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[531] Als die Stuttgarter am Morgen nach dieser verhängnisvollen Nacht erwachten, wurden sie von zwei beinahe ganz unglaublichen Nachrichten überrascht. Der Herzog sei, statt außer Landes verreist zu sein, in dieser Nacht zu Ludwigsburg schnell gestorben. Er war ein gesunder, kräftiger Mann gewesen, dem mancher, der ihn gesehen, wohl noch zwanzig – dreißig Jahre gegeben hätte. Die Klagen um seinen Tod verstummten beinahe vor der Freude über eine andere Nachricht; der Jude Süß sei mit mehreren der höchsten Hofherren im Ludwigsburger Schloß gewesen, als der Herzog so plötzlich starb; er habe sich alsobald, nachdem er die Leiche gesehen, aufs Pferd geschwungen und sei halb wahnsinnig Stuttgart zugeritten; Herr von Röder aber, ein Mann, mit dem sich nicht spaßen lasse, habe ihn eingeholt und bewacht nach Stuttgart geführt. Man lachte über die sonderbare Täuschung des Juden, als er nämlich von der Frau Herzogin, welcher er noch in der Nacht aufgewartet hatte, um zu kondolieren, heraustrat und eine Eskorte nach Haus verlangte, weil er wichtige Akten holen müsse, schloß sich ein Lieutenant mit sechs Mann an ihn an. Am Ende des Korridors machte ihm ein Hauptmann das Kompliment und folgte mit zwölf Mann; jener meinte zwar lächelnd, »es sei zu viel Ehre«, als er aber an Lanbeks Haus um die Ecke bog, und vier Schildwachen vor seinem Palais bemerkte, als er oben an der Treppe Bajonette blitzen sah[531] und Lea bleich, verstört und weinend ihm entgegenstürzte, da merkte er, welche Stunde geschlagen habe, und rief: »Ciel, je suis perdu!«

Obgleich das Testament des verstorbenen Herzogs im Fall seines Todes eine Administration bestellt hatte, welche seinen Ministern angenehmer gewesen wäre, so übernahm doch Herzog Rudolph von Neustadt, trotz seines hohen Alters, als der nächste Agnat, die Administration, und das Land fühlte sich erleichtert und zufrieden dabei. Er ließ, außer anerkannt schlechten Menschen, jeden in der Würde, in der er unter der vorigen Regierung stand, und es war dies wirklich eine Art von Gnadenakt, wenn man bedenkt, daß früher zwei Dritteile aller Ämter im Lande gekauft worden waren. Nur einer war nicht zufrieden mit dem Amt, das ihm der Herzog Administrator mit den huldreichsten Ausdrücken bestätigt hatte; es war der junge Lanbek. Er wurde nicht nur als Expeditionsrat aufs neue ernannt, sondern, als der alte Röder, im Feuer der Freundschaft für den Landschaftskonsulenten, dessen Sohn als einen klugen Kopf und trefflichen Juristen schilderte, wählte ihn der Herzog sogar in die Kommission, die den Prozeß gegen den Juden Süß zu führen hatte. Der alte Lanbek fühlte sich dadurch nicht wenig geehrt und nannte seinen Sohn mehrere Male den Stolz und die Stütze seines Alters; aber Gustav machte diese Wahl unaussprechlich unglücklich. Nicht als ob er nicht, wie jeder andere Bürger, den Mann verdammt hätte, der das Land in so tiefes Elend gestürzt; nicht als ob es gegen sein Gewissen gewesen wäre, Verbrechen ans Licht zu ziehen, die man so künstlich verborgen hatte; aber Lea – es war ja ihr Bruder, den er richten sollte, und dieser Gedanke war es, der ihm dieses Geschäft zum Abscheu machte. Kleine Seelen sättigen sich gerne an Rache, und manchem wäre es eine innige Freude gewesen, einen Mann, der noch vor kurzem so hoch stand, jetzt in der tiefsten Kasematte der Festung zu besuchen, mit herrischer Stimme ihn von seinem Lager aufzujagen und ihn zu martern und zu peinigen. Dieser Mann hatte sich noch überdies gegen Gustav persönlich verfehlt, er hatte ihn mit dem empörendsten Übermut behandelt, ihm sogar mit demselben Gefängnis gedroht, in welchem er jetzt selbst bange, um künftige Freiheit, vielleicht selbst um sein Leben, schmachtete. Aber das Herz des jungen Mannes war zu groß, als daß es hätte freudig pochen sollen, als er zum ersten Mal als Richter in den Kerker des Mannes trat, der jetzt entblößt von aller irdischen Herrlichkeit, angetan mit[532] zerlumpten Kleidern, bleich, verwildert sich langsam aus seinen rasselnden Ketten aufrichtete. Erinnerte ihn doch jetzt noch dieses Gesicht an die Züge eines unglücklichen, geliebten Wesens, und er konnte sich kaum der Tränen enthalten, als nach dem Schlusse des Verhörs der Gefangene sprach: »Herr Lanbek, es gibt ein unglückliches, unschuldiges Mädchen, das wir beide kennen; als man in meinem Hause versiegelte, haben sie die rohen Menschen auf die Straße gestoßen – sie war ja eine Jüdin und verdiente also kein Mitleid. – Mir, Herr, ist kein Pfenning geblieben, womit ich ihr Leben fristen könnte; ich weiß nicht, wo sie ist – wenn Sie etwas von ihr hören sollten – sie hat nichts als das Kleid, das sie trug, als man sie von der Schwelle stieß – geben Sie ihr aus Barmherzigkeit ein Almosen.«

Der junge Mann ließ seinen Tränen freien Lauf, als er allein den Berg von Hohen-Neuffen herabstieg; er erfuhr zwar nachher, daß ihn der Jude belogen habe, daß er, obgleich man über 500000 Gulden in Gold und Juwelen in seinem Hause fand, doch beinahe 100000 in Frankfurt in sichern Händen habe, und Gustav konnte leicht einsehen, daß ihn Süß durch diese Vorstellungen von Elend nur habe weich stimmen wollen; aber dennoch konnte er den Gedanken nicht entfernen, daß Lea verlassen und unglücklich sei, und dieser Gedanke wurde immer peinlicher, als er trotz seiner Nachforschungen keine Spur von ihr entdecken konnte.

Der Frühling, Sommer und Herbst waren vorübergegangen, und noch immer dauerte der Prozeß. Es waren Dinge zur Sprache gekommen, wovor selbst den kältesten Richtern graute; aber obgleich der junge Lanbek der Kommission mit edlem Unwillen vorstellte, daß noch vier andere Männer nicht minder schuldig seien als Süß, so schien man doch nur gegen diesen ernstlich verfahren zu wollen, weil ihn der allgemeine Haß als den Schuldigsten bezeichnete.

Es war an einem trüben Oktoberabend; der alte Konsulent war seit einigen Tagen verreist und sein Sohn arbeitete im Bibliothekzimmer an einem neuen Verhör, als seine jüngere Schwester, jetzt die glückliche Braut des Kapitän Reelzingen, ernster als gewöhnlich zu ihm eintrat. Sie sprach anfangs Gleichgültiges, schien aber nur mit Mühe eine Träne unterdrücken zu können, die endlich wirklich in dem sanften Auge glänzte, als sie fragte, ob er ihr nicht zürnen werde, wenn sie eine bekannte Person zu ihm führe? Er sah sie staunend und verwundert an, doch noch[533] ehe er eine Antwort zu geben vermochte, eilte Käthchen weinend aus dem Zimmer und trat bald darauf mit einem verschleierten Mädchen wieder ein. Noch ehe die trübe Kerze ihre Umrisse deutlich zeigte, noch ehe sie den Schleier zurückschlug, sagte ihm sein ahnendes Herz, wen er vor sich habe; errötend sprang er auf, aber schon hatte die Unglückliche sich vor ihm niedergeworfen, den Schleier zurückgechlagen, und Lea war es, welche die einst so geliebten Augen düster und bittend zu ihm aufschlug und die bleichen, magern Hände, ineinander gerungen, flehend nach ihm hinstreckte: »Barmherzigkeit!« rief sie, »nur nicht sterben lassen Sie ihn; man sagt, er müsse sterben; seine einzige Hoffnung ruht noch auf Ihnen. Wo soll ich Worte nehmen, Ihr großmütiges Herz zu erweichen? welche Sprache soll ich erdenken, an ein Ohr zu sprechen, das mich einst so wohl verstand?« – Tränen ließen sie nicht weiterreden, und auch Käthchen weinte bitterlich. Voll von Schmerz und Überraschung faßte Gustav ihre kalten Hände und richtete sie auf; er sah sie an – wie schmerzlich war ihm ihr Anblick! Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, die schönen Augen lagen tief, und der Mund, der sonst nur zum Lächeln geschaffen schien, zeigte, daß er jenes süße Lächeln längst nicht mehr kenne. Das schwarze Haar, das um die weiße Stirne hing, und das bleiche Gesicht vollendeten das Gespenstige ihres Anblicks.

»Lea! unglückliche Lea!« rief der junge Mann, »wie lange haben Sie sich verborgen gehalten und Ihren Freunden den letzten Trost geraubt, zu wissen, ob es Ihnen an nichts gebricht, ob die Freunde etwas für Sie tun können?«

»Ach! das ist es nicht, um was ich Ihre edelmütige Schwester gebeten habe, mich hieher zu führen«; sagte sie schmerzlich lächelnd. »Warum soll es mir denn nicht gut gehen? Ich habe alle meine Hoffnungen und Träume längst begraben, ich pflanzte die Erinnerungen als Blumen auf das Grab, und begieße diese Blumen mit meinen Tränen. Nein! Sie waren immer so großmütig gegen Unglückliche, geben Sie mir nur den Trost, daß mein Bruder nicht sterben muß; ach! es ist so bitter zu sterben, und was nützt sein Tod diesem Lande?«

»Lea«, antwortete der junge Mann verlegen, »gewiß, es ist bis jetzt noch nicht davon die Rede gewesen, und ich glaube auch nicht – Sie dürfen sich trösten – es wird nicht so weit kommen.«

»Es wird, und in Ihrer Hand liegt sein Schicksal«, flüsterte sie;[534] »er hat es mir gesagt, ich habe ihn gesprochen; wenn nur der Brief nicht wäre, der Brief kann mich verderben. O Gustav! halten Sie ihn jahrelang, auf immer im Gefängnis, was liegt an ihm, wenn er in Ketten sitzt? Nur nicht sterben; Gustav, sein Sie edelmütig – vergessen Sie den Brief, um den niemand weiß als Sie – mit jener schwachen Kerze dort können Sie das Leben eines Menschen retten.«

»Bruder«, sagte Katharina näher tretend, indem sie seine Hand faßte, »tu es, dein Gewissen kann nicht gefährdet werden, denn er ist ja auf immer unschädlich gemacht; verbrenne den Brief, er kann sich ja verloren haben.«

Der junge Mann sah die weinenden Mädchen an; ein unabweisbares Gefühl kämpfte in ihm, er schwankte einen Augenblick, und Lea, die diesen Kampf in seinen Mienen las, faßte seine Hand, drückte sie stürmisch an ihr Herz, zog sie zärtlich an ihre Lippen. »Er will!« rief sie entzückt; »oh, ich wußte es wohl, er ist edel; er will sich nicht wie die andern an dem Unglücklichen rächen, der ihn einst beleidigt hat, er läßt ihn nicht sterben, belastet mit Sünden, er läßt ihn leben und fromm und weise werden. Wie gütig bist du, o Gott, daß du noch deiner Engel einen gesendet hast auf diese öde Erde, der mit der offenen Hand der Barmherzigkeit segnet, und nicht mit dem flammenden Schwert der Rache den Verbrecher zerschmettert!«

»Nein – nein – es ist nicht möglich!« sprach Lanbek mit tiefem Schmerz. »Sieh Lea, mein Leben möchte ich hingeben, um deine Ruhe zu erkaufen, aber meine Ehre! Gott! meinen guten Namen! es ist nicht möglich! sie wissen um den Brief, einige haben ihn gelesen und – morgen soll ich ihn vortragen. Käthchen! sprich, ich beschwöre dich, kann, darf ich es tun?«

Käthchen weinte, und eine leise Bewegung ihres Hauptes schien anzudeuten, daß es auch ihr unmöglich scheine. Lea aber hatte ihm mit starren Blicken zugehört; über die bleichen Wangen ergoß sich die Röte der Angst, sie beugte sich vor, als könne sie die schreckliche Verneinung nicht recht vernehmen; sie sah, als sich Gustav auf seine Schwester berief, mit einem Blick voll schmerzlicher Zuversicht nach dieser hin, sie streckte die Hand krampfhaft aus, wie ein Ertrinkender, der nach dem schwachen Zweig am Ufer die Hand ausstreckt – vergebens.

»So muß er sterben«, sagte sie nach einer Weile leise, »und du – du brichst ihm den Stab? das war es also, warum ich lebte und – liebte? es ist ein sonderbares Rätsel, das Leben! Hätte ich dies[535] gedacht, als ich noch ein fröhliches Kind war? hätte ich gedacht, daß wir so untergehen müßten?«

»Armes, unglückliches Mädchen!« sprach Käthchen und schloß sie in ihre Arme. »Ach, gewiß, er kann nicht anders handeln, ich sehe es selbst ein; und wenn es dich trösten kann, komm zu mir, sooft du willst, du sollst gewiß treue Teilnahme finden –«

»Lea«, unterbrach sie ihr Bruder, »wenn wir etwas für Sie tun können; Sie sind an Wohlstand gewöhnt – dieses Kleid hier sagt mir, daß Sie in Not sind.«

»Komm, Lea«, fuhr Käthchen fort, »wir sind beinahe von derselben Größe, nimm von meinen Tüchern, von meinen Kleidern, du machst mir Freude, wenn du es tun willst.«

»Das Vermögen Ihres Bruders, das er außer Landes besitzt«, sagte Gustav, »soll und muß für Sie gerettet werden, Sie haben die nächsten Ansprüche, und ich will gewiß das Meinige tun.«

»Guter Gustav«, unterbrach sie ihn, indem sie sich zu einem Lächeln zwang; »lassen wir das; die Leute sagen, daß er sein Vermögen den Armen dieses Landes entzogen habe. Da hatte er unrecht, und es wäre besser, er hätte dieses Land nie gesehen; aber ebenso unrecht wäre es von mir, von diesem Golde Gebrauch zu machen, das ihm den Tod bringen wird. Aber von dir, liebes schönes Mädchen, nehme ich ein Tuch an, weil es jetzt so kalt wird. Ich höre, du bist Braut; sei doch recht glücklich! Möchten dies die letzten Tränen sein, die jetzt in deinen Wimpern hängen, und wenn du weinen mußt, so sei es nur fremdes Unglück, um das dein schönes Herz trauert.«

»Lea«, sagte der junge Mann mit tiefem Schmerz, »ich kann dich nicht so hinweglassen; es ist die trügerische Ruhe der Verzweiflung, die aus dir spricht. Besuche doch meine Schwester; sage wo du wohnst. – Ach, wenn du Mangel littest! – Scheide nicht im Groll von mir, Lea! Gott weiß, daß ich nicht anders konnte!«

»Und auch ich weiß es, Gustav, und war ein törichtes Mädchen, dich auf diese gefährliche Probe zu stellen; unser Unglück ist so groß, daß eine kleine Hülfe mit deiner Ehre, mit deiner Ruhe zu teuer erkauft wäre. Lebet wohl! ich brauche wenig, vielleicht bald gar nichts mehr, und sollte ich etwas nötig haben, so bin ich nicht zu stolz, zu dieser Freundin zu kommen, der einzigen, die mir das Unglück erworben hat.«

»Und vergibst du?« sagte Gustav mit Tränen.

»Ich habe nichts zu vergeben«, erwiderte sie, indem sie ihm[536] mit mehr Fassung, als die beiden Geschwister erhalten hatten, die Hand bot. »Lebe wohl, Freund! Ich gehe, meine Blumen zu begießen. Möge der Gott meiner Väter dich so glücklich machen, als es dein reiches Herz verdient!« Sie sagte es, warf noch einen Blick voll Liebe auf ihn und ging, von Käthchen begleitet.

Der junge Mann blickte ihr wehmütig nach; es war ihm, als hätte diese Stunde einen mächtigen Einfluß auf sein Leben, aber er ahnete auch, daß er das unglückliche Mädchen zum letzten Mal gesehen habe.

Quelle:
Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 2, München 1970, S. 531-537.
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