Einundvierzigstes Kapitel.

Am Kanal.

[217] Herr Beil eilte durch eine Hinterthüre auf den Hof, und da er hier mit der Oertlichkeit wohl vertraut war, so überstieg er ein paar Zäune und befand sich in kurzer Zeit auf der offenen Straße.

Es mochte nahe an Mitternacht sein, als er so einsam zwischen den Häusern langsamen Schrittes dahin ging; er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und war so in tiefe Gedanken versunken, daß er es nicht einmal bemerkte, wie der scharfe Nachtwind, da er ohne Hut war, sein Haar empor lüpfte und von der Stirne wehte. Auf den Weg, den er machte, achtete er nicht, wenigstens blickte er nicht in die Höhe und schien sogar nach einiger Zeit verwundert, als er sich auf einmal durch eine Barrière aufgehalten fühlte, gegen die er hingeschlendert war, ohne gerade heftig daran zu stoßen.

Diese Barrière befand sich ziemlich weit außerhalb des Mittelpunkts der Stadt, in einer öden und verlassenen Gegend, wo nur noch hie und da einige Häuser standen; sie lief am Ufer des Kanals hin und hatte den Zweck, Jemand, der vielleicht sorglos umherspazierte, vor dem Hineinfallen in das Wasser zu bewahren, denn der Kanal war sehr tief und auch ziemlich reißend, da er ein paar hundert Schritte abwärts von dieser Stelle in den Fluß mündete, der eine Seite der Stadt in einem weiten Bogen umschloß.

Unser Nachtwandler lehnte sich mit beiden Armen auf das Geländer und schaute gedankenvoll in das dunkle Wasser hinab. Man mußte das Auge zuerst an die Finsterniß da unten gewöhnen,[218] ehe man bemerken konnte, wie sich der Wasserstrom zwischen den engen Ufern dahin bewegte, oder man mußte abwarten, bis droben am Himmel die fliegenden Wolken zuweilen ein Stück des Mondes oder ein paar Sterne entschleierten, deren Licht alsdann auf das trübe Wasser fiel und es auf Augenblicke erhellte. Das Ohr vernahm schon deutlicher das feindselige Element drunten, denn wie dieses bei den Ufermauern vorbeifloß, schliff es in allerhand Tönen gegen die Steine derselben, rauschte in einer unfernen Ecke, und gluckste dort, Wirbel bildend, als lechze es nach irgend einer Beute.

Lange schaute Herr Beil so hinab auf den Kanal, und immer folgten seine Blicke dem Laufe des Wassers. Es war ihm gerade, als winke es ihm zu folgen, und nachdem er so eine Zeit lang träumend gestanden, hatte er alle Schauer vor einem kalten nassen Tode überwunden und fühlte eine wahre Sehnsucht, den flüsternden Wassern zu folgen. Anfangs rauschte das eintönig an seinem Ohr vorüber; nach und nach kam aber ein gewisser Takt und eine Melodie hinein, eine einfache, kindliche Melodie, welche die Fluthen mit leisem Tone immer und immer fort zu singen schienen. Er hatte sie schon oft gehört, diese Weise, und wie er nun die Hand vor die Stirne legte und darüber nachdachte, so fiel es ihm ein, es sei ja nichts Anderes, als das Wiegenlied, mit welchem ihn die früh verstorbene Mutter so oft in den Schlaf gesungen.

Richtig! das war es; es waren dieselben weichen, schläfrigen Töne, und als er wieder eine Zeit lang hinab gelauscht, da meinte er auch Worte zu vernehmen; nur waren sie anders, als die, welche damals zum Wiegenlied gesungen wurden. Die hier erzählten von einem hellen lichten Tage, dem sie aus der finsteren Nacht entgegen fließen, und von lachenden Gefilden, mit Blüthen und Früchten bedeckt, so unendlich verschieden von dem kalten, schmutzigen Lande, das jetzt ihre Ufer bildete. – Und Ruhe, Ruhe gibt's[219] da unten, flüsterten sie, – angenehme behagliche Ruhe; – komm und folge uns! –

Er beugte sich tief auf das Wasser hinab und dachte auf einmal klar und hell an seine Jugendzeit, wo er sich oftmals im Strome gebadet bei einer Stelle, die besonders reißend war, wo tückische Wirbel Alles in die Tiefe zogen, was er damals als rüstiger Schwimmer nicht beachtet. Aber eines Tags, als er auch wie der so keck hinein sprang, schien sich der Flußgott über diese Verwegenheit zu erzürnen und hielt ihn drunten beim Fuße fest, – das war in der That seine erste schreckliche Idee, als er sich unten gehalten fühlte: in Wahrheit aber war er mit dem Fuße in eine Faschine gerathen und konnte nicht wieder los kommen. Die Sekunden, welche er sich da unten bemüht hatte, den Fuß loszureißen, schienen ihm lange, lange Jahre zu sein; als er aber fühlte, daß es nicht ging, ergab er sich ruhig in sein Schicksal, öffnete weit die Augen und sah tief unten im grünen Wasser mit Verwunderung, wie so seltsam das Sonnenlicht auf der Oberfläche sich spiegelte und strahlte, wie der ganze Fluß einem hellgrünen Kristallgewölbe glich, auf dem sich tausendfache Strahlen brachen, – einem Feenpalast mit unsichtbarer, seltsam klingender Musik, denn auch hier summten und rauschten ihm die Wasser in den Ohren und tönten jenes bekannte Lied; nur ward es schwächer und immer schwächer, endlich wurde die Melodie zerrissen und unverständlich, obgleich die unsichtbaren Sänger immer näher zu kommen schienen, bis sie zuletzt dicht sein Haupt umringten und ihn betäubten mit wilden Tönen, mit Sausen, Rauschen und Klingen, in ganz leiser Weise und doch so eindringlich und verständlich. – Und darauf war er todt, gestorben ohne Schmerz und Klage, – so glaubte er wenigstens damals, in Wirklichkeit aber brachte den Ohnmächtigen ein tüchtiger Taucher an die Oberfläche und somit in's Leben zurück. –[220]

Daran dachte er jetzt, und wie der Wassertod so gar nichts Unbehagliches oder Schreckliches habe. Heute war es freilich dunkel; kein Sonnenstrahl erhellte das Wasser, aber das erschien ihm um so besser; er sah da nichts mehr, was ihn an das freundliche Leben draußen gemahnt hätte, er konnte die Augen getrost schließen, um abzuwarten, bis jener geheimnißvolle Gesang näher und immer näher komme.

Schlafen, schlafen – Ruhe! flüsterte es drunten; und eine andere Stimme sagte etwas dazwischen, was ihm schrecklich war, aber doch wieder Trost verlieh. Er hatte nämlich den Blick einen Moment gegen den Himmel erhoben und bemerkte da einen klaren glänzenden Stern, der strahlend im blauen Lichte die Wolkenmasse durchbrechen zu wollen schien. Dabei hatte er plötzlich an sie gedacht, wie ein Blitz hatte ihr Bild seine ganze Seele erfüllt und darauf grauste es ihm eine Sekunde lang vor dem finsteren Wasser, um ihn gleich darauf wieder mächtiger hinzutreiben. Der Stern verschwand, das Licht in seinem Herzen erlosch, und es war dort wieder nächtlich finster. Er beugte sich abermals über das Wasser herab und sogleich begannen die Wellen wieder ihre beruhigende, verständliche Melodie; schlafen, schlafen – Ruhe! sangen einige, und andere, die vielleicht wußten, daß er ein paar Augenblicke vorher an das Mädchen gedacht, rauschten dazwischen und murmelten: sie wird dir folgen, – sie wird dir gewiß nachfolgen, – o sie kommt auch noch zu dieser Stelle, und wenn sie vor uns zurückschaudert, so singen wir ihr alsdann gerade wie dir heute ein beruhigendes Wiegenlied, und wollen ihr getreulich erzählen, daß du voran gegangen und drüben auf sie warten werdest. – Gewiß, sie kommt, glaube uns, wir sind mitleidig und gut, und wir wollen ihre Seele rein waschen, daß sie es vermag, in herrlicher Klarheit vor dich hinzutreten. – –

Ach! jede Wasserfläche hat für ein tief betrübtes und zerbrochenes[221] Herz etwas so unendlich Beruhigendes und zugleich Verführerisches. Es ist gefährlich, an stillen Wassern vorüber zu gehen, wenn Einem die Seele mit Kummer und Schmerz beladen ist; anfänglich beugt man sich ohne Absicht auf die Fluthen nieder, tiefer und immer tiefer, und kann den Blick nicht mehr wegwenden von der geheimnißvollen Fläche. Ist doch da unten ein ewiges Vergessen zu finden für Alles, was uns hier im Leben geängstigt und bedrückt.

Er, der einsam hier an der Barriere stand, hatte dieselben Gedanken, und sein Auge erweiterte sich, als er nun mit sich im Reinen war und so tief sinnend auf das dunkle Wasser sah. Er vermochte es nicht, den Blick abzuwenden, während er hastig die letzte Scheidewand überkletterte, die zwischen ihm und dem Tode stand. Erst, als er tief athmend sich jenseits derselben befand, brachte er es über sich, noch einen Blick rückwärts zu werfen auf die Stadt, deren Häuser still und finster da lagen. – –

Doch wie er so um sich schaute, faßte er unwillkürlich wieder die Schranke hinter sich fester mit den Händen, denn mit einem unerklärlichen Entsetzen bemerkte er, nicht zwei Schritte von sich, in unbestimmten Umrissen eine Gestalt, die gerade so an der Barrière lehnte, wie er einen Augenblick vorher. Sie war in einen weiten dunkeln Mantel gewickelt und hatte entweder ein Ende desselben um den Kopf geschlungen oder ihn mit einer Kaputze verhüllt, denn man bemerkte weder Schultern noch Hals; das Ganze war nur eine unförmliche schwarze Masse, die aber ein Gesicht hatte, denn Herr Beil sah deutlich zwei Augen glänzen, die ihn forschend zu betrachten schienen.

Daß sich seine Nerven in diesem Augenblick in höchster Aufregung befanden, wird uns Jeder glauben, und ebenso, daß er mehr als überrascht war, hier in der stillen Nacht in tiefer Einsamkeit, wo er sich fern von jedem menschlichen Wesen glaubte,[222] so plötzlich und unverhofft beobachtet zu werden. Seine Seele war noch wenige Momente vorher trotz seines schrecklichen Vorhabens so ruhig gewesen, und jetzt fühlte er mit einem Male sein Herz heftiger schlagen; eine unerklärliche Furcht bemächtigte sich seiner, bannte ihn fest und zwang ihn sogar, fortwährend die beiden leuchtenden Augen zu betrachten, die ihn bewegungslos anstarrten.

Wußte die unheimliche Gestalt, was ihn hieher getrieben, hatte sie sein Inneres ergründet, – konnte es wohl ein menschliches Wesen sein, was so unbeweglich da lehnte, und, wie es schien, auf den Moment begierig war, wo er als Selbstmörder enden würde?

Er wich unwillkürlich einen Schritt auf die Seite, hielt aber das Geländer mit beiden Händen fest, und er vermochte es nicht, den Blick von dem Wesen neben ihm abzuwenden. Seine unerklärliche Angst vor dieser Gesellschaft vergrößerte sich immer mehr, und es ist unbegreiflich aber wahr: er, der einen Augenblick vorher den Tod gesucht, fürchtete sich jetzt, diesem Wesen den Rücken zu kehren, indem er dachte, es könnte vielleicht unvermuthet über ihn herfallen und ihn in den Kanal hinabstürzen.

Aber es blieb ruhig an seiner Stelle; nichts regte sich an ihm; nur blickten die gespenstigen Augen immer herüber.

Was sollte er thun? Er hatte sich mit dem Gedanken an den Tod vertraut gemacht, doch wollte er endigen in stiller, verschwiegener Nacht, aber nicht indem er einen so sonderbaren Zuschauer hinter seinem Rücken ließ, der Gott weiß was beginnen konnte, sobald er in den Kanal gesprungen.

Und das konnte ihm am Ende doch gleichgültig sein! – – Aber es war ihm nicht gleichgültig; er hätte nicht ruhig sterben können bei dem Gedanken, diese seltsamen Augen würden jetzt nach ihm schauen, während er untersinke, und das Wesen selbst eine laute Lache aufschlagen, sobald ihn die Fluthen verschlungen.[223]

Es trat eine peinliche Pause ein, während welcher die Augen immerfort herüber blickten und Herr Beil abermals einen halben Schritt auf die Seite wich.

Endlich machte die Gestalt eine kleine Bewegung, sie richtete sich etwas in die Höhe, man bemerkte, wie sie mit großer Ruhe unter dem Mantel die Arme über einander schlug. Dann sprach sie mit einer tiefen klangvollen Stimme ein einziges Wort, aber dies Wort, an sich unbedeutend, durchzuckte den Körper des Anderen auf eine sehr unangenehme Art.

Die Gestalt sagte nämlich wie Jemand, der lange vergeblich gewartet, mit fragendem Tone: »Nun –?«

»Nun,« wiederholte Herr Beil, indem er scheu auf die Seite blickte. – »Nun? – Was nun?«

»Ich meine, ob es bald vor sich geht,« erwiderte das seltsame Wesen; »ich habe jetzt schon lange genug darauf gewartet.«

»Und was soll vor sich gehen?« fragte schaudernd der Andere mit kleinlauter Stimme. »Ich glaube nicht, daß ich Jemand hieher gerufen, um zuzuschauen, was hier vielleicht geschehen könnte.«

»Gewiß nicht,« sagte die Gestalt, »ich bin nicht mit Worten gerufen worden, aber es zog mich auf eigenthümliche Weise daher, und da ich nun einmal da bin, möchte ich nicht lange mehr vergeblich warten; die Sache könnte wohl vor sich gehen, das Vorspiel war lange genug.«

»Und wer bist du?« fragte Herr Beil mit gesteigertem Entsetzen, »daß es dir ein teuflisches Vergnügen macht, zuzuschauen, wie ein unglücklicher Mensch, dem das Dasein zur Last wurde, seinem traurigen Leben ein Ende macht?«

»Wer ich bin, thut nichts zur Sache,« entgegnete die Gestalt, »vielleicht bin ich der Schutzengel der Selbstmörder und habe die Macht, ihnen ein sanftes Ende zu geben, vielleicht bin ich auch[224] sonst ein Wesen, das besonderen Geschmack an den Narrheiten der Menschen findet.«

»An den Narrheiten der Menschen!« wiederholte der Andere; »kann man wohl eine That Narrheit nennen, deren Beweggründe man nicht kennt und begreift?«

»Jeder Selbstmord ist Narrheit und Feigheit,« antwortete das Phantom, indem es sich abermals behaglich an die Brüstung lehnte. »Nur ein Narr und ein Feiger verläßt freiwillig diese Welt: der Erstere, weil er seine Verhältnisse Herr über sich werden ließ, der Andere, weil er nicht den Muth hat, ein vielleicht trauriges Leben bis an sein natürliches Ende zu tragen.«

»Ah! du fühlst es nicht, wie schwer es ist, von dem Licht der Sonne, von einem Dasein, selbst dem ärmlichsten, Abschied zu nehmen, sonst würdest du eine solche That nicht feige nennen.«

»Der Muth, der vor den Augen der gewöhnlichen Welt vielleicht dazu gehört, eine Pistole vor seiner eigenen Stirne abzubrennen, oder in's Wasser zu springen, ist kein wirklicher Muth; es ist das mehr ein Ausbruch der Verzweiflung, unterstützt von Nervenaufregungen, der so mit einem Schlage ein ganzes Leben hinter sich wirst, weil der Selbstmörder, wie schon gesagt, zu schwach war, um eine lange Reihe von traurigen Jahren zu durchleben.«

»Und du glaubst, es sei kein Fall denkbar, wo der Selbstmord zu entschuldigen sei?« meinte Herr Beil mit bitterem Lachen.

»Zu entschuldigen nie,« entgegnete die Gestalt, »zu verzeihen nur in einem einzigen.«

»Und dieser einzige Fall –?«

»Es ist nicht der deinige.«

»Aber nenne ihn mir.«

»Du wirst ihn vielleicht nicht einmal begreifen, ja du kannst ihn unmöglich verstehen.«[225]

»Wer weiß! Nach den harten Worten, die du vorhin zu mir gesprochen, möchte ich wohl wissen, unter welchen Bedingungen du den Selbstmord entschuldigen würdest.«

»Nun meinetwegen,« sagte die Gestalt, indem sie sich wieder etwas empor richtete; »man solle einem Sterbenden keine Bitte abschlagen, und da du ein solcher bist, so will ich dir meine Ansicht mittheilen. – Das Verbrechen, von dem wir eben sprachen, könnte ich, wie gesagt, nur in einem einzigen Falle entschuldigen, das wäre nämlich, wenn ein Selbstmörder wieder in's Leben zurückgerufen würde und er dann von neuem Hand an sich legte, um so dem Schlimmsten, was einen Menschen treffen kann, dem allgemeinen Hohne, der allgemeinen und verdienten Verachtung zu entgehen.«

»Dem Hohne und der Verachtung!« versetzte der Andere, und seine Zähne klapperten auf einander. – »Aber nein, nein!« rief er nach einer Pause leidenschaftlich, »ich weiß, wer du bist, du bist der Teufel! Du willst mich von meinem Glücke zurückhalten, um die Lust zu haben, mich noch Jahre lang quälen zu können.«

Nach diesen Worten lachte das Phantom laut auf, aber es war ein gellendes, unheimliches Gelächter. – »Nein, nein,« sagte es, »ich bin nicht der Teufel, – vielleicht mit ihm verwandt; die trüben Leidenschaften, die sich deines Gehirns bemeistert haben, lassen dich völlig unklar denken; wenn ich der Teufel nach euren Begriffen wäre, so müßte ich an deinem Schritt meine Freude haben, denn deine Seele wäre mir gewiß und ich bekäme sie bald. – Aber beruhige dich: für euch Selbstmörder gibt es weder Teufel noch Engel, weder Belohnung noch Strafe, und das ist gerade eure Strafe; mit dem Sprung in's Wasser laßt ihr all' eure Hoffnung hinter euch. Diesseits könnt ihr nicht mehr Buße thun, um ein ewiges Leben, an das wir ja Alle glauben wollen, zu erringen; denn ein ewiges Leben, wenn auch voll Noth und Qual, aber doch mit einem Schimmer von Hoffnung, ist[226] nicht für euch: ihr habt das Anrecht daran freiwillig weggeworfen.«

»Ah!« machte der Andere, »das ist eine seltsame Ansicht. Ich hoffe sehr auf eine bessere Zukunft.«

»Aber vergeblich; was du diesseits verachtungsvoll wegwirfst, wird man dir nicht jenseits entgegenbringen. – Aber nun laß uns den unnützen Wortstreit enden. Mache dein Geschäft ab; ich möchte gern nach Hause.«

»So geh' deiner Wege!« rief Herr Beil mit schmerzlichem Tone. »O, wärst du nie gekommen, um mich zu belauschen, Alles wäre nun vorüber, während so –«

»Dein Entschluß wankend geworden ist?« fragte die Gestalt.

»Deine Augen, die so starr auf mich geheftet sind, beunruhigen mich. Ich glaube, während ich in's Wasser spränge, würden sie schrecklich, entsetzlich immer näher auf mich eindringen.«

»Da hast du Recht; das wird auch der Fall sein, denn ich habe mir einmal fest vorgenommen, deinem Ende beizuwohnen, ich interessire mich dafür und werde nicht von der Stelle weichen.«

»Das will ich erwarten,« sprach Herr Beil zähneklappernd, indem er sich an das Geländer lehnte, und, wie es vorhin die Gestalt gemacht, ebenfalls seine Arme, die aber heftig zitterten, über einander schlug.

Es entstand eine längere Pause; endlich sagte der im Mantel mit einem Anflug von Heiterkeit in seiner Stimme: »Mir scheint, wir haben hier Beide vor, eine seltsame Soirée zu begehen. Du bist der Wirth, ich bin zur Komödie eingeladen oder meinetwegen auch unberufen erschienen. Nehmen wir also an, ich sei der Gast, so finde ich es doch nicht mehr als billig, daß du für meine Unterhaltung Sorge trägst. Und dazu will ich dir ein gutes Mittel vorschlagen: erzähle mir deine Geschichte so kurz oder so lang du magst, erzähle mir vor allen Dingen, was dich[227] hieher getrieben, und ich will dir nachher meine offenherzige Meinung sagen, wie groß deine Narrheit eigentlich ist.«

»Und wenn du meine Narrheit, wie du es nennst, alsdann nicht übermäßig groß findest,« entgegnete Herr Beil, »willst du dann ruhig deiner Wege gehen und mich meinem Schicksal überlassen?«

»Das ist eine Bedingung,« versetzte nun wirklich lachend das Gespenst, »und wenn ich sie eingehe, so kann ich das nur thun, indem ich dir ebenfalls eine stelle.«

»So laß hören!«

»Wenn ich zugebe, daß deine Narrheit klein ist, so will ich mir also das Vergnügen versagen, dich in den Kanal springen zu sehen; ist aber deine Narrheit groß, so schiebst du dein Vorhaben auf, bis – wir uns wieder gesehen.«

»Es gilt,« sprach Herr Beil nach längerem Ueberlegen.

Und darauf wandte er sich, obwohl zögernd, gegen die sonderbare Gestalt, die wieder unbeweglich wie vorher an dem Geländer lehnte, und erzählte mit geflügelten Worten seinen traurigen Lebenslauf, wie er schon als Kind mit seiner schwächlichen halbverwachsenen Gestalt der Spielball aller Launen seiner Kameraden gewesen, wie seine Eltern ihn nicht geliebt, sondern gegen die andern Geschwister zurückgesetzt, und wie bei all' den Kränkungen, die er erduldet, das Schlimmste gewesen sei, daß er ein weiches, fühlendes Herz erhalten, das alle Menschen mit inniger Liebe umfaßt, und das nun doppelt schmerzlich empfunden, wie man ihn überall zurückgestoßen. – Seine Leiden vermehrten sich mit den Jahren, man brachte ihn mit großer Mühe als Lehrling unter, und als er ausgelernt hatte, fand sich lange keine Stelle für ihn, er mußte Jahre lang in seinem Geschäfte die niedrigsten Arbeiten versehen, und als er endlich die Stelle erhielt, in der wir ihn kennen gelernt, mußte er sich mit einem Gehalt begnügen, der zu wenig zum Leben, zu viel[228] zum Sterben war; er mußte dabei alle Launen des Prinzipals ertragen und er that das wohlgemuth, bis jene beiden Kinder in das Haus kamen, bis ihm Marie erschien, bis sein Herz durch die Liebe zu ihr so namenlos unglücklich wurde.

Als er in seiner Erzählung an diese letzte Zeit seines Lebens kam, zitterte seine Stimme und die Thränen tropften ihm langsam aus den Augen. Er schilderte mit glühenden Farben seine Liebe zu dem Mädchen und die thörichten Hoffnungen, die er genährt, – Hoffnungen, die er aber gern unterdrückt hätte, wenn sie glücklich geworden wäre. Nun aber kamen jene Vorfälle, und davon sprach er dem Phantome gegenüber mit fieberhafter Hast; es drängte ihn, über diese schrecklichen Stunden hinüber zu kommen. Er erzählte von dem vergangenen Abend, von seiner Unterredung mit ihr, von seinem festen Entschlüsse, das Leben endigen zu wollen, von seinem Gange durch die dunklen Straßen, von seiner Ankunft hier am Kanale und sogar von der Melodie, die ihm das Wasser vorgesungen, von dem alten Wiegenliede – schlafen – schlafen – Ruhe! –

»Und nun bin ich fertig,« sagte er, als er geendet; »aber die Ruhe, mit der ich hierher ging, ist aus meinem Herzen verschwunden. Ich war nicht mehr unglücklich, jetzt bin ich es wieder, o namenlos, namenlos unglücklich! – Und nun sprecht nach Eurer Ueberzeugung, bin ich thöricht oder bin ich es nicht?«

Bei diesen letzten Worten schlug er die Hände vor's Gesicht und beugte den Kopf tief hinab auf das Geländer.

Einige Augenblicke hörte er nichts als das Rauschen des Wassers, dann vernahm er die Stimme des seltsamen Wesens neben ihm; und diese Stimme, bis jetzt hart und scharf, klang nun weich und milde. »Ich habe deine Geschichte angehört,« sagte es »und muß gestehen, daß allerdings viel Unglück darin vorkommt, aber nicht genug, daß ich dir, wie wir bedungen, mit[229] einem Worte die Erlaubniß geben dürfte, dein Leben zu endigen. Denk' daran, was du mir versprochen, lebe, bis wir uns wieder sehen, und glaube mir, wir sehen uns bald wieder. Sei auch versichert, daß du meinem Blicke nicht entgehst, und wenn du je dein gegebenes Wort brechen und doch zum Selbstmörder werden wolltest, so schaue vorher auf die Seite, du wirst meine Augen auf dich gerichtet finden, dich warnend und zurückziehend, wie ich es in dieser Stunde gethan. – Und nun lebe, und lebe so gut du kannst!« –

Damit schwieg die Stimme, und als sich der junge Mann ein paar Minuten nachher empor richtete, um einige Worte zu entgegnen, bemerkte er zu seinem größtem Entsetzen, daß die Gestalt neben ihm verschwunden und nirgends mehr zu sehen war. Und doch hatte er weder einen Tritt noch das Rauschen des Mantels vernommen. Er war wieder ganz allein in der Nacht, Alles um ihn her in tiefe Finsterniß gehüllt, nur der Himmel über ihm sah etwas lichter aus, und der glänzende Stern mit dem bläulichen Lichte strahlte in heller Pracht auf ihn hernieder.

Zu gleicher Zeit schlugen die Kirchenglocken klar und deutlich ein Uhr nach Mitternacht.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Hackländer: Europäisches Sklavenleben, 5 Bände, Band 2, in: F.W.Hackländer’s Werke. Stuttgart 31875, S. 217-230.
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