|
Nicht leicht ist die Geschichte je in so hohem Ansehen gestanden, als bei den neuesten Deutschen. Und mit Recht. Die Naturwissenschaften beiseite gesetzt, und solange es keine Philosophie gibt, ist die Geschichte die Lehrerin des Menschengeschlechtes. Freilich ist ihr Nutzen großenteils ein negativer. Sie zeigt uns den Hochmut, den Eigennutz, die Leidenschaften, die Irrtümer, die von jeher an den Geschicken der Welt gerüttelt haben und lehrt sich davor zu hüten; aber eben dadurch wird ihr Nutzen auch positiv, denn wenn man erst alle falschen Wege bezeichnet hat, fände man wohl auch den rechten. Wer eine solche Ansicht des Menschengetriebes für zu dunkel hielte und dagegen die unleugbaren Fortschritte der Welt zum Bessern aufführte, mag in Bezug auf das Trübe der Ansicht unsere Zeit und die nächstverflossene betrachten; was aber den Fortschritt betrifft nicht vergessen, daß einzelne ausgezeichnete Männer der Tat, des Wissens und der Kunst allerdings wie Leuchttürme ihr Licht auf ganze Generationen und Epochen geworfen haben; andererseits aber den glücklichen Umstand in Anschlag bringen, daß das Gute und Rechte, abgesehen von ihrem innern Wert, auch noch den äußern haben, daß sie der Nutzen aller, gegenüber dem Eigennutz des einzelnen[722] sind, so daß jeder Gewinn- und Ehrsüchtige im Großen das ganze Menschengeschlecht gewissermaßen aus dem nämlichen Motiv gegen sich hat und der gewalttätige Frevler zuletzt nicht so wohl besiegt als erdrückt wird.
Wenn man nun aber der neudeutschen Verehrung der Geschichte näher nachforscht und wie in einem Kaufladen außer der Aufschrift auf der Büchse, in die Büchse selber hinein sieht, so wird die Freude über jene Wertschätzung sehr vermindert. Da ist denn die Geschichte der sich selbst realisierende Begriff, und noch dazu mit nachweisbarer Notwendigkeit und zu immerwährendem Fortschritt. Hier hört auf einmal der praktische Nutzen der Geschichte auf und sie bekommt dafür einen theoretischen Heiligenschein. Sie ist das Wandeln Gottes auf der Erde, welcher Gott aber seinerseits durch die Geschichte erst gemacht wird. Die Vergangenheit zu erforschen wäre ein Geschäft für die Schwachköpfe, die nicht die Gabe haben sie aus der Gegenwart zu deduzieren, und der Geschichtschreiber hätte sich vielmehr an die Zukunft zu wenden um sie, gleichfalls mit Notwendigkeit, im voraus zu bestimmen. Man sage nicht, daß diese Ansichten einer halbverrückten Philosophie unserer wirklichen Geschichtschreibung aufgedrungen seien; in den Werken unserer ausgezeichnetsten Historiker finden sich Spuren davon und werden diese Werke, trotz ihrer Vorzüge, einer aus der Trunkenheit erwachten Nachwelt geradezu ungenießbar machen. Warum ich von dieser Verirrung der Geschichte spreche ist, weil sie ihren Einfluß auch auf die Literatur-Geschichte ausgeübt hat, von der ich eben sprechen will.
Zwischen dieser, der Literar-Geschichte und der Menschen- oder Völkergeschichte zeigt sich nun gleich von vornherein ein ungeheurer Unterschied, der nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch ihren Wert und Nutzen betrifft. Die Begebenheiten der Völkergeschichte sind vergangen und sie zu erforschen und richtigzustellen, ist die Hauptaufgabe des Historikers; die Begebenheiten der Literar-Geschichte, die Werke der Schriftsteller sind noch heute da wie vor Jahrhunderten, ja vor einem Jahrtausend. Homer und Shakespeare stehen vor mir auf meinem Pulte und ich kann jeden Augenblick sie mir vergegenwärtigen; nicht bloß die Nachricht von ihnen, sie selbst, als ob ich mit ihnen zugleich lebte.[723]
Die Zeit- und Ortsverhältnisse in denen sie sich befanden, sind allerdings wichtig zum Verständnis ihrer Werke, aber das leistet die Völkergeschichte und es braucht dazu keine weitere Beihilfe. Biographische Nachrichten erläutern manches, vor allem die Mängel der Schriftsteller; die Welt lebt aber von ihren Vorzügen. An dem Schriftsteller mehr Anteil zu nehmen als an seinen Schriften ist eine sentimental-verhätschelnde Manier, die nur dazu dient verunglückte Halb-Genies mit dem Troste zu erquicken, was sie alles Erstaunliches geleistet hätten, wenn Zeit und Umstände ihnen günstig gewesen wären.
Wenn auf diese Art die eigentlichen Fakten der Literargeschichte: die Werke der bedeutenden Schriftsteller, jedermann ohnehin zugänglich sind, so bliebe ihr als Historie nichts übrig als von den Unbedeutenden zu sprechen. Die mögen aber nur unbekannt bleiben. In der politischen Geschichte ist das Volk, oder (wenn ich die Besten weggenommen habe) der Pöbel nicht ohne Bedeutung: er fügt den Unternehmungen der hervorragenden Männer die physische Kraft bei; in der Literatur ist der Schriftstellerpöbel nur da um durch Nachahmung das Gute zu entstellen und dem Schlechten eine längere Dauer zu geben; mit Ausnahme der Zeiten, die von Originalität und Genialität träumen, wo derlei Subjekte Albernheiten auf eigene Faust treiben.
Man könnte mir einwenden, daß die Literargeschichte wenigstens für jenen Teil des Publikums ihren Wert behalte, der, andern Beschäftigungen hingegeben, nicht Zeit und Gelegenheit hat, von den Werken vieler ausgezeichneter Schriftsteller selbst Kenntnis zu nehmen, so wie daß für dasselbe Publikum, ja für einen Teil der die Literatur ex professo treibenden Personen, das richtige Verständnis jener Werke mitunter schwierig sei und daher eine Nachhilfe nötig mache. Aber nebstdem, daß letzteres schon aus dem Felde der Geschichte in das der Kritik übergeht, spare ich mir die Besprechung dieser beiden Punkte für den weitern Verfolg auf.
Mit alledem will ich nicht von der Literar-Geschichte übel gesprochen haben. Sie hat mir selbst zu viel Vergnügen gemacht, als daß ich es nicht dankbar erkennen sollte. Der Mensch will alles wissen; er soll über alles denken. Außer der Wißbegierde (ich nenne so, wenn man etwas wissen will was innern oder äußern[724] Nutzen gewährt) gibt es auch eine erlaubte, ja löbliche Neugier, die vor allem den geistreichen Menschen befällt und unabläßlich nach Befriedigung strebt. Ich eifere nur gegen den in neuerer Zeit prätendierten Nutzen der Literargeschichte selbst für die praktische weitere Fortbildung der Literaturzweige und zähle sie vielmehr jenen mitunter gefährlichen Bestrebungen zu, die indes sie einerseits die Masse der oberflächlichen Kenntnisse, will sagen: Notizen, vermehren, auf der andern Seite den Gesichtskreis ins Unermeßliche erweitern, so daß endlich jene innere Konzentration immer schwieriger wird, ohne die eine Tat oder ein Werk nicht möglich ist. Im Mangel dieser Konzentration liegt aber der Fluch unserer Zeit.
Wie wenig gering ich von der Literargeschichte denke, zeigt schon die Überschrift dieser Blätter. Ich habe nämlich versprochen nicht über, sondern zur Literargeschichte zu sprechen, also einen Teil Geschichte selbst und zwar, wie ich mich jetzt näher erkläre, zur Literar-Geschichte der Gegenwart. Daß ich hierbei, nach der Natur meiner eigenen Beschäftigungen, vor allem die Poesie im Auge habe, wird wohl jedermann schon von vornherein vermutet haben. Ich werde hierbei keine Werke beurteilen, oder Namen nennen; mir ist es um das Ganze der Erscheinung und ihre Gründe zu tun. Wenn ich hierdurch in den Tadel verfalle, den ich kurz vorher über jene ausgeprochen habe, die aus dem Boden der Geschichte gar zu gern in den der Kritik übergehen; so bleibt allerdings wahr, daß wer die Geduld hat all das Mittelmäßige und Schlechte zu lesen, das der Historiker als solcher sich nicht ersparen kann, wohl kaum je die Gabe haben wird ein berechtigtes Kunsturteil zu fällen, indes der künstlerisch Begabte nie den Ekel überwinden wird, den eine solche nichtssagende Lektüre mit sich führt. Ein Dichter aber, und ein solcher schmeichle ich mir zu sein, dürfte wohl, mit Vernachlässigung des einzelnen, seine Meinung über den allgemeinen Standpunkt abgeben dürfen.
Eigentlich ist Geschichte der Gegenwart ein Widerspruch. Die Gegenwart ist ein Augenblick, ein Jetzt, das im nächsten Augenblick in die Zukunft übergeht, von der wir nichts wissen, andererseits aber sich an die nächste Vergangenheit knüpft, die man wohl unter dem Namen der Gegenwart auf ein sogenanntes Menschenalter ausdehnen kann: so weit die Jetztlebenden sich[725] zurückerinnern; und zwar um so mehr, wenn dieser Zeitverlauf zugleich einen Wendepunkt in sich schließt, wo er denn zur Epoche wird. Ein solcher Wendepunkt hat nun in der deutschen Poesie allerdings stattgefunden und er dürfte so ziemlich mit Schillers Tode zusammentreffen. Der große Goethe hat ihn zwar um viele Jahre überlebt, aber an der Poesie zuletzt fast nur durch den Wechselverkehr mit seinem Freunde festgehalten, gab er sich von da an immer mehr und mehr den Naturwissenschaften hin und seine spätern poetischen Erzeugnisse haben, bei diesem geteilten Interesse, dem Verfalle der Poesie eher Tür und Tor geöffnet als ihr einen wirksamen Damm entgegengesetzt. Hievon, so frevelhaft es klingen mag, vielleicht später mehr.
Die erste Erscheinung dieser neuen Epoche: die Abnahme des Talents, mit einem immer sich mehrenden Beischmack von Talentlosigkeit, darf uns, was die bloße Abnahme betrifft, weder wundern noch beschämen. Die unmittelbar vorausgegangene Periode war eben das goldene Zeitalter der deutschen Poesie, ja der deutschen Literatur überhaupt. Alle Literaturen haben solche Glanzperioden, deren Gründe zum Teil erklärbar, teils so unerklärlich sind, als alle Erscheinungen der geistigen und körperlichen Natur. Nach einigen anregenden Vorläufern erscheinen ein, gewöhnlich aber zwei große Dichter, welche die Poesie mit einem Ruck auf eine bis dahin nicht geahnte Stufe erheben. Die Nation fühlt sich auf den neuen Weg hingewiesen; die Sprache gewinnt Farbe und Gestalt; gleich Gestimmte werden sich ihrer dunkeln Begabung bewußt; die der allgemeinen Richtung Widerstrebenden werden durch die Gewalt des Mittelpunktes zu einer gewissen Konzentrizität gezwungen. Selbst das Mittelmäßige arbeitet sich zur Angemessenheit und Brauchbarkeit empor. So weit ist alles erklärlich. Aber die große Masse und Bedeutenheit der Talente auf einem Punkt, verglichen mit der frühern Dürre und der darauf folgenden spätern, obgleich den Nachgekommenen das Beispiel der großen Männer mit den Gleichlebenden gemeinschaftlich ist; darin liegt das Rätselhafte der Sache.
Diese Glanzperioden haben nämlich für die nächste Zukunft etwas Gefährliches. Nationen von Geschmack und gesundem Urteil sind von der Vortrefflichkeit des Vorhergegangenen so durchdrungen daß sie in der genauen Nachahmung das einzige[726] Heil sehen und so allgemach in leeren Formalismus geraten; indes Völker, denen jene Eigenschaften im mindern Grade eigen sind, meinen das Vortreffliche zu haben, das sie nur besitzen, und sich gedrungen fühlen darüber hinauszugehen. Fortschreiten nennt man es. Unsere Landesgenossen haben diesen letztern Weg erwählt. Wie es kam lohnt der Mühe betrachtet zu werden.
Die Deutschen waren von dem Zeitpunkte an als die Faust aufhörte den Wert zu bestimmen, die bescheidenste Nation der Erde. Aus ihrer politischen Bedeutung herabgesunken, von ihren Nachbarn, nicht an löblichen Eigenschaften, wohl aber an Macht, Glanz und Bildung übertroffen, fiel es ihnen nicht ein von sich selbst groß zu denken. Sie hatten bereits eine große Literatur und sie maßten sich noch keiner Überhebung, ja kaum einer Vergleichung an. Wenn Goethe den oft wiederholten Ausspruch tat »nur die Lumpe seien bescheiden« so fühlte ganz Deutschland, erstens, daß es dem alten Herrn selbst nicht geschadet hätte, wenn er etwas bescheidener gewesen wäre; dann daß er dabei wohl nur gemeint habe, wie er eben nicht Lust empfinde, gegen irgend einen seiner Zeitgenossen demütig zu sein; worin er ganz recht hatte. Selbst die Vormänner der Literatur waren sich bewußt, als die Letztgekommenen, sich an fremden Mustern herangebildet zu haben, und sie schämten sich weder ihrer Lehrlingschaft, noch verleugneten sie ihre Lehrer. Die Anmaßungen der Schlegel, die Selbstüberhebung der Nach-Kantischen Philosophen hielten sich im Kreis der Schule und die Nation blieb bescheiden wie vorher. Es fehlte nämlich was auch den einzelnen über sich selbst aufklärt: die fremde Anerkennung.
Diese Anerkennung wurde Deutschland durch das Werk der Madame Stäel De l'Allemagne zu Teil. Obwohl sie selbst ihren Gegenstand größtenteils nur aus fremder Zurichtung kannte und bei ihrem Lob, wie ihr Vorgänger Tacitus, nach einer andern Seite aggressive Hintergedanken im Sinn hatte, so hob sich doch durch die Darstellung der geistreichen Frau, in der Weltsprache geschrieben, das literarische Deutschland wie eine neu entdeckte Insel aus dem Weltmeere der Jahrhunderte empor. Das Überraschende des Eindrucks, dort wo man nichts als Leere vermutet hatte, eine vollständige und bedeutende Literatur zu erblicken, dazu der Umstand, daß die übrigen Literaturen Europas eben[727] damals gar nichts hatten, und die deutsche, als von gestern, der Empfindungs- und Anschauungsweise von heute am gemäßesten entgegenkam, wirkte magisch und der Lichtglanz nach außen verklärte, zurückgeworfen, das Land. Hierbei ging es freilich wie mit der gerühmten Weisheit der alten Ägyptier; man lobte was man nicht kannte. Überhaupt hat die deutsche Literatur, unbeschadet ihrer Vorzüge für den der sie kennt, etwas ungemein Bestechendes für den der sie aus der Entfernung betrachtet. Das kommt von der Vermischung der Gattungen. Man mengt die Philosophie in die Poesie und dafür wieder letztere in jene. Naturwissenschaft und Geschichte strotzen von sogenannten Ideen, die in ihrer Halbwahrheit überraschen. Dadurch werden die Umkreise ins Ungeheure ausgedehnt, und man muß scharf hinsehen, um zu bemerken, daß die Mitte häufig leer ist.
In dieser Geistesstimmung fanden uns die Befreiungskriege, die den kulturhistorischen Abschluß der früheren Literaturperiode bilden, wie Schillers Tod den literarischen. Deutschland hatte damals seine Schuldigkeit getan und wohl auch mehr. Die Unabhängigkeit der deutschen Gauen war errungen. Sie hatten, und zwar, wie sie gütigst voraussetzten – allein – den Helden des Jahrhundertes besiegt, nicht auf Geheiß ihrer Fürsten, sondern gewissermaßen selbst gegen den Willen derselben, aus eigenem Antrieb, freiwillig, durch Volksmacht. Ein neues tausendjähriges Reich von Freiheit, Ruhm und Größe schien angebrochen. Wer alt genug ist, um sich jener Zeit, als ein damals schon Gereifter, lebhaft zu erinnern, wird sich leicht die Ungeheuerlichkeiten vergegenwärtigen, die das erwachte Nationalgefühl an das Licht der Sonne brachte.
Augenblicklich wirkte das noch nicht auf die Literatur. Die Schlachtensänger der Zeit hielten sich so ziemlich in den Fußstapfen Schillers, und Goethe, obgleich politisch bemakelt, blieb der Abgott der Nation.
Unglücklicherweise mußte aber der außerordentliche Mann selbst dem Verderbnis in die Hand arbeiten. Einerseits erging es ihm wie jedem der widerstrebt; indem er sich nicht fortreißen lassen will nähert er sich unwillkürlich der entgegengesetzten Seite mehr als billig. Mit Ausnahme Lord Byrons (wo denn der Engländer und der Lord auch mit in Rechnung kommen) widmete[728] er seine Anerkennung nur dem Wirkungslosen, Abgeschwächt-Ruhigem. Trotz seiner anderweitigen Beschäftigungen, konnte er doch nicht unterlassen, sich von Zeit zu Zeit poetisch auszukünden, was aber so nebelhaft, abstrus und matt geriet, daß nur eine alte Garde von Hoch-Gebildeten den Einbruch der Barbaren in sein Feldlager mühsam abhielt. Ich habe mich in dem bisherigen so ziemlich als einen Freund des Alten dargestellt; demungeachtet aber muß ich bekennen, daß der Dalai-Lamadienst der damaligen Goethianer nicht so absurd, aber bedeutend abgeschmackter war, als die Burschikosität unserer heutigen Feuer- und Wasser-Männer.
Da geschah etwas was der Urteilsfähigkeit der deutschen Nation ewig zur Schande gereichen wird. Ein obskurer Skribler schrieb falsche Wanderjahre, in denen er Goethe offen angriff, und mit einem Schlage, so zu sagen: über Nacht fielen zwei Dritteile Deutschlands von dem für alle Zeiten Ehrfurcht-gebietenden Großmeister ihrer Literatur ab. Es wurde offenbar, daß mit Ausnahme seiner Jugendwerke, Goethes übriges Wirken der Nation fremd geblieben und seine Verehrung nichts als Nachbeterei war.
Die entstandene Bresche stürmte das junge Deutschland. Die Masse war froh auf die frühern Nebelbilder und Schauessen wenigstens etwas Substanzielles zwischen die Zähne zu bekommen und die Verwilderung machte reißende Fortschritte.
Vielleicht wäre bei der sehr geringen Begabung der damals tätigen Geister die Wirkung nur eine vorübergehende gewesen, wenn nicht zwei andere Faktoren tätigst mitgewirkt hätten: die seit den Befreiungskriegen immer fortwuchernden politischen und Freiheits-Ideen, dann, und vor allem, die Hegelsche Philosophie.
Die erstern machten es jedem Tropf möglich, den Anteil des Publikums zu gewinnen, wenn er nur gegen die Gewalt ankämpfte, den Fürsten bittere Wahrheiten sagte und alles Heil vom Volke, will sagen: von seinen Lesern erwartete. Ja diese Ideen wirkten nach einer zweifachen Seite. Selbst die Dichter wurden besser als sie waren, wenn sie, beim Mangel eigener Begeisterung, sich an der allgemeinen begeisterten. Wie einer sich am Ofen wärmt wenn ihm die eigene Wärme ausgeht, oder die Bauernbursche und Mägde, die sonst kein Wort zu sagen wissen,[729] witzig, ja in ihrer Art geistreich werden, wenn das Gespräch auf versteckte Zweideutigkeiten und Unanständigkeiten fällt. Vielen dieser politischen Gedichte kann man eine gewisse Anerkennung nicht versagen, indes die Verfasser, als ihnen das Handwerk in dieser Richtung gelegt wurde, entweder ganz verstummten, oder über keinen andern gedenkbaren Gegenstand etwas nur Leidliches vorzubringen wußten.
Es ist hier nicht der Ort und ich bin wohl auch nicht im Stande die Hegelsche Philosophie philosophisch abzuschätzen, was übrigens auch nicht notwendig sein dürfte, da sie ihre Geltung bei allen Vernünftigen bereits verloren zu haben scheint. Mir ist nur um ihren Einfluß auf die übrige Literatur zu tun. Und der war nun: der maßloseste Eigendünkel. Was Wunder auch? Die Natur war durchsichtig geworden, die Schlüssel zu allen Rätseln der Welt waren gefunden. Gott war nur noch ein Rattenkönig aus Menschen, oder vielmehr er war ein Deutscher, da die Deutschen ihn nach ihrem Ebenbilde geschaffen, indem sie ihn demonstrierten und allein begriffen. Da die Entwicklung des objektiven Begriffes den immerwährenden Fortschritt notwendig in sich schloß, so konnten die Mitlebenden nicht zweifeln, ihren Vorgängern unendlich überlegen zu sein; wenn nicht an Talent, doch durch die Höhe des Standpunkts, auf den alles ankam. Wir haben erlebt, daß bei einer Schillerfeier der große Mann entschuldigt wurde, daß er sich mit der Ausschmückung von romantischen Albernheiten befaßt habe, aber daran trage seine Zeit die Schuld, und nicht er. Wenn Goethe bei den Wortführern in großer Achtung blieb, so verdankte er es weniger seinen Vorzügen als seinen Fehlern, worunter eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen Recht und Unrecht gehört, so daß das Moralische dem Tatsächlichen untergeordnet wird.
Über ihren Mangel an Talent trösteten sie sich damit, daß unsere Zeit eine Übergangsperiode sei und ihr Augenmerk ging besonders auf die Zukunft, der sie die Richtung vorzeichneten und den Weg pflasterten. Daß auf diesem Wege das Außerordentliche kommen müsse, zweifelten sie keinen Augenblick. Ich erinnere mich hierbei eines politischen Zeitungsschreibers aus dem Jahre 48, der sich wunderte, daß die allgemeine Revolution keinen großen Mann hervorgebracht habe, indes doch die Revolutionen[730] die großen Männer auf die Oberfläche brächten; was auch allerdings wahr ist, wenn nämlich eben große Männer wirklich vorhanden sind.
Dieser Eigendünkel und die damit zusammenhängende Geistesverwirrung schien durch nichts mehr gesteigert werden zu können und doch geschah es von einer entgegengesetzten Seite und zwar durch einen Wissenszweig, der für jeden Deutschen höchst interessant wäre und für den er sich den Urhebern zu wahrem Danke verpflichtet fühlen muß, nur daß die eingerissene Übertreibung und Nachbeterei auch hier dem an sich Erfreulichen den Samen des Schädlichen beizumischen verstand. Ich meine die deutsche Sprach- und Altertumswissenschaft. Es fand sich auf einmal, daß die deutsche Nation eine urpoetische sei, obgleich die aufgefundenen Gedichte, mit Ausnahme des rätselhaften Nibelungenliedes, den fremden Ursprung eingeständlich und offen an der Stirn trugen. Man postulierte antediluvianische, mastodontisch-ichthyosaurische Volksepen, oder doch Fragmente derselben, die nur ein mittelhochdeutscher Pedant zusammengesetzt und so das Außerordentliche auf mechanischem Wege hervorgebracht hatte. Die Volkslieder, die niemand gemacht hatte, wurden der rohen Masse in die Schuhe geschoben und man bedurfte von nun an nur das Volk und ein paar Pedanten um jede poetische Begabung überflüssig zu machen.
Es teilten sich dem zufolge die Dichter in mehrere Richtungen: die Ideendichter, die irgend einem halb verrückten Satze einen ganz ausgerenkten und verkrüppelten Körper anzupassen strebten; die altertümelnden und Volkston-Dichter, und endlich die Dichter des Wirklich-Wahren, die nämlich ihre eigenen lumpigen Zustände für so bedeutend hielten, daß sie dieselben von Mund auf in den Himmel der Poesie einzubürgern hofften.
Ich habe früher von der Talentlosigkeit unserer Zeit gesprochen. Damit meinte ich keinen gänzlichen Abgang des Talentes. Eine solche Zeit war nie und wird nie sein. Es gibt aber auch eine Talentlosigkeit, die dadurch entsteht, daß man sich Aufgaben stellt, zu deren Ausführung die Kräfte bei weitem nicht zureichen und endlich noch eine andere durch die Befolgung ganz falscher Grundsätze. Die richtigen Grundsätze, oder mit andern Worten: die wahre Ästhetik, wenn es ja eine solche gibt, ist ziemlich gleichgiltig.[731] Die richtigen Grundsätze sind mehr oder weniger unbewußt im Talente selbst enthalten, wie im gesunden Menschenverstande die Logik und in der Rechtschaffenheit die Moral. Wie man denn schon früher bemerkt und oft wiederholt hat, daß die großen Dichter da waren ehe es eine Ästhetik gab. Wenn auf diese Art die wahre Ästhetik entbehrlich und für jeden Fall durch das Studium der großen Vorbilder zu ersetzen wäre, so ist dafür eine falsche Ästhetik geradezu verderblich, indem sie in ihrer aus allen Fächern des Wissens zusammengestoppelten Rüstung der Waffenlosigkeit der Anschauung weit überlegen ist und indem sie Worte und Begriffe gebraucht, die auf einem andern Felde Wert, ja Würde haben, die Produktion an sich selber irre macht und einem falschen Standpunkte zutreibt. Auf einem falschen Standpunkte aber erlahmt jedes Wirken.
In dieses traurige Geschäft, das in früherer Zeit die Kunst-Philosophen betrieben, traten nun, in Folge der gestiegenen Wertschätzung der Geschichte, die Kunst-Historiker ein. Mitunter ganz gescheite, ohnehin höchst unterrichtete Leute, hatten sie nur einen Fehler, den nämlich, daß sie von ihrem Gegenstande nichts verstanden, daß sie gar nicht wußten was Poesie allenfalls sein dürfte. Außer dem lächerlichen Streben die aufeinanderfolgenden Erscheinungen der Literatur mit Notwendigkeit auseinander abzuleiten, war es ihnen hauptsächlich um die Fällung eigener Kunsturteile zu tun, wobei sie den künstlerischen Standpunkt in einem fort mit dem kulturhistorischen vermischten, und der Poesie Zwecke andichteten, die allerdings die höchsten Aufgaben der Prosa sind. Ein guter Bürger und tüchtiger Landmann muß man sein und nicht mit der Phantasie sich auf den Standpunkt eines solchen versetzen. Die politische und bürgerliche Freiheit ist ein schönes Ding, aber die Wege dazu müssen mit dem Verstande erwogen und angebahnt werden und nicht mit dem poetischen Halloh. Exempla sunt odiosa.
Aber soll denn die Literargeschichte bloß Fakten geben und die Urteile ganz ausschließen? Keineswegs; sie soll sie geben, aber als Geschichte historisch. Es ist interessant[732] zu wissen wie die Mitlebenden über einen Dichter geurteilt haben, in welcher Geltung er bei der darauf folgenden Zeit gestanden, und wie die berufenen Geister heutzutage über ihn urteilen. Es ist interessant zu wissen, daß die Academia della Crusca Tassos Befreites Jerusalem verwarf, was den Verfasser veranlaßte es umzuarbeiten d.h. zu verschlechtern, so daß man später die Verbesserung wegwarf, und das ursprünglich Verworfene bewundert. Es ist interessant zu wissen, daß Shakespeare unmittelbar nach seinem Tode von Beaumont und Fletcher verdrängt wurde und er vergessen blieb, bis anderthalb Jahrhunderte später ein Schauspieler ihn wieder zu Ehren brachte. Selbst-Urteilen sollen nur Sachkundige, und das ist man nicht wenn man weiß, oder wohl auch lebhaft fühlt, daß Schiller und Goethe große Dichter sind und Lessing ein vortrefflicher Kopf war.
Wenn auf diese Art die Nachhilfe zum bessern Verständnis der Literatur wegfällt, so ist der zweite Vorteil der Literargeschichte: daß dadurch die Summitäten der Literatur aller Zeiten und Völker dem Lesepublikum bekannt werden, noch viel problematischer. Vielleicht waren die Dichter früherer Zeiten nur darum um so viel besser als die heutigen, weil sie, mit Ausnahme der Klassiker, die fremden Literaturen gar nicht kannten. Ich spreche hier nicht von den Wissenschaften, sondern von der Poesie. Ein Dichter muß seine eigene Empfindung aussprechen und das Publikum ihn ebenso mit der eigenen genießen. So lächerlich es ist, wenn man in eine vorgeschrittene und gewissermaßen fertige Literatur die Nationalität hinterher einführen will, ebenso gewiß ist, daß nur jene Literaturen Kraft und eigentliche Geistesfrische zeigen, die vom nationellen Standpunkte angefangen haben. Mit Abstraktion, d.h. von einem fremden Standpunkte aus, zu genießen ist ein trauriges Vorrecht der Literatoren selbst, traurig, weil sie an ihrer wahren Empfindung als Menschen häufig ebensoviel einbüßen, als sie an der Erweiterung ihrer Empfindungs-Fähigkeit als Literatoren gewinnen. Es ist schon die Übersetzung fremder Dichter, besonders wenn ihre Formen schon künstlich sind, und man sie möglichst genau übersetzen will, ein halbes Unglück. Die in einer solchen Übersetzung kaum zu vermeidenden verrenkten Redensarten und das daraus entstehende Wort-Gepolter, erzeugen bei den der Original-Sprache Unkundigen die Meinung, die Dichter selbst hätten sich auf eine so ungeschickte und verworrene Art ausgedrückt, was in der Nachahmung dieser Vorbilder die schauerlichsten Wirkungen hervorbringt.[733] Vielleicht ist unsere poetische Sprache hauptsächlich durch solche wortgetreue Übersetzungen verdorben worden. Nun erst die Darstellungen, Inhaltsangaben und Lobpreisungen der Literar-Historiker, die von dem was für den Geschmack bestimmt ist, höchstens den Geruch geben.
Die traurigste Wirkung ist aber die auf das Publikum, für das man die Größen der Literatur zum Gesprächs-Stoffe macht, und dem die ausgezeichneten Geister, zu deren Hervorbringung die Natur Jahrhunderte, ja Jahrtausende gebraucht hat, in die Nähe von Wand-Nachbarn gebracht werden, von welcher unmittelbaren Nähe sie denn allenfalls in der eigenen Beurteilung ihrer Zeitgenossen Gebrauch machen und meinen: das oder jenes hätte Shakespeare besser gemacht, oder Äschylus wahrscheinlich tiefer aufgefaßt.
In Deutschland ist der Wert des Publikums nie genug erkannt worden. Schiller und Goethe haben an kleinen Orten gelebt und daher den Eindruck dieser großartigen Erscheinung nie empfunden, weshalb sie auch von der unberufenen Menge abschätziger sprechen als billig. Für seine Gedanken und Intentionen muß der Dichter selbst einstehen; ob er aber mit der Darstellung die allgemeine Menschen-Natur getroffen, kann er nur vom Publikum erfahren. Dieses ist, nicht ein gesetzkundiger Richter, wohl aber eine Jury, die ihr schuldig oder nicht schuldig nach gesundem Menschenverstande und natürlicher Empfindung ausspricht. Was diese Natürlichkeit und Unbefangenheit stört, hebt den ganzen Wert des Publikums auf. Wenn Gefallen oder Nicht-Gefallen kein Grund mehr der Billigung oder Mißbilligung ist, wenn statt dem Zeugnis des eigenen Innern das Publikum nachgebetete Meinungen und fertige Phrasen in Bereitschaft hat, dann taumelt die Literatur, Richter und Partei zugleich, schrankenlos jeder Übertreibung und Abgeschmacktheit zu.
Übrigens ist dieser Mißbrauch der Literar-Geschichte keine vereinzelte Erscheinung, sondern fällt mit der Popularisierung der Wissenschaften, den physiologischen, odischen und metaphysisch-theologischen Briefen in unsern Zeitungsblättern, kurz zu sagen: mit jener Vielwisserei zusammen, die schon unter Voraussetzung einer wahren Bildung gefährlich, bei einer falschen aber geradezu verderblich ist.[734]
Es wäre noch viel zu sagen, aber um Ihre vor allem aber meine Geduld nicht noch auf eine härtere Probe zu setzen, will ich mit einer Bemerkung schließen.
Einer unserer geachtetsten Literarhistoriker meint: nachdem Goethe die deutsche Poesie auf den höchst gedenkbaren Standpunkt gebracht, sollten die deutschen Dichter nun fünfzig Jahre lang schweigen. Vielleicht wäre der Verlust dabei nicht groß. Aber der gelehrte Mann sollte aus seinem eigenen Beispiele merken, wie schwer es ist zu schweigen, selbst über Dinge von denen man gar nichts versteht. Ich meinerseits möchte einen Gegenvorschlag machen. Wie wenn sämtliche Kunstphilosophen, Kunst-Kritiker und Kunst-Historiker fünfzig Jahre lang das Maul hielten. Ich zweifle keinen Augenblick, daß das Talent, an dem es in Deutschland nie gefehlt hat, sich auf die erfreulichste Art wieder Bahn brechen würde.
Buchempfehlung
Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.
78 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro