Vierter Auftritt

[763] Melitta. Rhamnes


MELITTA.

Hier sagtest du, sei die Gebieterin,

Sie ist nicht da!

RHAMNES verlegen umherblickend.

Nicht? Nein, fürwahr – nicht da.

Noch erst vor kurzem war sie hier! – So komm!

MELITTA.

Wohin?

RHAMNES.

Sie mag wohl an der Meeresküste

Hinaufgewandelt sein, dort an der Bucht!

MELITTA.

Dorthin geht sie ja nie.

RHAMNES.

Vielleicht doch heute!

MELITTA.

Und warum heute denn?

RHAMNES.

Warum? – Je nu,

Weil – daß sie eben mir den Auftrag gab!

Nicht ansehn kann ich sie. Was sag ich ihr?

MELITTA.

Du bist so sonderbar! Du kehrst dich ab,

Und deine Augen wagen nicht, die Worte,

Die du mir gibst, freiblickend zu bekräftgen!

Was hast du denn, daß du so bang und ängstlich?

Sag mir, wo Sappho weilt, daß ich ihr nahe,

Und weißt dus nicht, so laß mich gehn!

RHAMNES.

Halt da!

Du darfst nicht fort!

MELITTA.

Warum?

RHAMNES.

Du mußt mit mir!

MELITTA.

Wohin?

RHAMNES.

Nach – Komm nur mit zur nahen Bucht,

Du sollst schon sehn!

MELITTA.

Ihr Götter, was soll das?

RHAMNES.

Komm, Mädchen, Mitternacht ist bald vorüber.

Die Stunde drängt! Mach fort!

MELITTA.

Was hast du vor?

Fort soll ich, fort! – An weitentlegne Küsten?

RHAMNES.

Sei ruhig, Kind! An weitentlegne Küsten?

Was fällt dir ein? Ist Chios denn so weit?

MELITTA.

Nach Chios? Nimmermehr![763]

RHAMNES.

Du mußt wohl, Kind!

So will es die Gebietrin!

MELITTA.

Sappho, sagst du?

Fort, hin zu ihr!

RHAMNES.

Nicht doch!

MELITTA.

Zu ihren Füßen!

Sie hör und richte mich!

RHAMNES.

Nicht von der Stelle!

MELITTA.

Wie, Rhamnes, du?

RHAMNES.

Ei was, ich kann nicht anders!

Befohlen ward mirs so und ich gehorche.

MELITTA.

Laß dich erbitten!

RHAMNES.

Ei, was nützt es dir,

Wenn auch in meinen Augen Tränen blinken.

Es muß doch einmal sein! Drum, Kind, mach fort!

MELITTA.

Hier lieg ich auf den Knien! Laß dich erflehn!

– So ist denn niemand, der mich hört und rettet?

RHAMNES.

Umsonst! du rufst das Haus mir wach. Komm mit!

MELITTA.

Nein, nimmermehr! Erbarmt sich niemand meiner?


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 763-764.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sappho
Sappho
Sappho
Sämtliche Werke: Dritter und vierter Band: Gedichte, Die Ahnfrau, Sappho

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon