Sechster Auftritt


[169] Madeleine. Ein anderer Bedienter öffnete. La Roquette wird im Vorsaal sichtbar. Er erscheint in gleicher Tracht, gleicher Manier wie bei Molière Tartüffe.


MADELEINE. Das ist eine Poetenwirtschaft! Und nun steh' ich hier ganz allein – Und was ist denn das da wieder für ein – Schleicher –?

LA ROQUETTE spricht in den Vorsaal zurück. Lorenz! Wenn man nach mir fragt, so sage, ich ginge ins Gefangenhaus, um dort, wie ich gewohnt, milde Werke der Barmherzigkeit zu üben.

MADELEINE. Mein Gott, was ist denn das? Das ist ja der Scheinheilige selbst![169]

LA ROQUETTE hinaussprechend. Lorenz, hänge mein hären Gewand und mein Büßerhemd an ihren Ort und bitte, daß dich Gott erleuchten möge!

MADELEINE. Das sind die wörtlichen Umschreibungen meiner Szene! Der strenge Herr Chapelle will mich wahrscheinlich auf andere Art prüfen? Durch einen Dritten?

LA ROQUETTE tritt vor, sieht sich um und sagt nach einer Pause. Was will Sie? Wer ist Sie?

MADELEINE beiseite. Mein Himmel, ganz wie in dem Stück! Stellt sich schüchtern zum Komödie spielen an. »Ihnen sagen« –

LA ROQUETTE. Ich wünsche Herrn Chapelle zu sprechen – Wer ist Sie denn?

MADELEINE beiseite. Was soll ich nur davon denken?

LA ROQUETTE beiseite. Ein allerliebstes Mädchen! Bin ich denn nicht gemeldet worden? Er fühlt an seine Taschen.

MADELEINE beiseite. Bei Gott, er zieht sein Taschentuch –

LA ROQUETTE beiseite. Sie hat einen reizenden Wuchs! Die Schultern sind graziös geformt. Ich will mein gewöhnliches Mittel anwenden! Zieht sein Tuch.

MADELEINE beiseite. Er kennt die Szene, wie sie Molière geschrieben hat ... Es ist ein Abgeordneter der Akademie, der mich examinieren will.

LA ROQUETTE laut. Aber, Gott im Himmel, wie ist das zu ertragen, Kind, so entblößt zu gehen – wie soll man denn mit jemand reden, der seine Reize so offen zur Schau stellt ...

MADELEINE beiseite. Der Sinn der Worte ist richtig, aber er hält die Stichworte nicht. Ich bringe mein Stichwort Laut und schnippisch. »Mein Herr, was soll's? Wozu?«

LA ROQUETTE beiseite. Allerliebste kleine Hexe das! Laut. Bedecke Sie damit – o Sinnestrug! – den sündigen, schönen, Nähert sich immer mehr mit dem Tuch. abscheulichen, reizenden, schwarzen, weißen Busen, Will das Tuch ihr auflegen. kleine Eva!

MADELEINE. Mein Herr, Sie setzen Ihrer Rolle so viel Worte zu, daß ich nicht imstande bin, Ihnen zu folgen.

LA ROQUETTE. Meiner Rolle? Ich fühle nichts als die lebendigste Wirklichkeit.

MADELEINE. Ich weiß es wohl, Sie wollen ein armes Mädchen aus der Provinz auf die Probe stellen, aber Sie müssen sich auch an die Worte halten, die Ihnen Herr Molière vorgeschrieben hat.

LA ROQUETTE. Mir Worte? Herr Molière hätte mir Worte vorgeschrieben? Ha, ha! Sie liebenswürdige kleine Dame sind wohl eine im Dienst der schönen Sünde stehende Komödiantin?[170]

MADELEINE. Madeleine Béjart aus Châlons, engagiert am königlichen Theater auf sechs Monate zur Probe – Wochengage zehn Livres, Handschuhe werden geliefert. Herr Chapelle hat versprochen, sich meiner weitern ästhetischen Ausbildung anzunehmen, aber Herr Chapelle ist leider zuviel beschäftigt. Bilden Sie vielleicht Schauspieler?

LA ROQUETTE. Ha, wer bildet heutiges Tages nicht Schauspieler! Komödie will in dieser Welt ja alles spielen, und wer nicht selbst spielt, studiert die Rollen wenigstens andern ein. Ja, meine ästhetischen Grundsätze, meine Kenntnisse der Deklamation und Aktion Er rückt immer Madeleinen nach. auf so liebenswürdige anmutige Erscheinungen anzuwenden, wie Sie, meine kleine Mademoiselle Béjart aus Châlons, engagiert am königlichen Theater auf sechs Monate zur Probe, Wochengage zwanzig Livres –

MADELEINE. Zehn, nur zehn, mein Herr!

LA ROQUETTE. Warum nicht zwanzig, aus Privatmitteln, süßer Engel? Handschuhe – seidene Kleider – ein hübsches Stockwerk zur Miete in der Rue Richelieu, Delikatessen für die Tafel werden geliefert, Pasteten, Trüffeln –

MADELEINE. Wie versteh' ich Sie!

LA ROQUETTE. Dramaturgische Anfänge, mein süßes Kind – ... ich schwöre dir, daß mich zu einem Wesen wie du eine plötzlich erwachende Kunstliebe veranlassen könnte – ... Er hat den Arm um sie geschlungen.


Quelle:
Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1912], S. 169-171.
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