|
[758] SAPPHO kommt, in tiefe Gedanken versenkt. – Sie bleibt stehen. – Nach einer Pause.
Bin ich denn noch, und ist denn etwas noch?
Dies weite All, es stürzte nicht zusammen
In jenem fürchterlichen Augenblick?
Die Dunkelheit, die brütend mich umfängt,
Es ist die Nacht und nicht das Grab!
Man sagt ja doch, ein ungeheurer Schmerz,
Er könne töten? – Ach, es ist nicht so! –
Still ist es um mich her, die Lüfte schweigen,
Des Lebens muntre Töne sind verstummt,
Kein Laut schallt aus den unbewegten Blättern
Und einsam, wie ein spätverirrter Fremdling,
Geht meines Weinens Stimme durch die Nacht.
Wer auch so schlafen könnte, wie die Vögel,
Doch lang und länger, ohne zu erwachen;
Im Schoße eines festern, süßern Schlummers,
Wo alles, alles, selbst die Pulse schlafen,
Kein Morgenstrahl zu neuen Qualen weckt,
Kein Undankbarer – Halt! – Tritt nicht die Schlange!
Mit gedämpfter Stimme.
Der Mord ist wohl ein gräßliches Verbrechen,
Und Raub und Trug, und wie sie alle heißen,
Die Häupter jener giftgeschwollnen Hyder,
Die, an des Abgrunds Flammenpfuhl erzeugt,
Mit ihrem Geifer diese Welt verpestet,
Wohl gräßlich, schändlich, giftige Verbrechen!
Doch kenn ich eins, vor dessen dunkelm Abstich
Die andern alle lilienweiß erscheinen,
Und Undank ist sein Nam! Er übt allein,
Was alle andern einzeln nur verüben,
Er lügt, er raubt, betrügt, schwört falsche Eide,
Verrät und tötet! Undank! Undank! Undank![758]
Beschützt mich, Götter, schützt mich vor mir selber!
Des Innern düstre Geister wachen auf
Und rütteln an des Kerkers Eisenstäben!
Ihn hatt ich vom Geschicke mir erbeten,
Von allen Sterblichen nur ihn allein,
Ich wollt ihn stellen auf der Menschheit Gipfel,
Erheben hoch vor allen, die da sind,
Und über Grab und Tod und Sterblichkeit
Ihn tragen auf den Fittigen des Ruhms
Hinüber in der Nachwelt lichte Fernen.
Was ich vermag und kann und bin und heiße,
Als Kranz wollt ich es winden um sein Haupt,
Ein mildes Wort statt allen Lohns begehrend,
Und er – lebt ihr denn noch, gerechte Götter? –
Wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt.
Ihr lebet, ja! – Von euch kam der Gedanke,
Der leuchtend sich vor meine Seele drängt.
Laß mich dich fassen, schneller Götterbote,
Vernehmen deines Mundes flüchtig Wort! –
Nach Chios, sprichst du: soll Melitta hin,
Nach Chios, dort getrennt von dem Verräter
In Reue wenden ihr verlocktes Herz,
Mit Liebesqual der Liebe Frevel büßen?
So sei es, Rhamnes, Rhamnes, ja so seis!
Unsterbliche, habt Dank für diesen Wink
Ich eile zu vollführen.
Ausgewählte Ausgaben von
Sappho
|
Buchempfehlung
Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
140 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro