1184. Die Osterjungfrau.186

[953] (S. Pröhle, Harzsagen S. 160 etc. 280 etc. Thüringen u.d. Harz Bd. III. S. 5 etc.)


Die Stadt Osterode soll ihren Namen von der Göttin Ostera haben, welche auf einem Hügel an der westlichen Seite des Harzes verehrt wurde, wo ihr Bildniß stand. Später stieg an derselben Stelle eine Burg empor, deren Ruinen noch heute trotzig ins Thal hinab blicken. Sie soll von dem Sachsenherzoge Bruno um das Jahr 843 erbaut worden sein, der, wie Einige glauben, auch die Stadt Osterode gründete, die anfänglich nach seinem Namen Brunsrode hieß, später aber sich nach dem längst ausgestorbenen Geschlechte der sogenannten alten Herren von Osterode nannte.

Einer dieser Grafen von Osterode hatte nun aber eine einzige sehr schöne Tochter, welche er bei seinem Tode seinem treuen Knappen zur Bewachung übergab. Mittlerweile fiel ein Krieg ein und dies benutzte ein mächtiger Raubritter und hielt um ihre Hand an. Sie aber wies ihn ab, und zum zweiten und dritten Male. Jetzt aber kam er mit großer Heeresmacht und berannte die Burg, zwar vertheidigten sich die Schloßbewohner tapfer, allein schließlich konnten sie sich doch nicht mehr halten und da schlug nun der Knappe seinem Fräulein vor, da sie den Ritter doch einmal nicht wolle, so wolle er sie verwünschen, daß sie in dem Keller der Burg bei ihren Schätzen bleiben könne. Sie aber erwiederte, den Ritter wolle sie nun einmal um keinen Preis ehelichen, er möge sie nur verwünschen. Da hat er sie mit allen ihren Schätzen in den Keller gebracht und sich selbst als Kettenhund dazu gebannt. Er hat ihr aber die Macht gegeben, daß sie sich an jedem Ostermorgen in ihrer frühern Gestalt sehen lassen konnte. Sie kam da von der Burg in den hintern Bärengraben und wusch sich im Lerbacher Wasser. Da geschah es eines Morgens am ersten Osterfeiertage, daß ein armer Leinweber der Stadt Osterode zuwanderte. Ein geliebtes Weib lag ihm daheim krank, sechs hungrige Kinder harrten sammt der Mutter sehnlich seiner Wiederkehr, aber er kehrte mit leeren Händen zu ihnen zurück. Ein reicher Vetter, von dem er Hülfe erwartete, hatte ihn mit harten Worten abgewiesen und der weite Weg zu dem Gefühllosen war von ihm umsonst gemacht worden. Um sich ein wenig zu trösten, sang er in den herrlichen Ostermorgen hinein ein frommes Lied, das er schon als Kind gelernt hatte. Siehe da rief ihm eine fremdartige, glockenhelle Stimme einen guten Morgen zu. Der Sänger blickte nach der Gegend hin, aus welcher der Zuruf erscholl und stand wie festgezaubert bei dem Schauspiele, was sich ihm darbot. An den Wellen des Baches, der am Wege dahinmurmelte, saß nämlich ein weißgekleidetes Mädchen von blendender Schönheit und badete die wunderniedlichen, kleinen Füße, die rund und voll und weiß wie Marmor den Leinweber anleuchteten, in dem klaren Wasser. Sie erhob sich, trat auf ihn zu und sprach mit lieblicher Stimme: »Fremder, Du sangst soeben ein schönes Lied, das so recht eigens für Bekümmerte gemacht ist, möge allen, die es singen, die Hilfe so nahe sein, wie sie jetzt Dir ist. Nur einmal im ganzen Jahre ist mir erlaubt, hier an dieser Stelle zu weilen, und wer mir da begegnet und es verdient wie Du, den mache ich glücklich, wenn ihn Reichthum glücklich machen kann.[954] So höre denn: wenn die Mitternachtglocke die zwölfte Stunde verkündigt, so verlasse Deine Hütte und gehe schweigend den Berg hinan, an welchem die Trümmer der alten Burg Osterode stehen. Zwischen den eingesunkenen Mauern wirst Du eine Blume erblicken, die pflücke ab und sogleich wird Dein Auge alle die Schätze erschauen, welche der Schooß des Burgberges verbirgt und von welchen Du nehmen magst, so viel Dir beliebt. Jetzt gehe Deines Weges und bringe Deinem Weibe Trost und Hoffnung, ich muß Dich jetzt verlassen.« Wunderbar ermuthigt setzte er seinen Weg fort, denn oft schon hatte er von Freunden und Bekannten erzählen hören, wie oben in den wüsten Trümmern der alten Burg eine schöne stille Jungfrau hause, die zuweilen den Menschenkindern erscheine und sie nur selten unbeschenkt entlasse. Mit froher Hoffnung näherte er sich der Hütte, wo seine kranke Frau und seine Kinder bereits ungeduldig seiner Rückkehr harrten. Zwar konnte er ihnen augenblicklich nichts bieten als die zweifelhafte Aussicht auf die Schätze, die er in der Mitternachtstunde finden sollte, allein schon dies genügte den Armen, und der Tag schlich ihnen zu langsam vorüber, bis endlich die bestimmte Stunde schlug, wo er auch schon auf dem Burgberge stand. Bewegt und heimlich schauernd schlich er in das alte Gemäuer hinein, ein sonderbarer Glanz strahlte ihm aus einem Gewölbe entgegen, und als er dem magischen Lichte folgte, sah er, daß eine glänzende weiße Lilie, die aus dem Steinboden emporgesproßt war, den hellen Schein verbreitete. Im Hintergrunde der Halle aber saß die schöne bleiche Jungfrau, geschmückt mit einem silbergrauen Gewande und einen Kranz von weisen Rosen in den blonden Locken. Sie winkte dem Eingetretenen zu näher zu kommen und die strahlende Blume zu pflücken. Der Leinweber that, wie ihm geheißen, und brach mit zitternden Händen die Lilie ab. Kaum war sie in seinen Händen, als ein furchtbares Dröhnen im Innern des Berges entstand, der Boden dicht neben seinen Füßen versank krachend in die Tiefe und hervor stieg in rother Gluth ein gewaltiger Kessel, bis an den Rand angefüllt mit funkelnden Goldstücken. Es bedurfte einer nochmaligen Ermahnung von Seiten des blassen Burgfräuleins, ehe sich der staunende Arme von seiner Ueberraschung erholen und die Taschen und den Hut mit den glänzenden Münzen füllen konnte. Mit tiefen Bücklingen verließ er die Halle und kehrte überglücklich in seine Hütte zurück, wo die Seinigen ängstlich und erwartungsvoll seiner Rückkehr harrten. Jetzt hatte aber für sie alle Noth ein Ende, sie erkauften von dem gefundenen Schatze ein schönes Haus in der Stadt und der Leinweber konnte nunmehr statt für Andere, für seine eigene Rechnung arbeiten.

In der alten Burg haben sonst auch immer die Kinder zu spielen gepflegt, weil sie damals noch nicht so verfallen war, wie es jetzt der Fall ist, und auch die Küche sich noch in ziemlich leidlichem Zustande befand. Einstmals, als auch die Kinder da spielten und sich, wie Kinder thun, in dieser Küche etwas kochten, sprang eine eiserne Thür auf. Das eine von den Kindern lief sogleich in den Gang und es standen drei Kasten an Ketten gebunden, auch war da ein Pudelhund mit feurigen Augen, der an eine Kette gebunden war im hellen Saale. An der Wand spiegelte sich eine weiße Jungfer, die verwünscht war und kurz nach dieser Zeit von jenem armen Leinweber erlöst worden sein soll. Den Kindern kam aber doch das Grauen an und sie verließen eiligst die Burg und erzählten den Eltern, was sie gesehen[955] hatten. Diese gingen hierauf selbst nach der alten Burg hinauf, um zu sehen, ob es wahr wäre; als sie aber hinkamen, war Alles verschwunden.

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Dieselbe Sage, aber anders erzählt, steht oben Bd. I. S. 638.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 953-956.
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