher an seiner Rechten saß, gewendet, sprach er: »Es war einmal ein Römer, – zwar weiß ich in diesem Augenblicke nicht, wie der verdammte Kerl hieß, und es ist auch nichts daran gelegen – der pflegte, wenn er seine Gäste gut tractirt hatte, plötzlich und unerwartet ein künstlich zusammengefügtes Todtengerippe quer über der Tafel vor ihnen aufzurollen, um sie daran zu mahnen, daß auch sie sammt allen Delicatessen, die sie bei ihm gefressen, zu Staub und Moder werden müßten. Da ich nun auf dergleichen Moralpredigten nicht verfallen bin, so sorgt hier unser Polizeidirector dafür und läßt den Leichenwagen, der sonst einen andern Weg verfolgte, jetzt bei uns vorbeifahren. Und weil die guten Leute es lieben, sich um die Stunde begraben zu lassen, wo ich speise, so ist das in seiner Art immer ein sehr hübsches Memento mori.« –

»Es war einmal in dem kleinen Landstädtchen Weisseritz ein braver Prediger, der wohl andere Geschäfte[233] haben mochte, als für jeden Sonntag eine neue Predigt zu machen. Er fand es angemessen, Jahr aus Jahr ein dieselbe zu halten, die er denn auch sehr brav vortrug, und an der sich seine Kirchkinder stets erbauten. Nun wollte der Himmel, daß ein Theil des Städtchens und mit diesem das Haus des Herrn in Flammen aufgehen sollte, sodaß am nächsten Sonntage die Gemeinde genöthigt war, sich in einer großen Scheune zu versammeln. Das Außerordentliche dieser Versammlung regte unsern Pastor auf, und er hielt sich Verpflichtet, diesmal aus dem alten Geleise zu biegen und eine neue, auf diesen feierlich traurigen Tag eigens geschriebene Predigt zu halten. Er fing mit tiefer Rührung an: So lasset uns heute, meine andächtigen Zuhörer! miteinander betrachten das, durch Gottes unerforschlichen Ratschluß in die Asche gelegte Weisseritz. – Greise, Männer, Weiber und Kinder sahen sich fragend an und harrten hoch erstaunt der Dinge, die da kommen sollten. Aber unser Pastor fühlte sich unfähig, seinen alten Grundsätzen treulos zu werden, und mit frommer Zuversicht fuhr er fort: Im ersten Theile werden wir hören, wie die Sadducäer ihn verführen wollten, und im zweiten, wie er ihnen das Maul stopfte. Worauf sich denn die Gemeinde sogleich wieder beruhigte.«

»Als seine Majestät Friedrich Wilhelm III. vor Jahren bei unserer Herrschaft in Weimar zum Besuche anwesend waren, hatte sich eine Menge Volks aus der[234] Umgegend eingefunden, welches, ihn womöglich zu sehen, das Schloß umstand. Ich, der ich in jener Zeit bei extravaganten Gelegenheiten noch zu Hofe ging, begegnete auf dem Heimwege einem alten thüring'schen Leineweber, welcher früher, wo ich eine kleine ländliche Besitzung gehabt, dort mein Nachbar gewesen war. Nun, mein Alter! – sprach ich ihn an – Ihr seid denn auch hereingekommen, den König zu sehen? – ›Ja, Herr Geheemrath‹, antwortete der Weber; ›aber das iss ja nischt! Ich dachte, 's sollte der alte Fritze sein.‹« –

Excellenz Gräfin Henckel hatte einen Ball gegeben, bei welchem Jung-Alt-England natürlich wieder obenauf gewesen war und sich zumtheil recht unnütz gemacht hatte. Sämmtliche Herren waren indignirt, sämmtliche Damen entschuldigten vermittelnd, wie immer – mit vorherrschendem Geiste, aber auch mit unverkennbarem Parteigeist – Goethes Schwiegertochter, die ihrer Parteilichkeit gar nicht hehlhaben wollte und sich selbst den britischen Consul in Weimar zu nennen pflegte. Mich liebten die Antianglomanen als Tirailleur vorauszuschicken, wenn es galt, irgend ein Mittags- oder Theetischgefecht gegen die englische Colonie zu unternehmen. Ich war denn auch beim Diner nach jenem Balle redlich vorangegangen und hatte durch mein kühnes Beispiel zur Nachfolge ermuthigt. Hofrath Vogel, des alten Großherzogs und Goethes Hausarzt,... stürzte sich nach mir in's Treffen; er citirte[235] als Beleg für meine allgemein gehaltene Anklage das besondere Beispiel, wie einige Söhne Albions sich in den Tanzpausen der Länge lang auf den Sophas herumgeräkelt, während ihre Tänzerinnen vor ihnen gestanden. Das schien freilich sehr schlagend, aber Frau Ottilie ließ sich nicht irre machen. »Schon längst« – erwiederte sie – »hab' ich's der Großmama gesagt, daß die Canapees in den Ecken des Saales völlig unbrauchbar sind; sie stecken so tief in der Mauer und sind so breit, daß, um einigermaßen bequem zu sitzen, man unwillkürlich in eine liegende Stellung kommt.« – »Nun, ich weiß doch nicht!« entgegnete Vogel sehr bescheiden: »ich habe mit Frau v. X.« (nebenbei erwähnt – eine recht häßliche Dame) »dort gesessen, und« – – »Und« – unterbrach ihn Goethe – »Ihr bekamt keine Lust, Euch zu legen? O, ihr guten Kinder!«[236]


1569.*


In Goethes letzten Jahren.


Über wilde Ehe

Wenn ich [Gerd Eilers] alles zusammennehme, was mir über seine religiöse Stimmung in den letzten Jahren seines Lebens mitgetheilt worden ist, wozu auch die mir näher bekannt gewordene Thatsache gehört, daß er einen vieljährigen Freund zur Buße ermahnte und veranlaßte, seine wilde Ehe in eine christlich eingesegnete zu verwandeln, so möchte ich fast glauben, es sei ihm gegangen wie dem hochbejahrtem Kephalos bei Plato.[117]


1779.*


Zwischen 1826 und 1832.


Mit Jenny von Pappenheim


a.

[Über Rahel Varnhagen v. Ense.] »Da werdet Ihr Bedeutendes kennen lernen,« sagte Goethe zu uns.


b.

[Einmal] schenkte er ihr [Jenny v. P.] einen Ring, der in einfacher goldner Fassung einen Bergkrystall mit seltsamer Versteinerung darin zeigt. Mit etwas Phantasie vermag man einen Pfeil darin zu erkennen. Darauf Bezug nehmend, meinte Goethe scherzend: es sei der Pfeil, mit dem sie ihn getroffen habe.


c.

Unvergeßlich ist mir die liebste Erinnerung an Goethe. Ich war mit Ottilie an einem schönen Frühlingstage zu Fuß nach Tiefurt gegangen. Lange hatten wir auf dem stillen friedlichen Platz neben dem Pavillon gesessen; .... der Vormittag war verstrichen und wir gingen durch den Park nach der oberen Chaussee. Dort hielt ein Wagen; Goethe stieg aus,[196] umfaßte jede von uns mit einem Arm und führte uns zurück nach der Ilm, lebhaft von Tiefurts Glanzzeit und der Herzogin Amalia erzählend. An einem länglich viereckigen Platz, von alten Bäumen umgeben, blieb er stehen; es war der Theeplatz der edlen Fürstin. Etwas weiter zeigte er uns die Stellen, für die er ›Die Fischerin‹ geschrieben hatte und wo sie aufgeführt worden war. So weich und mild sah ich ihn nie; der ganze Tag war so harmonisch. Langsam stiegen wir den Berg hinauf, wo der Wagen hielt und fuhren zusammen nach Weimar zurück. Vor Goethe's Hausthür stand ein kleiner Knabe, der Pfefferkuchen feil bot; Goethe nahm ein Herz über dem zwei Täubchen einträchtig saßen, schenkte es mir und lud mich noch zu Mittag ein, was Friedrich rasch meinen Eltern kundthun mußte. Nach Tische holte er seinen ›Faust‹, an dessen zweitem Theil er noch arbeitete und aus dem er Ottilie oft vorlas. Jetzt durfte ich ihm lauschen; ich hätte es ewig thun mögen, nie den Platz zu seinen Füßen zu verlassen brauchen. Es dämmerte, als ich gehen mußte. Die Hand, die er mir reichte, zog ich dankbar und ehrfurchtsvoll an die Lippen. Er sah wol, welch einen Eindruck ich mit mir nahm und sagte noch, als ich mit Ottilien an der Thür stand: ›Ja, ja, Kind! Da habe ich viel hineingeheimnißt.‹ .....

Anmuthig war eine Stunde in Goethe's Hausgarten, wo ich mit Ottilie einem Menschenschädel, den wir am Zaun gefunden hatten, würdigere Ruhe unter[197] einem Baum bereitete. Goethe hatte uns von seinem Arbeitszimmer im sonnigen Garten gesehen, kam herunter und sagte: ›Ihr Frauenzimmerchen verklärt auch noch den Tod.‹ Wir hofften den Gedanken gedichtet zu bekommen, aber es blieb bei der schönen Prosa.

Einandermal überfielen wir, eine Schar übermüthiger Mädchen, den Dichter zur Abendzeit in seinem Gartenhaus. Wir kamen von Tiefurt und brachten ihm eine Menge Frühlingsblumen. Dabei hatte eine von uns das Unglück, den Gypsabguß einer Venus umzustoßen. Wir wurden blaß vor Schreck, einen Zornesausbruch erwartend; die Sünderin selbst brach in Thränen aus. Ein sonniges Leuchten flog jedoch über seine Züge; er drohte mit dem Finger und meinte: ›Ei, ei! wer wird um die Todte weinen, wo Venus so viel lebende Vertreterinnen hat!‹[198]


1780.*


Zwischen 1826 und 1832.


Verschiedenes


a.

Als er [Goethe] einst in seinem Parkgarten bei einem starken Gewitter zwei Tischler sah, die aus Schreck über einen heftigen Donnerschlag eine Bank fallen ließen, hob er die Hand und sagte: »Ei! wer wird sich fürchten, wenn Gott der Herr spricht.«


b.

[198] Wolf [Goethe's Enkel] berichtet von den Stadtneuigkeiten, von dem Großvater, der sich wieder einmal mit Tante Ulrike1 gezankt habe. Er ging nach Art desselben langsam, die Hände auf dem Rücken, den Oberkörper etwas geneigt, den Kopf gehoben, die weit offenen Augen auf uns gerichtet, im Zimmer auf und nieder; dabei sagte er mit grollender Stimme: »Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen! ihr treibt's mir bald zu arg.« Ich [Jenny v. P.] mußte lachen, ermahnte aber doch meinen jungen Freund, des Großvaters nicht etwa zu spotten.


1 Ulrike v. Pogwisch, Schwester von Goethe's Schwiegertochter.[199]


1781.*


Zwischen 1826 und 1832.


Sorge für Unterhaltung der Gäste

Hatten sich die Visitenkarten sehr angehäuft, so vermochte sie [Ottilie v. G.] ihn [Goethe] zu einer Abendgesellschaft, wo er sich vorher sehr nach den Herzensangelegenheiten seiner Gäste erkundigte und ihr die eigentlich überflüssige Empfehlung machte, ›daß ihm – oder ihr – sein Glück begegne.‹ Da sah man denn hoch, groß, etwas steif den Dichterfürsten die Gäste empfangen. Das Aldobrandinizimmer barg den[199] Kreis der Mütter und Tanten und, da Goethe bei solchen Zwangsgelegenheiten selbst wenig sprach, oft eine große Portion Langeweile; das Urbinozimmer daneben wußte davon nichts, da war für die Begegnungen des Glücks gesorgt.[200]


1782.*


Zwischen 1826 und 1832.


Über Unterhaltungsstoff

Er lud gern zu Tisch ein, wo sein Sohn, Ottilie Ulrike, die Enkel und der Hauslehrer die Tischgäste waren ..... Die Unterhaltung war bei solchen kleinen Anlässen stets sehr animirt; sie drehte sich immer um Gegenstände der Kunst und Wissenschaft. Seine Augen schleuderten Blitze, sobald irgendeine Klatscherei zum Vorschein kam. Sei einer solchen Gelegenheit wurde er einmal sehr derb; er rief mit dröhnender Stimme: »Euren Schmutz kehrt bei Euch zusammen, aber bringt ihn nicht mir ins Haus!«[200]


1786.*


Zeitlich ungewiß.


Über Friedrich Schiller


a.

Kant kann man nicht genug lesen, er giebt Antwort auf alle Fragen der Menschheit. Er war Deines [Ernst v. Schiller's] Vaters Religion, sagte mir [Caroline v. Wolzogen] Goethe einmal.


b.

Goethe sagte zu Ottilie, als sie meinte, Schiller langweile sie oft: »Ihr seid viel zu armselig und irdisch für ihn.«

Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 10, S. 196-202,205.
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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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