55.

Macht mich auch des Herzens Feuer

Einem Weinfass ähnlich gähren,

Muss ich doch, verschloss'nen Mundes,

Schweigend mich mit Blute nähren.

Wer des Liebling's Lippe wünschet,

Trachtet nach dem eig'nen Leben:

Sieh, mit aller Kraft der Seele

Richtet sich darauf mein Streben!

Wird vom Grame frei zu werden

Meinem Herzen je gelingen,

Wenn der Götzen Locken-Inder

Stets mein Ohr versieht mit Ringen?

Mein Bekleiden mit der Kutte

Soll nicht Frömmigkeit bedeuten;

Hundert gar geheime Fehler

Berg' ich d'runter vor den Leuten.

Ich, der nur den reinsten Inhalt

Einer Humpe will geniessen,

Könnte eines Wirthes Worten

Freventlich mein Ohr verschliessen?

Eig'ner Tugend zu misstrauen? –

Gott soll mich davor bewahren!

Nur dass ich zuweilen trinke

Mögt ihr als gewiss erfahren.

An dem Tage der Vergeltung

Hoffe ich, dass Gottes Gnade,

Trotz der Feinde, meine Schulter

Nicht mit Sünden überlade.

Für zwei Körner gab mein Vater

Eden's Glück und seine Ruhe;

Ungerathen will ich heissen,

Wenn ich nicht um Ein's es thue.

Wenn auf diese Art der Sänger

Einfällt in den Ton der Minne,

Raubet mir das Lied Hafisen's

Bei dem Reigentanz die Sinne.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 2, S. 347-349.
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