97.

Nicht Jeder, der sein Antlitz schmücket,

Versteht's sich Liebreiz zu verleih'n;

Nicht Jeder, der da Spiegel formet,

Versteht's ein Iskĕndēr zu sein.

Nicht Jeder, der mit schiefer Mütze

Sich stolz und trotzig niedersetzt,

Versteht es Kronen auch zu tragen,

Die Herrschaft wahrend unverletzt;

Hier handelt's sich um tausend Dinge

So dünn wie Haare und so fein:

Nicht Jeder, der das Haupt sich scheret,

Versteht's ein Kălĕndēr zu sein.

Gar löblich wär' es, wenn du lerntest,

Was Treue und was Glaube sei:

Versteht ja doch der nächste Beste,

Was Härte sei und Tyrannei.

Als Punkt, um den der Blick sich drehet,

Erkor dein holdes Maal ich mir:

Denn was die selt'ne Perle gelte

Versteht ja nur der Juwelier.

Den Bettlern ähnlich, diene nimmer

Um einen ausbedung'nen Lohn:

Denn wie man Diener gut behandle

Versteht der Freund von selber schon.

Versenkt in meines Auges Wasser,

Was thu' ich, das mich retten kann,

Da Jeder nicht die Kunst verstehet

Zu schwimmen in dem Ocean?

Ein Sklave bin ich jenes Zechers,

Der alles Heil den Flammen weiht

Und sich auf Alchimie verstehet,

Deckt ihn gleich nur ein Bettlerkleid.[555]

Mein armes Herz, das liebestolle,

Verspielte ich und sah nicht ein,

Dass auch ein Menschenkind verstehe

Wie Peris anmuthsvoll zu sein.

Wer da zum König ward der Schönen

Durch Wuchs und holdes Angesicht,

Macht eine Welt sich unterthänig,

Versteht er erst was Recht und Pflicht.

Hafisens liebliche Gedichte

Hat zu beachten nie verschmäht,

Wer einen zarten Sinn besitzet

Und das Reinpersische versteht.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 553-557.
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