1315. Die Grönnerkeel.

[1062] (S. Müllenhoff S. 105.)


Auf dem Habermarkte in Flensburg steht ein alter steinerner Brunnen, der die Grönnerkeel heißt. Sein klares reiches Wasser fällt aus vier Hähnen in ein weites Becken und versorgt einen nicht kleinen Theil der Stadt. Die Flensburger halten den Brunnen in hohen Ehren. Denn in dieser Stadt bringt der Storch die kleinen Kinder nicht, sondern sie werden aus diesem Brunnen aufgefischt. Dann erkälten sich die Frauen hierbei und müssen das Bett hüten.

Allein die Flensburger haben noch mehr Ursache den Brunnen in Acht zu nehmen. Denn weil Flensburg, welches bekanntlich ganz auf Quellgrund steht, aus dem Wasser entstanden ist, muß es einst wieder im Wasser untergehen. So lautet nämlich eine alte Prophezeiung: Einst an einem Sonntagmorgen, wenn die Leute aus der Kirche kommen, wird ein ungeheures, schwarzes Schwein wild und schnaubend durch die Straßen rennen bis an die Grönnerkeel; da wird es sich vor einen Stein stellen und ihn anfangen aufzuwühlen. Dann ist aber der Untergang der Stadt nahe. Sobald der Stein gelöst ist, wird ein Wasserstrahl hervorspringen, der bald zu einem großen unaufhaltbaren Strome wächst, der mit reißender Schnelle sich nach allen Seiten hin ergießt und die ganze Stadt in seinen Fluthen begräbt. Daher geben die Flensburger stets auf das Genaueste Acht darauf, daß kein Schwein auf ihren Straßen wühlt, und vor mehreren Jahren haben sie nur aus dem Grunde den Brunnen mit einem großen Stein bedecken lassen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 1062-1063.
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