[161] Germain war inzwischen ab und zu gegangen und kommt jetzt von außen rasch mit einem Briefe.
Die Vorigen.
GERMAIN. Herr Chapelle, soeben kommt dieser Brief, wenn ich nicht irre, durch denselben Boten des Theaters, der Ihnen früher die abschlägige –
LEFÊVRE. Stille!
Chapelle erbricht und liest.
LEFÊVRE. Dein Recht mußte dir werden. Das Gesetz ist nicht dafür da, daß es umgangen wird!
Chapelle schwankt an einen Sessel, auf den er niederfällt.
LEFÊVRE nimmt den hingefallenen Brief auf und bedeutet Germain zu gehen. Was ist?[161]
GERMAIN für sich. Literarische Familiengeheimnisse? Ab.
LEFÊVRE liest. »Protokoll über die Prüfung des Trauerspiels Nebukadnezar von Herrn Chapelle, Mitglied der französischen Akademie. Da sich diese Dichtung weder an die vorgeschriebenen Gesetze des überlieferten Dramas hält noch in den neuen Regeln, die sie aufzustellen scheint (scheint unterstrichen!), irgendeinen Anspruch auf Originalität, Reiz und Interesse machen kann, ferner, da durch die Aufführung dieser im ganzen sowohl wie im einzelnen mißlungenen Arbeit dem Publikum keine angenehme Unterhaltung, wohl aber der Kasse ein empfindlicher Nachteil erwachsen würde, so lautete das einstimmige Urteil des versammelten Personals: Nicht angenommen! Unterzeichnet: Das Komitee der königlichen Schauspieler zur Prüfung dramatischer Erzeugnisse. Sekretär: La Grange.« War La Grange nicht derjenige Künstler, der bereits früher einmal gelegentlich einige deiner Verse für zu kurz erklärte?
Chapelle schweigt.
LEFÊVRE. Aus wie vielen Versen bestand doch dein Trauerspiel?
Chapelle schweigt.
LEFÊVRE. Ich hätte nicht geglaubt, daß dein Stück eine so tragische Wendung nehmen würde! Du scheinst sprachlos geworden.
CHAPELLE. Nein, ich werde reden – reden, wenn ich mich – räche! Ich werde diesen Schauspielern ihre Blößen aufdecken, ich werde diesen Molière bis in sein Nichts zergliedern, ich denunziere die gegenwärtige dramatische Literatur an alle Akademien der Welt – nicht angenommen!
LEFÊVRE. Die beste Rache, die du nehmen könntest, wäre, daß du ein gelungeneres Trauerspiel schriebest.
CHAPELLE. Gelungeneres? Diese Histrionen würden den Sophokles durchfallen lassen, wenn sie zufällig von ihm beleidigt worden wären.
LEFÊVRE. Unstreitig besitzest du mehr Geist als Molière.
CHAPELLE. Leider!
LEFÊVRE. Mehr Witz.
CHAPELLE. Leider!
LEFÊVRE. Mehr Kraft des Ausdrucks.
CHAPELLE. Das ist es eben!
LEFÊVRE. Stürze Molière auf seinem eignen Felde! Ihr Herren von der Akademie, ich bin nur ein Notar, ein Jurist, aber ich glaube an eure großen Verdienste, doch ihr wißt sie nicht im zeitgemäßen Sinne auszubeuten. Die Bühne soll das Leben[162] mit der Kunst, die Kunst mit dem Leben vermitteln. Stellt doch Menschen hin, die nicht vergangenen Jahrhunderten, sondern der Gegenwart, nicht den Assyriern und Babyloniern, nein euren Umgebungen entnommen sind. Chapelle, schreibe auch du einmal ein Stück über – was soll ich sagen – über –
CHAPELLE. Die Juristen?
LEFÊVRE. Das ist anzüglich. Nein, nimm dir irgend eine unverfänglichere Torheit der Zeit heraus, z.B. den Gelehrtendünkel!
CHAPELLE. Unverfänglich?
LEFÊVRE. Oder den Geiz –
CHAPELLE. Hat Molière bearbeitet!
LEFÊVRE. Und die Prahlerei auch – und die Eifersucht auch. – Aber rächen mußt du dich! Edel rächen! Was fällt mir ein! Wenn man Mit halber Stimme. einen Scheinheiligen auf die Bühne brächte!
CHAPELLE. Einen Scheinheiligen?
LEFÊVRE. Einen Menschen, der äußerlich fromm und innerlich ein Fuchs ist. – Einen Schleicher, der sich in die Familien drängt – mit den Augen blinzelt – überall nur Sünde wittert und bei Licht besehen – ein rechter Heuchler ist –
CHAPELLE. Der Stoff ist gut –
LEFÊVRE. Das Ganze muß auf irgendeiner Intrige beruhen –
CHAPELLE. Allerdings –
LEFÊVRE. Es müssen verschiedene pikante Charaktere auftreten –
CHAPELLE. Jawohl, jawohl –
LEFÊVRE. Das Ganze muß ein Spiegel unserer Zeit sein, man muß glauben, die Menschen mit Händen greifen zu können –
CHAPELLE. Vortrefflich!
LEFÊVRE. Ich weiß, du wirst das machen, du hast Geist, hast Beobachtungsgabe, kennst die Menschen – du würdest in einem solchen Charakterbilde, etwa genannt: Der Scheinheilige – Großes leisten –
CHAPELLE. Möglich, möglich!
LEFÊVRE. Mir fällt dieser Stoff nur so zu deiner Genugtuung ein; Chapelle, ich mache keineswegs Prätensionen damit –
CHAPELLE. Bitte, Lefêvre! Ei, du bist ja einer der geistreichsten Menschen in Paris! Du hast Ideen, du hast Stoffe. Ja, wenn der Dichter mit solchen Menschen umgeht, mit praktischen Lebenskennern, die uns Anregungen geben, die unsere schlummernde Originalität wecken; ich sagt' es immer – ein[163] Freund, ein Mitarbeiter, und ich gebe meinem Jahrhundert etwas zu raten auf! Willst du nicht zu meiner Frau gehen? Wir frühstücken zusammen. Wir besprechen das Sujet noch einmal – bei einem Glase Wein, da ist man angeregter – verschweige aber meiner Frau noch das Unglück mit meinem Nebukadnezar, und sollte, sie's ahnen, die Treue, Treffliche, so tröste sie, Freund, hörst du? Sollte sie weinen, so – so frühstückt nur immer einstweilen zusammen – und tröste sie!
Geleitet ihn an die Tür.
LEFÊVRE. Vergiß dein Kuvert nicht! Ab nach innen.
Ausgewählte Ausgaben von
Das Urbild des Tartüffe
|
Buchempfehlung
Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.
196 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro