|
[769] Er lief Oljga suchen. Man sagte ihm bei ihr zu Hause, daß sie fortgegangen war; er eilte ins Dorf – sie war nicht da. Dann erblickte er sie in der Ferne, wie sie gleich einem dem Himmel entgegenschwebenden Engel den Berg hinanstieg, so leicht stützte sich ihr Fuß, so anmutig wiegte sich ihre Gestalt. Er folgte ihr, doch sie berührte kaum das Gras und schien wirklich fortzufliegen. Er rief sie, als er den Berg bis zur Hälfte erklommen hatte. Sie wartete auf ihn; sowie er ihr aber um zwei Klafter näher kam, eilte sie weiter, so daß zwischen ihnen wieder eine große Entfernung entstand, blieb dann stehen und lachte. Endlich ward ihm zur Gewißheit, daß sie ihm nicht entkommen würde. Sie lief ihm ein paar Schritte entgegen, reichte ihm die Hand und schleppte ihn lachend zu sich. Sie traten in den Hain; er nahm den Hut ab, sie wischte ihm die Stirn mit einem Tuch ab und begann ihm mit dem Schirm das Gesicht zu fächeln.
Oljga war lebhafter, gesprächiger und fröhlicher als sonst, manchmal ließ sie sich durch eine zärtliche Aufwallung hinreißen und vertiefte sich dann plötzlich in ihre Gedanken.
»Rate, was ich gestern getan habe?« fragte sie, als sie sich in den Schatten gesetzt hatten.
»Gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Geschrieben?«
»Nein.«
»Gesungen?«[770]
»Nein. Karten gelegt!« sagte sie. »Die Wirtschafterin der Gräfin war gestern da; sie kann Karten legen, und ich habe sie darum gebeten.«
»Nun, und was ist herausgekommen?«
»Nichts. Zuerst eine Reise, dann eine Menschenmenge und überall ein blonder Mann, überall ... Ich bin rot geworden, als sie mir plötzlich in Katjas Anwesenheit sagte, daß ein Cœur-König an mich denkt. Als sie erzählen wollte, an wen ich denke, habe ich die Karten durcheinandergeworfen und bin fortgelaufen. Denkst du an mich?« fragte sie plötzlich.
»Ach!« sagte er, »wenn ich an dich nur weniger denken könnte!«
»Und ich!« sagte sie sinnend, »ich habe schon ganz vergessen, daß man anders leben kann. Als du vorige Woche geschmollt hast und zwei Tage lang nicht gekommen bist – weißt du, du warst böse? – bin ich plötzlich ganz anders geworden, so zornig. Ich habe mich mit Katja herumgezankt, wie du mit Sachar; ich habe sie heimlich weinen gemacht, und sie hat mir gar nicht leid getan. Ich antwortete ma tante nicht, hörte nicht, was sie sagte, tat nichts, wollte nirgends hin. Und sowie du gekommen bist, bin ich plötzlich ganz anders geworden. Ich habe Katja mein Lilakleid geschenkt ...«
»Das ist die Liebe!« sprach er pathetisch.
»Was? Das Lilakleid?«
»Alles? Ich erkenne mich in deinen Worten; auch für mich gibt es ohne dich keinen Tag und kein Leben, ich träume des Nachts immer von blühenden Tälern. Wenn ich dich sehe, bin ich gut und tätig; wenn nicht, langweile ich mich, bin träge, will mich hinlegen und an nichts denken ... Liebe, und schäme dich deiner Liebe nicht ...«
Plötzlich schwieg er. Was sage ich da? Ich bin ja nicht deswegen gekommen! dachte er, begann sich zu räuspern und furchte die Brauen.
»Und wenn ich plötzlich sterbe?« fragte sie.
»Welch ein Gedanke!« sagte er wegwerfend.[771]
»Ja,« fuhr sie fort, »ich erkälte mich und bekomme Fieber; du kommst her – ich bin nicht da, du gehst zu uns – man sagt dir, ich bin krank, morgen ist wieder dasselbe; meine Fensterläden sind geschlossen; der Doktor schüttelt den Kopf; Katja kommt zu dir auf den Fußspitzen verweint heraus und flüstert dir zu: Das Fräulein ist krank, es stirbt ...«
»Ach!« rief Oblomow plötzlich aus.
Sie lachte.
»Was wird mit dir dann sein?« fragte sie, ihm ins Gesicht blickend.
»Was? Ich werde wahnsinnig oder erschieße mich, und du wirst dann plötzlich wieder gesund.«
»Nein, nein, hör' auf!« sagte sie ängstlich. »Was wir da zusammensprechen! Komm aber nicht zu mir, wenn du tot bist; ich fürchte mich vor den Toten ...«
Er lachte, sie auch.
»Mein Gott, was für Kinder wir sind!« sagte sie, sich besinnend.
Er räusperte sich wieder.
»Höre ... ich wollte sagen ...«
»Was?« fragte sie, sich lebhaft zu ihm umwendend.
Er schwieg ängstlich.
»Nun, sprich doch,« sagte sie, ihn leise am Ärmel zupfend.
»Nichts, so ...« sagte er erschrocken.
»Nein, du hast etwas im Sinn!«
Er schwieg.
»Wenn es etwas Schreckliches ist, dann sprich lieber nicht,« sagte sie. »Nein, sag's doch!« fügte sie plötzlich hinzu.
»Es ist nichts, ein Unsinn.«
»Nein, nein, du hast etwas, sprich!« ließ sie nicht nach, ihn so nahe am Rock haltend, daß er das Gesicht nach links und nach rechts wenden mußte, um sie nicht zu küssen.
Er würde es getan haben, wenn ihr drohendes »Nie« ihm nicht noch immer in den Ohren getönt hätte.
»Sag' es! ...« bat sie beharrlich.[772]
»Ich kann nicht, es ist nicht nötig ...« suchte er nach einem Ausweg.
»Wie konntest du predigen, daß das ›Vertrauen die Grundlage des gegenseitigen Glücks ist, daß es im Herzen keine einzige Regung geben darf, die sich den Augen des Freundes nicht offenbart‹. Wer hat diese Worte gesagt?«
»Ich habe nur sagen wollen,« begann er langsam, »daß ich dich so liebe, so liebe, daß wenn ...«
Er zögerte.
»Nun?« fragte sie ungeduldig.
»Daß, wenn du jetzt einen andern lieben würdest und er befähigter wäre, dich glücklich zu machen ... ich mein Unglück schweigend verwunden und ihm meinen Platz überlassen hätte.«
Sie ließ seinen Rock plötzlich los.
»Warum?« fragte sie erstaunt. »Ich verstehe das nicht. Ich würde dich niemand abtreten; ich will nicht, daß du mit einer anderen glücklich bist. Das ist zu verwickelt, ich verstehe das nicht.«
Ihr Blick irrte sinnend über die Bäume hin.
»Das heißt also, daß du mich nicht liebst?« fragte sie dann.
»Im Gegenteil, ich liebe dich bis zur Selbstvergessenheit, wenn ich mich aufopfern will.«
»Aber wozu? Wer bittet dich darum?«
»Ich sage ja, im Fall du einen andern lieben würdest ...«
»Einen andern! Du bist verrückt! Wieso, wenn ich dich liebe? Wirst denn du eine andere lieben?«
»Warum hörst du mir zu? Ich spreche Gott weiß was, und du glaubst daran! Ich wollte ja ganz etwas anderes sagen ...«
»Was wolltest du denn sagen?«
»Ich wollte sagen, daß ich dir gegenüber schuldig bin, und schon seit langer Zeit ...«
»Worin besteht deine Schuld? Wieso? Du liebst mich nicht? Du hast vielleicht gescherzt? Sprich schnell!«[773]
»Nein, nein, das ist es nicht!« sagte er niedergeschlagen.
»Weißt du ...« begann er unschlüssig, »wir sehen uns ... heimlich ...«
»Heimlich? Warum heimlich? Ich sage meiner Tante fast jedesmal, daß ich dich gesehen habe ...«
»Wirklich, jedesmal?« fragte er unruhig.
»Was ist denn Schlimmes dabei?«
»Das ist meine Schuld, ich hätte dir längst sagen sollen, daß man so etwas nicht ... tut ...«
»Du hast es gesagt.«
»Ich habe es gesagt? Ja! Ich habe es tatsächlich ... angedeutet. Ich habe meine Pflicht also erfüllt.«
Er faßte Mut und freute sich, daß Oljga ihm so leicht die Last der Verantwortung abnahm.
»Was noch?« fragte sie.
»Noch ... Das ist alles.«
»Das ist nicht wahr,« bemerkte Oljga mit Bestimmtheit, »du hast noch etwas; du hast mir nicht alles gesagt.«
»Ja, ich dachte ...« begann er, indem er einen nachlässigen Ton anzuschlagen bestrebt war, »daß ...«
Er schwieg; sie wartete.
»Daß wir seltener zusammenkommen sollten ...«
Er blickte sie schüchtern an.
Sie schwieg.
»Warum?« fragte sie nach einer Weile.
»An mir nagt eine Schlange: mein Gewissen ... Wir bleiben so lange allein; ich bin erregt, mein Herz hört zu schlagen auf; du bist auch unruhig ... ich fürchte mich ...« sprach er mit Mühe zu Ende.
»Wovor?«
»Du bist jung, Oljga, und kennst alle Gefahren nicht. Manchmal hat der Mensch keine Macht über sich; dann beherrscht ihn etwas Höllisches, Finsternis senkt sich auf seine Seele herab, und aus seinen Augen schießen Blitze. Die Klarheit des Geistes trübt sich; die Achtung der Reinheit und Unschuld gegenüber wird von einem Wirbelwind fortgeweht; der Mensch verliert die Besinnung, ihn sengt die Leidenschaft; er hört auf über sich[774] zu verfügen – und dann öffnet sich vor ihm ein Abgrund ...«
Er fuhr sogar zusammen.
»Was folgt daraus? Er soll sich nur öffnen!« sagte sie, ihn groß anblickend.
Er schwieg; entweder hatte er nichts mehr zu sagen, oder er hielt es für überflüssig.
Sie blickte ihn lange an, als wollte sie in seinen Stirnfalten wie in geschriebenen Zeilen lesen, und dachte dabei an jedes Wort und jeden Blick von ihm; sie ließ die ganze Geschichte ihrer Liebe im Geiste an sich vorübergleiten, gelangte bis zum dunklen Abend im Garten und errötete plötzlich.
»Du sprichst Unsinn!« bemerkte sie schnell, indem sie seitwärts blickte, »ich habe in deinen Augen nie Blitze gesehen ... Du schaust mich meistens so wie ... meine Kinderfrau Kusminischna an!« fügte sie lachend hinzu.
»Du scherzest, Oljga, ich spreche aber ernsthaft ... und habe noch nicht alles gesagt.«
»Was willst du noch sagen?« fragte sie. »In was für einen Abgrund schaust du hinab?«
Er seufzte.
»Daß wir uns nicht ... allein ... sehen dürfen ...«
»Warum?«
»Es ist nicht gut ...«
Sie sann nach.
»Ja, man sagt, daß es nicht gut ist,« sagte sie nachdenklich, »aber weshalb?«
»Was wird man sagen, wenn man es erfährt, wenn sich das verbreitet ...«
»Wer wird denn etwas sagen? Ich habe keine Mutter; nur sie könnte mich fragen, warum ich mit dir zusammenkomme, und nur ihr gegenüber würde ich statt einer Antwort aufweinen und sagen, daß weder ich noch du etwas Böses tun. Sie würde mir glauben. Wer denn sonst?« fragte sie.
»Die Tante,« sagte Oblomow.
»Die Tante?«[775]
Oljga schüttelte traurig und verneinend den Kopf.
»Sie fragt mich nie. Wenn ich für immer fortginge, würde sie mich auch nicht suchen und ausfragen, und ich würde ihr nicht mehr sagen kommen, wo ich war und was ich getan habe. Wer denn noch?«
»Die andern alle ... Neulich hat Sonitschka dich und mich lächelnd angeblickt und auch all die Herren und Damen, die mit ihr waren.«
Er erzählte ihr, in welcher Unruhe er sich seitdem befand. »Solange sie nur mich anblickte,« fügte er hinzu, »hat's mir nichts gemacht, als aber derselbe Blick auf dich gerichtet wurde, erstarrten mir die Hände und Füße ...«
»Nun? ...« fragte sie kalt.
»Seitdem quäle ich mich bei Tag und bei Nacht und zerbreche mir den Kopf, wie der Klatsch zu verhindern wäre; ich habe mich bestrebt, dich nicht zu erschrecken ... Ich wollte schon lange mit dir sprechen ...«
»Deine Sorge war überflüssig!« entgegnete sie, »ich habe es auch ohne dich gewußt ...«
»Wieso hast du es gewußt?« fragte er erstaunt.
»So. Sonitschka hat mit mir gesprochen, mich ausgeforscht, gestichelt und sogar belehrt, wie ich mich mit dir benehmen soll ...«
»Und du hast mir kein Wort gesagt, Oljga!« warf er ihr vor.
»Du hast mir bisher auch nichts von deinen Sorgen gesagt!«
»Was hast du ihr denn geantwortet?«
»Nichts! Was sollte ich ihr darauf antworten? Ich bin nur errötet.«
»Mein Gott! Wie weit ist es gekommen; du errötest! Wie unvorsichtig wir sind! Was wird daraus werden?«
Er sah sie fragend an.
»Ich weiß nicht,« sagte sie kurz. Oblomow hatte gehofft, nachdem er Oljga seine Gedanken mitgeteilt hatte, aus ihren Augen und Worten Willenskraft zu schöpfen, und, als er keine lebendige, entschlossene Antwort fand,[776] sank ihm der Mut. Sein Gesicht nahm einen schwankenden Ausdruck an, und der Blick irrte traurig umher. In seinem Innern stieg ein leichtes Fieber auf. Er hatte Oljga fast ganz vergessen, vor ihm drängten sich die Gäste und Sonitschka mit ihrem Mann; er hörte ihre Gespräche und ihr Lachen. Oljga schwieg, statt schlagfertig wie sonst zu sein, blickte ihn kalt an und sprach noch kälter ihr »ich weiß nicht«. Er gab sich nicht die Mühe oder verstand es nicht, in den geheimen Sinn dieser Worte einzudringen.
Und er schwieg; sein Gedanke oder sein Vorsatz konnte ohne fremde Hilfe nicht reifen und wie ein Apfel von selbst herabfallen; man mußte ihn pflücken.
Oljga blickte ihn ein paar Minuten lang an, zog dann die Mantille an, nahm vom Zweig ihren Schal herunter, band ihn langsam um und ergriff den Schirm.
»Wohin? So früh!« fragte er, plötzlich zur Besinnung kommend.
»Nein, es ist spät. Du hast recht,« sagte sie sinnend und traurig, »wir sind zu weit gegangen und finden jetzt keinen Ausweg mehr; wir müssen uns schnell trennen und die Spuren der Vergangenheit fortfegen. Leb wohl!« fügte sie trocken und bitter hinzu und wollte mit gesenktem Kopf umkehren.
»Oljga, ich bitte dich, um Gottes willen! Wie sollten wir nicht mehr zusammenkommen! Aber ich ... Oljga!«
Sie hörte nicht zu und ging schneller; der Sand knisterte unter ihren Schuhen.
»Oljga Sjergejewna!« rief er.
Sie hörte nicht und ging weiter.
»Um Gottes willen, kehre um!« schrie er mit tränenvoller Stimme, »man muß ja auch einen Verbrecher ausreden lassen ... Mein Gott! Hat sie denn ein Herz? ... So sind die Frauen!«
Er setzte sich und bedeckte sich die Augen mit beiden Händen. Es waren keine Schritte mehr zu hören.
»Sie ist fort!« rief er fast entsetzt aus und hob den Kopf.
Oljga stand vor ihm.[777]
Er ergriff freudig ihre Hand.
»Du bist nicht fortgegangen, du gehst nicht? ...« sprach er. »Geh nicht; denke daran, daß ich ein toter Mensch bin, wenn du fortgehst!«
»Und wenn ich nicht fortgehe, bin ich eine Verbrecherin, denke daran, Ilja!«
»Ach nein ...«
»Wieso nicht? Wenn Sonitschka und ihr Mann uns noch einmal zusammen sehen, bin ich verloren ...«
Er fuhr zusammen.
»Höre,« begann er eilig und stotternd, »ich habe noch nicht alles gesagt! ...«
Er schwieg.
Das, was ihm zu Hause so einfach, natürlich und notwendig erschienen war, was ihm so hold und das Glück selbst zu sein schien, wurde für ihn plötzlich zu einem Abgrund. Ihm ging der Atem aus, als er darüber hinschreiten wollte. Ihm stand ein entscheidender, kühner Schritt bevor.
»Jemand kommt!« sagte Oljga.
Man hörte auf dem Seitenweg Schritte.
»Vielleicht ist das Sonitschka?« fragte Oblomow mit vor Entsetzen starren Augen.
Es gingen zwei unbekannte Herren und eine Dame vorüber. Oblomow fiel ein Stein vom Herzen.
»Oljga,« begann er eilig und ergriff ihre Hand, »gehen wir von hier weg, dort ist niemand. Setzen wir uns hin.«
Er setzte sie auf die Bank hin und ließ sich auf das Gras neben ihr nieder.
»Du bist aufgefahren, bist fortgegangen und ich hab' dir noch nicht alles gesagt!« sprach er.
»Ich werde wieder fortgehen und nicht mehr zurückkommen, wenn du mit mir spielen wirst. Dir gefielen früher einmal meine Tränen, jetzt willst du mich vielleicht zu deinen Füßen sehen und mich nach und nach zur Sklavin machen, Grillen fangen, Moral predigen, dann weinen, dich fürchten und fragen, was wir tun sollen? Vergessen Sie nicht, Ilja Iljitsch,« fügte sie[778] plötzlich stolz hinzu, indem sie sich von der Bank erhob, »daß ich, seitdem ich Sie kenne, um vieles gereift bin und weiß, wie das Spiel, das Sie mit mir treiben, heißt ... meine Tränen werden Sie aber nicht mehr sehen ...«
»Ach, bei Gott, ich spiele nicht!« sagte er überzeugend.
»Um so schlimmer für Sie,« bemerkte sie trocken. »Auf alle Ihre Befürchtungen, Warnungen und Rätsel antworte ich Ihnen nur das eine: ich habe Sie bis zur heutigen Begegnung geliebt und habe nicht gewußt, was ich zu tun habe; jetzt weiß ich es,« schloß sie energisch und machte Anstalten fortzugehen, »ich werde Sie nicht mehr zu Rate ziehen.«
»Auch ich weiß es,« sagte er, sie bei der Hand zurückhaltend und zur Bank führend, dann schwieg er eine Weile, um Mut zu fassen.
»Stelle dir vor,« begann er, »mein Herz ist von dem einen Wunsch und mein Kopf von dem einen Gedanken erfüllt, doch der Wille und die Zunge gehorchen mir nicht ... ich will sprechen, und die Worte wollen mir nicht von den Lippen. Und es ist doch so einfach, so ... Hilf mir, Oljga.«
»Ich weiß nicht, was Sie im Sinn haben ...«
»Um alles in der Welt, laß dieses ›Sie‹; dein stolzer Blick tötet mich, jedes Wort macht mich wie Frost erstarren ...«
Sie lachte.
»Du bist verrückt!« sagte sie, ihm die Hand auf den Kopf legend.
»So ist's recht, jetzt habe ich wieder die Gabe zu sprechen und zu denken! Oljga,« sagte er, vor ihr niederkniend, »sei mein Weib!«
Sie schwieg und wandte sich von ihm ab.
»Oljga, gib mir die Hand!« sprach er weiter.
Sie gab sie ihm nicht. Er nahm sie selbst und preßte sie an die Lippen. Sie ließ ihn gewähren. Die Hand war warm, weich und etwas feucht. Er bemühte sich, ihr ins Gesicht zu sehen, doch sie wandte sich immer mehr ab.[779]
»Du schweigst?« sagte er, unruhig und fragend, indem er ihr die Hand küßte.
»Das ist ein Zeichen der Zustimmung!« sagte sie leise, blickte ihn aber noch immer nicht an.
»Was fühlst du jetzt? Woran denkst du?« fragte er, sich an seinen Traum von der verschämten Antwort und von den Tränen erinnernd.
»Dasselbe wie du,« antwortete sie und blickte noch immer irgendwohin in den Wald; nur das Heben und Senken der Brust deutete darauf hin, daß sie sich beherrschte.
Hat sie wohl Tränen in den Augen? dachte Oblomow, doch sie blickte beharrlich nach unten.
»Du bist gleichgültig und ruhig?« fragte er und bemühte sich, ihre Hand an sich zu ziehen.
»Nicht gleichgültig, aber ruhig.«
»Warum denn?«
»Weil ich das lange vorausgesehen und mich an den Gedanken gewöhnt habe.«
»Lange?« wiederholte er erstaunt.
»Ja, von dem Augenblicke an, als ich dir den Fliederzweig gereicht habe ... nannte ich dich im Geiste ...«
Sie sprach nicht zu Ende.
»Von jenem Augenblick an?«
Er öffnete weit seine Arme und wollte sie umfassen.
»Der Abgrund öffnet sich, die Blitze flammen ... vorsichtig!« sagte sie schelmisch, seiner Umarmung geschickt ausweichend und seine Hände mit dem Schirm fortstoßend.
Er dachte an das strenge »Nie!« und wurde ruhig.
»Du hast aber niemals davon gesprochen und hast es durch nichts angedeutet ...« sagte er.
»Wir heiraten nicht selbst, man verheiratet oder nimmt uns.«
»Von jenem Augenblick an ... ist es möglich? ...« wiederholte er sinnend.
»Glaubst du, daß, wenn ich dich nicht verstanden hätte, ich hier mit dir allein wäre, des Abends mit dir in der[780] Laube sitzen, dir zuhören und dir vertrauen würde?« sagte sie stolz.
»Das ist also ...« begann er, den Gesichtsausdruck wechselnd und ihre Hand loslassend.
In ihm regte sich ein seltsamer Gedanke. Sie blickte ihn mit ruhigem Stolz an und wartete voll Sicherheit; aber er hatte sich für einen Augenblick nicht Stolz und Sicherheit, sondern Tränen, Leidenschaft und berauschendes Glück gewünscht, wenigstens für den einen Augenblick, auf den dann ein Leben voll ungestörter Ruhe folgen konnte! Es gab aber keine plötzlichen Tränen vor unerwartetem Glück, keine verschämte Zustimmung.
Wie sollte er das auffassen? In seinem Herzen erwachte und regte sich der Wurm des Zweifels ... Liebte sie oder wollte sie nur heiraten?
»Es gibt aber einen andern Weg, der zum Glück führt,« sagte er.
»Was für einen?« fragte sie.
»Manchmal wartet die Liebe nicht, geduldet sich nicht und berechnet nicht ... Das Weib ist dann voll Feuer und Beben und empfindet zugleich Qualen und solche Freuden, die ...«
»Ich kenne diesen Weg nicht.«
»Das ist ein Weg, auf dem die Frau alles opfert; die Ruhe, die Achtung, die sie genießt, sie findet in der Liebe ihren Lohn ... diese ersetzt ihr alles.«
»Brauchen wir denn diesen Weg?«
»Nein.«
»Willst du auf diesem Weg dein Glück suchen, auf die Gefahr hin, daß ich meine Ruhe und Achtung verliere?«
»O nein, nein! Ich schwöre bei Gott, um nichts auf der Welt!« rief er leidenschaftlich aus.
»Warum sprichst du dann davon?«
»Das weiß ich wirklich selbst nicht ...«
»Ich weiß es aber: du wolltest wissen, ob ich dir meine Ruhe hinopfern, und ob ich mit dir diesen Weg gehen würde? Nicht wahr?«[781]
»Ich glaube, du hast es erraten ... nun also?«
»Niemals, um nichts in der Welt,« sagte sie entschlossen.
Er sann nach und seufzte dann.
»Ja, das ist ein schrecklicher Weg, und eine Frau braucht viel Liebe, um darauf dem Mann zu folgen, sie muß auch, während sie zugrunde geht, noch lieben.«
Er blickte ihr fragend ins Gesicht; sie erwiderte nichts; nur die Falte über der Braue bewegte sich, aber der Ausdruck blieb ruhig.
»Stell dir vor,« sagte er, »daß Sonitschka, die nicht deinen kleinen Finger wert ist, dich bei der Begegnung plötzlich nicht wiedererkennen würde!«
Oljga lächelte, und ihr Blick blieb ebenso hell. Oblomow ließ sich von der Stimme seiner Eitelkeit hinreißen, die Oljgas Herzen Opfer abfordern und sich daran berauschen wollte.
»Stelle dir vor, daß die Männer sich dir nicht mit ehrfurchtsvoll gesenkten Augen nähern, sondern dich mit einem dreisten, spöttischen Lächeln anblicken würden ...«
Er sah sie an; sie schob mit dem Schirm fleißig ein Steinchen über den Sand hin.
»Bei deinem Eintreten in den Salon würden sich ein paar Hauben entrüstet bewegen, irgendeine davon würde von dir fortrücken ... Dein Stolz wäre aber nicht geringer als jetzt, und du würdest deutlich erkennen, daß du besser bist als sie und über ihnen stehst ...«
»Wozu sprichst du mir von solchen Schrecken?« sagte sie ruhig. »Ich werde diesen Weg nie betreten.«
»Nie?« fragte Oblomow traurig.
»Nie!« wiederholte sie.
»Ja,« sagte er sinnend, »deine Kraft würde nicht ausreichen, um der Schande in die Augen zu blicken. Du würdest vielleicht den Tod nicht fürchten; nicht die Hinrichtung ist schrecklich, sondern die Vorbereitungen, die beständigen Foltern sind es; du würdest es nicht ertragen und hinwelken – ja?«
Er blickte ihr fortwährend in die Augen, um zu sehen, wie sie sich dazu verhielt.[782]
Sie schaute lustig drein; das Bild des Schreckens hatte sie nicht verwirrt; ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Ich will weder hinwelken noch sterben! Das ist nicht die Hauptsache,« sagte sie, »man kann, ohne jenen Weg zu wählen, noch inbrünstiger lieben ...«
»Warum würdest du denn jenen Weg nicht wählen?« fragte er beharrlich und fast ärgerlich, »wenn du dich nicht fürchtest?«
»Weil man sich darauf ... in der Folge stets ... trennt,« sagte sie, »und ich ... sollte dich verlassen? ...« Sie schwieg, legte ihm die Hand auf die Schulter, blickte ihn lange an, warf dann plötzlich den Schirm fort, umfaßte seinen Hals rasch und leidenschaftlich mit den Armen, küßte ihn, wurde dann blutrot, schmiegte das Gesicht an seine Brust und fügte leise hinzu:
»Nie!«
Er stieß einen Freudenschrei aus und glitt aufs Gras zu ihren Füßen hin.
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
140 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro